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AUFRUF/005: "Wacht auf! Noch ist es nicht zu spät!" (Norbert Kollenda)


"Wacht auf! Noch ist es nicht zu spät!"

Einführung und Übersetzung aus dem Polnischen von Norbert Kollenda, November 2017


"Wacht auf! Noch ist es nicht zu spät!"

Dies schrieb der 54jährige Piotr Szczesny aus der Nähe von Krakau an seine Mitbürger, bevor er sich am 19. Oktober vor dem Kulturpalast in Warschau selbst anzündete und am 29. Oktober an den Folgen verstarb.

Schnell waren die Regierenden und ihre "öffentlichen" Medien dabei diesen verzweifelten Menschen als psychisch krank zu verunglimpfen. Kein Wunder, dies in solchen Fällen üblich seitens der Regierenden.

Die Medien, die nicht Kaczynski & Co. hörig sind, haben seine Texte veröffentlicht, damit der Aufruf alle Polen erreicht. Es gab ein großes Echo und große Trauer in der Bevölkerung.

Wie in Warschau versammelten sich an vielen Orten Polens Menschen, um Piotr Szczesny zu gedenken.

Hier der ganze Aufruf von Piotr Szczesny, der wie in einem Prisma die Lage im Land aufzeigt:


1. Ich protestieren gegen die Einschränkung von Bürgerrechten durch die Regierung

2. Ich protestieren gegen die Verletzung der demokratischen Grundrechte, vor allen Dingen bezüglich der praktischen Aushöhlung des Verfassungsgerichtes und der gleichzeitigen Aufhebung der Unabhängigkeit der Gerichte.

3. Ich protestieren gegen die Rechtsverletzungen durch die Regierung, vor allen Dingen der Verletzung der Verfassung. Ich protestiere, dass diejenigen, die für die Einhaltung der Verfassung zuständig sind - unter anderem der Präsident - an eine Änderung der gültigen Verfassung heran gehen, zu allererst sollen sie die einhalten, die rechtsgültig ist.

4. Ich protestiere gegen die Art von Regieren, wo die Personen, die die höchsten Ämter im Staat bekleiden, Anweisungen von einem nicht näher bezeichnetem Zentrum ausführen, das an den Präses der PiS gekoppelt ist, der selbst für seine Entscheidungen keine Verantwortung trägt. Ich protestiere gegen einen solchen Arbeitsstil im Parlament, wo Gesetze in Eile eingebracht werden, ohne Diskussion und notwendigen Konsultationen, oft nachts und schließlich müssen sie auch gleich wieder verbessert werden.

5. Ich protestieren gegen die Marginalisierung der Rolle Polens auf internationaler Ebene und unser Land somit der Lächerlichkeit preiszugeben.

6. Ich protestiere gegen die Vernichtung unserer Umwelt, vor allem durch die, die sie schützen sollen - wie den Bialowiecki Urwald und andere Naturreservate, die Bevorzugung der Lobbyisten von Jägern und die Bevorzugung von Kohle für die Energiegewinnung.

7. Ich protestiere gegen eine Spaltung der Gesellschaft, die immer weiter vertieft wird. Vor allem protestiere ich gegen die Erschaffung der "Smolensker Religion" auf deren Grundlage die Menschen eingeteilt werden. Ich protestiere gegen Sèancen des Hasses, zu denen die "Smolensker Monatsgedenken" wurden und gegen ein Vokabular des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit, durch die die Regierung die Gesellschaft unterwarf.

8. Ich protestiere dagegen, dass alle möglichen Funktionen von den eigenen Leuten besetzt werden, die größtenteils nicht über eine entsprechende Qualifizierung verfügen.

9. Ich protestieren dagegen, dass solche Leute wie Lech Walesa oder ehemalige Vorsitzende der Verfassungsgerichtes herabgewürdigt, mit Dreck beworfen und ihre Autorität mit Füßen getreten wird.

10. Ich protestieren gegen die überbordende Zentralisierung im Staat und den damit verbundenen Gesetzesänderungen, die Kommunalverwaltungen und NGO's betreffen, ganz nach dem Bedarf der Regierungspartei.

11. Ich protestiere gegen die feindliche Einstellung der Regierung zu Migranten und die Diskriminierung von verschiedenen Gruppen und Minderheiten: Frauen, Homosexuelle (und andere LGBT), Moslems und andere.

12. Ich protestiere gegen die vollkommene Übernahme des öffentlichen Fernsehens und fast aller Radiosender, um aus ihnen ein Sprachrohr der Propaganda der Regierung zu machen. Mich persönlich schmerzt das Abschalten der Radiostation Trójka, das ich seit meiner Jugend gehört habe.

13. Ich protestieren gegen das Einsetzen von Spezialdiensten, Polizei und Staatsanwaltschaft zum Nutzen eigener oder parteilicher Interessen.

14. Ich protestiere gegen eine Bildungsreform, die unvorbereitet ohne großem Nachdenken und ohne Konsultationen eingeführt wurde.

15. Ich protestiere gegen die Ignoranz gegenüber den großen Bedürfnissen im Gesundheitswesen.

Noch mehr Proteste könnte ich an die jetzige Regierung richten, aber ich habe mich auf das konzentriert, was für das Wirken von Gesellschaft und Staat wesentlich ist.

Keinen Appell richte ich an die jetzige Regierung, denn nach meiner Auffassung bringt es nichts.

Viele, die schlauer und auch bekannter sind als ich es bin, wie auch viele polnische und europäische Institutionen haben die Regierung zu verschiedenen Handlungen aufgerufen und diese Appelle wurden alle ignoriert und die Absender mit Dreck beworfen. Sicherlich werde auch ich, für das was ich tue, mit Dreck beworfen. Aber wenigstens befinde ich mich in guter Gesellschaft.

Jedoch möchte ich, dass der Präses der PiS und die ganze Nomenklatur der PiS zur Kenntnis nimmt, dass mein Tod sie unmittelbar belastet und mein Blut an ihren Händen klebt.

Meinen Appell richte ich an alle Polinnen und Polen, diejenigen, die darüber entscheiden wer in Polen regiert, damit sie sich mit dem auseinander setzen, was die jetzige Regierung tut und wogegen ich protestiere.

Gebt euch nicht zufrieden damit, dass ja jede Regierung sich irgendwann wieder beruhigt und zur Normalität zurückkehrt - wie es etwa kürzlich geschah. In einigen Tagen oder Wochen werden sie wieder in die Offensive gehen und werden erneut das Recht beugen. Und niemals werden sie weichen und davon abgeben, was sie sich angeeignet haben.

Sicherlich ist es ein schon eine abgegriffnes Formel, aber hier passt sie hin: Wenn nicht wir, wer sonst? Wer wenn nicht wir Bürger sollen Ordnung in unserem Land schaffen? Wenn nicht jetzt, wann denn sonst?

Jede Verzögerung führt dazu, dass die Situation in unserem Land immer schwieriger wird und somit wird es auch schwerer die vielen Missstände zu beseitigen.

Vor allen Dingen wende ich mich an diejenigen, die die PiS unterstützen, damit sie aufwachen - auch wenn Euch die Forderungen der PiS gefallen mögen, so nehmt doch bitte zur Kenntnis, dass nicht jede Art diese zu verwirklichen erlaubt ist. Realisiert Eure Vorstellungen im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaates und nicht auf eine Weise, in der Ihr es jetzt macht.

Diejenigen, die die PiS nicht unterstützen, weil Politik sie nicht interessiert oder sie andere politische Präferenzen haben, rufe ich zur Tat auf - es reicht nicht darauf zu warten, was die Zeit mit sich bringen wird, es reicht nicht die Unzufriedenheit im Kreis der Bekannten kundzutun, tut etwas. Möglichkeiten gibt es wirklich genug.

Ich bitte Euch jedoch denkt daran, dass die Wähler der PiS unsere Mütter, Brüder, Nachbarn, Freunde und Kollegen sind. Es geht nicht darum mit ihnen einen Krieg zu führen - dies möchte die PiS - oder sie zu bekehren - das wäre naiv. Aber es geht darum, dass sie ihre Auffassungen nach den Regeln der Gesetze und der Demokratie realisieren. Vielleicht reicht ein Wechsel an der Parteispitze.

Ich, ein einfacher normaler Mensch rufe Euch alle auf - wartet nicht länger. Diese Regierung müssen wir schnellstens ablösen, bevor sie endgültig unser Land vernichtet, bevor sie uns endgültig der Freiheit berauben.

Ich liebe die Freiheit über alles. Deswegen habe ich beschlossen mich selbst zu verbrennen und habe die Hoffnung, dass mein Tod das Gewissen vieler Menschen wachrüttelt, dass die Gesellschaft erwacht und Ihr nicht warten werdet, dass die Politiker alles für Euch machen - denn sie machen nichts!

Wacht auf - noch ist es nicht zu spät!

*

Quelle:
Norbert Kollenda, Berlin-Pankow
Internet: http://www.sozonline.de/polnische-presseschau/


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2017

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