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PROGRAMM/067: 25 Jahre Erasmus - Eine Erfolgsstory? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012

25 Jahre Erasmus: Eine Erfolgsstory?

Von Christoph Ehmann



Erasmus, das 1987 aufgelegte Stipendienprogramm zur Förderung der europäischen Mobilität von Studentinnen und Studenten und anderen Hochschulangehörigen, spielt eine führende Rolle bei der Internationalisierung des Hochschulwesens in den Mitgliedsstaaten, auf europäischer Ebene und weltweit. Erasmus war zudem die treibende Kraft für den Bologna-Prozess, an dem Deutschland seit zehn Jahren beteiligt ist. Ist Erasmus eine Erfolgsstory? Von den Zahlen her gewiss. Eine kritische Bilanz.


Die 1999 in Bologna beschlossene und 2002 in Deutschland umgesetzte Reform der europäischen Hochschulen hat viele Maßnahmen direkt vom Erasmus-Programm übernommen, etwa leicht verständliche und vergleichbare Abschlüsse, die Einrichtung eines Systems zur Anrechnung von Studienleistungen, Qualitätssicherung und die Schaffung gemeinsamer und doppelter Abschlüsse.

Das Erasmus-Programm soll dazu beitragen, jungen Menschen, die in naher Zukunft Führungsfunktionen in ihren Ländern, in Betrieben, Schulen und Verwaltungen übernehmen, zu einem besseren Verständnis von Europas "Einheit in Vielfalt" zu verhelfen und sie zu Stützen der europäischen Einigung heranwachsen zu lassen. Weit über zwei Millionen Studierende haben in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten von dieser Förderung profitiert.

Erasmus ist eines der am besten evaluierten europäischen Programme. Das International Centre for Higher Education Research (INCHER) der Universität Kassel analysiert im Verbund mit anderen Instituten in Europa von Beginn an die Wirkung dieses Programms. Dabei kommt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von INCHER zugute, dass sie auch schon mit dem Vorläufer-Programm - Joint Study Programm (JSP) - im Auftrag der Europäischen Kommission befasst waren. JSP förderte zwischen 1976 und 1986 die grenzüberschreitende Kooperation von Fakultäten und Fachbereichen. Dem Programm wurde zwar ein guter Erfolg hinsichtlich der Abstimmung der Curricula und der gegenseitigen Anerkennung von Studienleistungen bescheinigt. Populär würde der Gedanke der Mobilität aber nach Auffassung der Evaluatoren erst, wenn auch Stipendien ausgereicht würden, die die möglichen zusätzlichen Kosten eines Auslandsaufenthaltes abdeckten.

Dieser Vorschlag wurde in das Erasmus-Programm aufgenommen. 1987 erhielten die ersten 3.000 Studierenden ein "grant" in Höhe von ca. 300 DM, ausgedrückt in ECU. Das Stipendium umfasste ein Studienjahr. Das Programm war ein riesiger Erfolg. Bald schon musste die Förderung halbiert werden. Einschließlich der neben den Studienaufenthalten auch geförderten Praktika nahmen im Jahr 2011 über 200.000 Personen Mobilitätsförderungen der EU in Anspruch. Bis zum Jahre 2020 sollen es insgesamt 5 Millionen sein, die sich zum Zweck des Lernens für eine gewisse Zeit ins europäische Ausland begeben. Die unschöne Folge dieser quantitativen Ausweitung: Der Erfolg war zu groß. Erasmus-Stipendien werden noch einmal gekürzt und werden heute überwiegend nur noch für ein halbes Studienjahr/ein Semester gezahlt - oder betragen weniger als die vom EU-Parlament 2007 durchgesetzten durchschnittlichen 200 Euro pro Monat.

Doch nicht nur für Europa wurden in den vergangenen Jahrzehnten steigende Zahlen mobiler Lerner gemeldet. So schreibt Ullrich Teichler, der langjährige Leiter des INCHER: "Die absolute Zahl ausländischer Studierender weltweit betrug Mitte der 50er Jahre ungefähr 200.000. Sie überschritt die Zahl 500.000 im Jahre 1970. Ende der 70er waren es knapp eine Million und 1987, zu Beginn des Erasmus-Programms lag die Zahl bei 1,2 Millionen. Bis 2004 stieg sie um mehr als das Doppelte auf 2,5 Millionen Studierende."

Diese Zahlen verschleiern aber mehr als sie aufdecken. Eine wahre "black box" ist der "ausländische - foreign - Student". Gezählt wird in den Statistiken die Staatsangehörigkeit. Aber nicht nur in Deutschland gibt es unter den Studierenden Tausende Bildungsinländer, also jene, die im Studienland auch die Schule besucht und den Abschluss gemacht haben.

Eine weitere Unklarheit verursacht die Zählung nahezu jeglichen Aufenthalts jenseits der Grenzen als Studienaufenthalt. Nur dank der unterschiedslosen Einbeziehung kurzer Sprachkurse, mehrwöchiger Praktika und der eigentlichen Studienaufenthalte von bis zu 12 Monaten Dauer in eine Statistik konnte die EU-Kommission ihre Zielzahlen erreichen. Teichler entzaubert denn auch nachdrücklich den angeblichen Anstieg des Auslandsstudiums: "Man muss aber beachten, dass die absolute Zahl der Studierenden in dem genannten Zeitraum (seit Mitte der 50er Jahre, Chr. Ehmann) in mehr oder weniger demselben Umfang gestiegen ist. So kommt es, dass der Prozentsatz derjenigen, die eine gewisse Zeit im Ausland studiert haben (d.h. von der Heimatuniversität anerkannte ECTSPunkte oder studienrelevante Scheine erworben haben, Chr. Ehmann), konstant bei 2 Prozent geblieben ist."

Ein weiterer Irrtum: "Erasmus" wurde zum Stichwort für die studentische Mobilität in Europa. Ohne Erasmus keine Mobilität. Diese Schlussfolgerung ist falsch. Nur ein Drittel der Studierenden, die ins europäische Ausland gehen, erhalten ein Erasmus-Stipendium in Höhe von ca. 200 Euro zur Deckung der vermuteten zusätzlichen Kosten. Die Grundfinanzierung muss also woanders her kommen. Bedeutender aber ist, dass z. B. rund 50% der deutschen Studierenden - so geht es aus der 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks aus dem Jahr 2009 hervor - das Auslandsstudium selbst und ohne jegliches europäisches Stipendium organisieren und finanzieren.

Das müssen die Studierenden oder ihre Eltern jedoch können. Schon die 3. Bologna-Nachfolge-Konferenz der europäischen Erziehungsminister stellte 2005 im norwegischen Bergen fest, dass das Auslandsstudium stark mit dem ökonomischen Status der Familie der Studentinnen und Studenten korreliere. Auslandsstudium ist unter den gegebenen Umständen ein zusätzlicher Beitrag zur sozialen Selektion im Hochschulbereich.


Neues Programm "Erasmus für alle"

Für den Zeitraum von 2014 bis 2020 wird es ein neues, von der EU-Kommission bereits vorgelegtes und voraussichtlich zu Beginn des Jahres 2013 vom Europäischen Parlament zu beschließendes EU-Programm geben, in dem alle bisherigen Mobilitätsprogramme - vom Schulbereich bis zur Erwachsenenbildung - unter dem vorläufigen Titel "Erasmus für alle" zusammengefasst werden. Gleichzeitig soll es zu einer deutlichen Erhöhung der Finanzausstattung kommen. So gut dies klingt, vorrangig wären andere Änderungen:

Erstens: Die Stipendien werden im Prinzip ohne Bindung an die finanziellen Leistungsmöglichkeiten der Studierenden bzw. ihrer Eltern vergeben. Nur wenige Staaten haben Vergabekriterien eingeführt, die die soziale Lage der Studierenden berücksichtigen. Die überwiegende Zahl der deutschen Hochschulen gehört nicht dazu.

Zweitens: Das Studium im Ausland soll dem besseren Verständnis der Kultur und Gesellschaft des Gastlandes dienen. Dazu bedarf es zweierlei: Zum einen benötigt jeder Mensch zum Kennenlernen und Verstehen anderer Kulturen einige Zeit. Die verkürzten Aufenthalte von weniger als 6 Monaten verfehlen dieses Ziel. Zum anderen sind Grundkenntnisse der Landessprache unerlässlich, sowohl um den Lehrveranstaltungen folgen als auch um außerhalb des akademischen Bereichs qualifiziert kommunizieren zu können. Bei den schulisch vermittelten Sprachen mögen diese Kenntnisse vorhanden sein. Die meisten der europäischen Sprachen gehören jedoch nicht zu dem schulisch vermittelten Fremdsprachenangebot. Dies verlangt ein völliges Umdenken in der bisherigen Sprachenförderung. Die bisher im Rahmen von Erasmus geförderten Intensiv-Sprachkurse mit maximal 80 Stunden in vier Wochen sind unter Effizienzgesichtspunkten rausgeschmissenes Geld. Das es auch anders geht, zeigten und zeigen Sprachenprogramme wie Studia Baltica (Dortmund/Münster), Polonicum Mainz oder das vom Netzwerk Campus Europae (Luxemburg) entwickelte E-Learning Programm Hook Up! in Verbindung mit vier- bis sechswöchigen Intensiv-Sprachkursen, die vor Beginn des Studiums im Gastland absolviert werden und zusätzliche 120 bis 150 Stunden Direktunterricht umfassen.

Drittens: Solche Sprachlernangebote sind insbesondere erforderlich, um Studierende zum Studium in den Ländern mit "kleinen" Sprachen, zu denen außer Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch alle europäischen Sprachen gerechnet werden, zu gewinnen. Die Tendenz für ein vermehrtes oder gar vollständiges Angebot von Lehrveranstaltungen in englischer oder deutscher Sprache zu werben, ist bezogen auf das ursprüngliche Ziel von Erasmus eher kontraproduktiv.

Viertens: Über die Hälfte der europäischen Studierenden verbinden Studium und Arbeit, zum Teil weil sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen müssen, um einen Teil ihres Lebensunterhalts mit dem Verdienst zu bestreiten, zum Teil weil es Sinn macht, Studium mit studiennaher Arbeit, Theorie und Praxis zu verbinden. Erasmus fördert solche Arbeitserfahrungen im Ausland (work placement), jedoch nur unter der Bedingung, das nur gearbeitet und nicht studiert wird. Sinnvoller wäre es, studiennahe Teilzeitarbeit zu fördern, was der Realität sehr viel näher käme.

Vor allem aber wäre es, fünftens, notwendig, Hochschullehrer und Kultusbeamte davon zu überzeugen, dass Auslandsstudium nicht nur zu erlauben, sondern zu fördern ist und dafür nationale oder lokale Studienanforderungen zu überprüfen sind. Die inhaltlich zum Teil bis ins Detail festgeschriebenen Studienanforderungen vieler Bachelor-Studienprogramme sind ein Hindernis bei dem Bemühen um die Anerkennung von im Ausland erbrachten Studienleistungen. Anstatt die Entwicklung von grenzüberschreitend identischen Studiengängen zu fördern und damit auf die Erfahrung jener für Europa identitätsstiftenden Einheit in der Vielfalt zu verzichten, müssten gezielt "Mobilitäts-Fenster" in den Studienprogrammen eingebaut werden, Auslandsaufenthalte also bewusst nahegelegt werden mit der Folge, dass die erwähnten Hochschullehrer und Kultusbeamten lernen, dass es um Gleichwertigkeit der Studienleistungen, nicht um Gleichheit geht.

Erasmus muss nach 25 Jahren mehr werden als ein subventionierter Urlaub im universitären Milieu. Es ist Zeit, das Erreichen der Ziele zu überprüfen und sich nicht an Zahlen zu berauschen.


Christoph Ehmann (* 1943) ist Honorarprofessor für Erwachsenen- und Weiterbildung an der Philipps-Universität Marburg sowie ehrenamtlicher Generalsekretär der European University Foundation - Campus Europae, Luxemburg.
(christoph-ehmann)@t-online.de)

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Quelle :
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2012, S. 11-14
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Dezember 2012