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GRENZEN/061: Vertuscht und zurechtgebogen - Tod von elf Bootsflüchtlingen wird ad acta gelegt (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 6. August 2014

Vertuscht und zurechtgebogen: Tod von elf Bootsflüchtlingen wird ad acta gelegt

- Drei Frauen und acht Kinder starben im Schlepptau der griechischen Küstenwache
- Die Staatsanwaltschaft stellte nun das Ermittlungsverfahren ein



Vor der griechischen Insel Farmakonisi starben in der Nacht zum 20. Januar 2014 elf Frauen und Kinder. Ein mit 27 Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien besetztes manövrierunfähiges Boot sank im Schlepptau der griechischen Küstenwache. Die Überlebenden werfen der griechischen Küstenwache vor, sie seien bei stürmischer See mit hoher Geschwindigkeit zurück in Richtung Türkei gezogen worden. Die Küstenwache behauptet, sie hätte das Boot mit langsamer Fahrt in Richtung Farmakonisi geschleppt. Die Flüchtlinge schildern eine Push-Back-Operation (illegale Zurückschiebung), die griechischen Behörden behaupten, eine Seenotrettungsmaßnahme durchgeführt zu haben.

Der griechische Außenminister Evangelos Venizelos versprach in einer Debatte im Europaparlament am 5. Februar 2014 eine lückenlose Aufklärung der Todesfälle von Farmakonisi. Die geschah nicht. Im Gegenteil: Jetzt hat die für die Marine zuständige Staatsanwaltschaft beschlossen, den Farmakonisi-Fall zu den Akten zu legen. Damit wird es nicht zu einer Anklage gegen die beteiligten Beamten der Küstenwache kommen. Tenor der Staatsanwaltschaft: Die Aussagen der 16 Überlebenden sind unglaubwürdig. Push-Backs gibt es grundsätzlich nicht.

PRO ASYL hat die Fallakten analysiert. Das Ergebnis: Eine lückenlose Aufklärung hat nie stattgefunden, stattdessen gab es offenkundig massive Vertuschungen von Seiten der griechischen Behörden: Zeitabläufe der Operation der Küstenwache wurden im Nachhinein verändert. In den gesamten Ermittlungsakten tauchen keine relevanten technischen Aufzeichungen auf. Angeblich gibt es keine GPS-Daten und Radaraufzeichnungen, keine Dokumentation der Telefon- und Funkkommunikation und keine Bildaufzeichnungen. Ob Seenotregeln beachtet wurden, wurde gar nicht erst untersucht. (siehe Anhang)

"Im Jahr 2014 sterben elf Frauen und Kinder an der hochgerüsteten EU-Außengrenze, angeblich ohne dass dies eine technische Spur hinterlässt. Verletzungen von elementaren Seenotregeln werden gar nicht erst untersucht - ein himmelschreiender Justizskandal" so Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL. "Die Einstellung des Verfahrens stellt eine Verhöhnung der Opfer und ihrer Familienangehörigen dar. Wir fordern eine lückenlose Aufklärung".

Ein griechisches Rechtsanwältinnenteam bereitet aktuell eine Klage gegen Griechenland vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg vor. PRO ASYL unterstützt die Klage aus seinem Rechtshilfefonds. Bereits seit dem 24. Januar unterstützt PRO ASYL die Überlebenden rechtlich und humanitär indem das griechische Anwältinnenteam finanziert wird und hat zahlreiche Gespräche mit insgesamt 15 Zeugen geführt.

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Anhang: Fakten und Widersprüche zum Farmakonisi-Fall

Keine technischen Aufzeichnungen: Es existieren keinerlei technische Aufzeichnungen vom tödlichen Einsatz: keine GPS- und Radaraufzeichnungen, keine Dokumentation der Telefon- und Funkkommunikation, keine Fotos oder Filmaufnahmen. Nach Angaben der Grenzagentur Frontex wurden auch keine Daten im neuen Grenzüberwachungssystem EUROSUR eingespeist.

Das Flüchtlingsboot wurde mindestens 15 Minuten geschleppt: Unstrittig ist, dass das kleine Fischerboot von dem Küstenwachschiff gezogen wurde. Unstrittig ist auch, dass das manövrierunfähige Flüchtlingsboot von zwei Küstenwachbeamten betreten wurde, um das Tau zu befestigen. Am Einsatz beteiligte Beamten geben später zu Protokoll, dass das Flüchtlingsboot nach der Befestigung des Taus zehn Minuten geschleppt wurde. Nach dem die Verankerung gerissen und das Tau notdürftig neu befestigt worden war, wurde das Flüchtlingsboot nach Angaben der Beamten noch einmal fünf Minuten gezogen. Das Flüchtlingsschiff ist also mindestens 15 Minuten im Schlepptau gewesen.

Keine Seenotrettungsmaßnahmen: Das Boot war unter Kontrolle der griechische Küstenwache, bevor es sank. Es gab mannigfaltige Möglichkeiten die Flüchtlinge zu retten, es wurden jedoch keine Seenotrettungsmaßnahmen eingeleitet. Die Flüchtlinge wurden nicht an Bord des Schiffs der Küstenwache geholt, es wurden noch nicht einmal Rettungswesten ausgeteilt.

Tau durchschnitten: Das Flüchtlingsboot kenterte, nachdem sich um 02:13 Uhr die griechische Küstenwache - nach eigenen Angaben - gezwungen sah, das Tau zu kappen, das ihr Schiff mit dem Flüchtlingsschiff verband. Das Boot wurde mit den Frauen und Kinder unter Deck in die Tiefe gerissen.

Bergung: Eine Mutter und ihr Sohn wurden am darauf folgenden Tag von der türkischen Küstenwache tot geborgen, der Leichnam eines Babys wurde vor der Insel Samos Tage später. Die übrigen acht toten Körper wurden aus dem Rumpf des Schiffes Wochen später geborgen. 16 Menschen konnten sich auf das Küstenwachschiff retten.

Zeitliche Abläufe wurden verändert: Die zuständige Hafenbehörde von Leros berichtet am 20. Januar 2014, dass das Flüchtlingsboot um 01:25 Uhr von der Küstenwache aufgegriffen wurde. In einer korrigierenden Meldung am gleichen Tag, sprach die Hafenbehörde dann von einem Aufgriff um 02:00 Uhr - also 35 Minuten später. Diese Differenz von 35 Minuten ist von großer Bedeutung. Ein Aufgriff um 02:00 Uhr und das Sinken des Bootes um 02:13 würden bedeuten, dass in diesen 13 Minuten zwei Beamte an Bord gegangen seien müssten, danach das Boot 15 Minuten gezogen wurde und dann noch die 16 Überlebenden auf das Küstenwachboot hätten gelangen können. Diese Darstellung des zeitlichen Ablaufes ist bereits aus rein rechnerischen Gründen nicht möglich.

Keine Seenotrettungsaktion: Die Behauptung, es habe sich um eine Seenotrettungsaktion gehandelt, deckt sich nicht mit der Ermittlungsakte. Fakt ist: Die Küstenwache hat erst um 02:13 Uhr, nach dem Untergang des Bootes, die zuständige Einsatzzentrale für Seenotrettung in Piräus informiert. Vorher wurde lediglich die für Grenzüberwachung zuständige Einsatzzentrale kontaktiert. Es fand also auch formal keine Seenotrettungsaktion statt, sondern ein Grenzüberwachungseinsatz.

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 6. August 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2014