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SCHULDEN/034: Symptombekämpfung reicht nicht aus (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 135/März 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Symptombekämpfung reicht nicht aus

Die Regulierung des internationalen Finanzwesens am Scheideweg

von Peter Dietsch



Eine effektive Bekämpfung der Krise des Bankensektors und der Staatshaushalte erfordert mehr als die bisher geschnürten Rettungspakete. Diese erlauben es der Politik zwar, den Schaden zu begrenzen, aber die Krisenanfälligkeit des Finanzsystems wird dadurch kaum reduziert. Hierzu sind Strukturreformen erforderlich. Die Regulierung der Banken muss auf sogenannte Schattenbanken ausgedehnt werden. Außerdem drängt sich eine Reform des internationalen Steuerrechts auf, um Schlupflöcher für Privatleuten und Unternehmen zu schließen.

Die Euro-Zone schleppt sich von einer Krisenwoche zur nächsten. Auch wenn es für Griechenland, Italien und Spanien in den letzten Wochen gelungen ist, die Zinssätze zur Refinanzierung ihrer Staatsanleihen etwas zu drücken - die Gefahr eines Auseinanderfallens der Währungsunion ist noch nicht gebannt. Für Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und ihre Bündnispartner ist dies nicht nur ein Kampf gegen die Uhr, sondern auch um das Vertrauen der Märkte. Die Kosten für die Rettung der Währungsunion steigen mit der Skepsis der Anleger. Diese ist inzwischen beträchtlich.

Die politische Reaktion auf die Krise konzentriert sich bisher auf drei Strategien. Erstens ein verstärktes Eingreifen der Europäischen Zentralbank: Auch wenn die Notbremse einer Garantie für die Schulden der Mitgliedsstaaten bisher nicht gezogen wurde, so gibt die EZB Europas Banken Liquiditätsspritzen in Form von billigen Krediten. Zweitens eine stärkere Integration der Fiskalpolitik, die es ermöglichen soll, kritische Situationen in den Staatshaushalten der Mitgliedsstaaten rechtzeitig zu identifizieren und durch Brüsseler Mitspracherechte zu entschärfen. Eine dritte Möglichkeit, die allerdings bislang am Widerstand der Bundesregierung scheitert, ist die Einführung von Eurobonds, also einer gemeinsam ausgegebenen Anleihe. In der derzeitigen Lage ist eine Kombination dieser Ansätze in der Tat notwendiger Bestandteil einer möglichen Lösung.

Langfristig reichen diese Maßnahmen jedoch nicht aus. Sie beschränken sich auf die Bekämpfung von Symptomen der Finanzkrise, ohne strukturelle Probleme anzugehen, die der Krise zugrunde liegen. Wie so oft versperrt das Dringende den Blick auf das Wesentliche. Dabei ist jetzt der beste Zeitpunkt, die Ursachen der Finanzkrise zu bekämpfen. Ist die Krise erst einmal überstanden, wird die Reformbereitschaft wieder deutlich sinken. Die Regulierung des internationalen Finanzwesens befindet sich an einem Scheideweg. Wollen wir die Krise lediglich überstehen und uns bestenfalls einen besseren Airbag leisten, damit der Aufprall beim nächsten Crash weniger hart wird? Oder wollen wir die Krisenanfälligkeit des Finanzsystems langfristig reduzieren?

Die erste Komponente der Krise, die der Banken, hat ihren Ursprung auf dem Immobilienmarkt. Nachdem die verbrieften Hypothekenanleihen lange Zeit als eine sichere, da in verschiedene Risikotranchen diversifizierte Anlage galten, zwang der Einbruch des Immobilienmarktes viele Banken dazu, diese Anleihen abzuschreiben. Einige von ihnen waren dazu nur mit öffentlicher Hilfe in der Lage, was eine Verstaatlichung der Verluste zur Folge hatte. Ein Blick auf die Rolle der Banken in der Griechenland-Debatte vor einigen Wochen offenbart das gleiche Muster: Warum war und ist der Staatsbankrott trotz der politisch und ökonomisch desolaten Lage keine Option? Weil Banken in ganz Europa griechische Staatsanleihen halten und manche von ihnen im Falle eines Staatsbankrotts ihrerseits wieder gerettet werden müssten. Ob Immobilien oder Staatsanleihen: Wenn die Politik gezwungen ist, die Banken zu retten, um die Situation nicht zu verschlimmern, dann setzt dies die falschen Anreize.

Einige Maßnahmen zur Eindämmung der Risiken im Finanzsektor sind bereits auf dem Weg. Höhere Kapitalreserven sollen Banken in die Lage versetzen, größere Kreditausfälle besser zu verkraften. Die Banken selbst betreiben derzeit ein "deleveraging", das heißt niedrigere Schulden verbunden mit einem Rückzug aus risikoreichen Geschäften. Eine Rückkehr zur Trennung von Einlagebanken und Investmentbanken soll die Ausfallrisiken für einfache Spareinlagen minimieren. Sogar die Einführung einer Finanztransaktionsteuer wird immer wahrscheinlicher. Sie würde Sand in das Getriebe der Spekulation streuen und damit die Volatilität der Finanzmärkte reduzieren. Bei all diesen Reformansätzen handelt es sich um akzeptable und notwendige Initiativen, doch sie fallen alle in die Kategorie "Weiter wie bisher, nur mit angezogener Handbremse". Keine dieser Maßnahmen löst die strukturellen Probleme des Bankensektors; keine stellt die Geschäftsmodelle in Frage, mit denen Banken sozial unverantwortliche Risiken eingehen, Gewinne am Fiskus vorbeischleusen und Verluste sozialisieren.

Die zweite Komponente der Krise, die der Staaten, hat mindestens vier Gründe. Zum einen fehlende Haushaltsdisziplin. Zum zweiten die Tatsache, dass die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in den letzten Jahren auf die Wirtschaftslage der großen Staaten zugeschnitten wurde und sich für Länder wie Griechenland, Portugal und Irland nun als zu restriktiv erweist. Zum dritten der zusätzliche Haushaltsdruck, der durch die Bankenrettung entstand. Und zum vierten eine nationalstaatliche Fiskalpolitik und eine Regulierung des Finanzwesens, die einer globalisierten Wirtschaft nicht mehr gewachsen sind.

Die wirtschaftspolitische Reaktion auf die Staatsschuldenkrise konzentriert sich bisher ausschließlich auf die ersten drei soeben genannten Ursachen. Während sie sich zunächst auf Sparprogramme und später auf grenzüberschreitende Staatsgarantien beschränkte, werden nun die genannten drastischeren Mittel wie EZB-Liquiditätsspritzen oder Fiskalunion eingesetzt, und die Einführung von Eurobonds oder einer EZB-Garantie sind ebenfalls nicht ausgeschlossen. Mit Ausnahme der Fiskalunion - und auch hier hängt es von deren Ausgestaltung ab - sind alle diese Schritte wiederum "Rettungs"-Pakete. Sie sind zweifellos notwendig, um die gegenwärtige Krise zu überstehen, und schaffen ein dickeres Polster für die nächste Krise - auch wenn die Unzulänglichkeiten der European Financial Stability Facility (EFSF) ja bereits zu Tage treten -, aber sie vermindern die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Krisen nicht.


Zwei Problemfelder und ihre Ausläufer

Die Deregulierung oder in manchen Fällen Nicht-Regulierung der Finanzmärkte in den letzten 30 Jahren hat die Krisenanfälligkeit des privaten und des öffentlichen Sektors dramatisch erhöht. Die Liste der notwendigen Reformen ist lang: Regulierung von Finanzmarktprodukten, Einschränkung von Spekulation auf Nahrungsmittel, Verbot von Leerverkäufen und viele andere mehr. Für eine langfristige Stabilisierung der Finanzmärkte und der Staatshaushalte sind jedoch insbesondere zwei Schritte von zentraler Bedeutung: die Regulierung der sogenannten Schattenbanken und die Kontrolle der Steuerbasis in den einzelnen Ländern (siehe auch die Arbeiten von Thomas Rixen am WZB).

Schattenbanken sind Organisationen, die bis auf das Einlagegeschäft das Gleiche machen wie Banken, aber nicht wie Banken reguliert sind. Unter anderem fallen Hedge-Fonds in diese Kategorie. Laut einer Studie des Internationalen Währungsfonds ist der Schattenbankensektor zwischen 2002 und 2009 weltweit von 11,7 Billionen US-Dollar auf 26,8 Billionen US-Dollar gewachsen, in den USA ist er inzwischen sogar größer als der reguläre Bankensektor. Das bedeutet, dass ein Großteil der Bankenaktivität unreguliert abläuft und sich zum Beispiel nicht den Auflagen hinsichtlich der Kapitalreserven unterziehen muss. Hier ist leicht zu erkennen, warum aktuelle Vorschläge zur Erhöhung der Kapitalreserven im Bankensektor nur geringe Auswirkung haben dürften.

Die enge Vernetzung mit Schattenbanken ermöglicht es regulären Banken, ihre Risiken außerhalb der Bilanz zu verwalten und zu verschleiern. Ein klassisches Beispiel in diesem Zusammenhang ist die englische Bank Northern Rock, die 2007 über die Risiken ihrer Schattenbank Granite stolperte. Der Schattenbankensektor erlaubt es Banken, ihre risikoreiche Strategie weiterzufahren, als ob die Finanzkrise nie stattgefunden hätte. Solange das Geld von Pensionskassen und Versicherungen auf diese Art und Weise investiert wird, leben die Banken in der Gewissheit, dass sie im Falle einer Krise wieder vom Staat gerettet werden. Das zweite Problemfeld ist der internationale Steuerwettbewerb und die Schlupflöcher, die er Privatpersonen und Unternehmen bietet. Um möglichst viel vom Kuchen des international mobilen Kapitals abzubekommen, gestalten Staaten ihre Steuergesetze möglichst attraktiv. Dies betrifft nicht nur die Steuersätze, sondern vor allem das regulatorische Umfeld. Unter dem Schleier des Bankgeheimnisses zum Beispiel lagern reiche Bürger weltweit ca. 12 Billionen US-Dollar in Steueroasen wie der Schweiz, den Cayman-Inseln oder Singapur ein. Im Gegensatz zur Steuerhinterziehung durch Einzelpersonen sind die Steuerminimierungstricks von Unternehmen oft legal. Durch Operationen innerhalb von multinationalen Unternehmen werden Gewinne auf dem Papier in Steueroasen verschoben. Beispiel Google: Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg letztes Jahr berichtete, zahlt Google außerhalb der USA im Durchschnitt einen Steuersatz von 2,4 Prozent, obwohl der Unternehmensteuersatz der wichtigsten Länder, in denen die Firma operiert, bei über 20 Prozent liegt.

Diese Tricks erklären, warum Filialen multinationaler Unternehmen in Orten wie Dublin, Luxemburg oder Zug Milliardengewinne verbuchen, obwohl in den dortigen Büros in vielen Fällen nur zwei oder drei Mitarbeiter sitzen. Die Folgen des Steuerwettbewerbs für die Staatshaushalte sind offensichtlich. Die Europäische Union beziffert die jährlich resultierenden Steuerverluste auf 2 bis 2,5 Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts. In Ländern wie Griechenland oder Italien, wo Steuerhinterziehung ein besonders großes Problem darstellt, ist diese Zahl vermutlich um einiges höher. Zusätzlich verstellt der Steuerwettbewerb einen möglichen Weg aus der Krise, nämlich den der Steuererhöhungen.

Was Schattenbanken und Steueroasen verbindet, ist die Intransparenz, die beide umgibt und von der sie leben. Warum sind 80 Prozent aller Hedge-Fonds auf den Cayman-Inseln registriert, obwohl der Großteil ihrer Angestellten in London und New York arbeitet? Weil die Aufsicht dort besonders lax ist. Wie die Financial Times im November berichtete, ist es auf den Cayman-Inseln keine Seltenheit, dass ein und dieselbe Person in mehr als 100 Aufsichtsräten von Hedge-Fonds sitzt. Die Anforderungen an Schattenbanken, ihre Geschäftszahlen publik zu machen, sind in vielen Steueroasen besonders gering. Wie reagieren besonders dreiste Gerichtsbarkeiten auf den Druck von außen, die Identität von Steuerhinterziehern preiszugeben? Sie genehmigen anonyme Konten oder bauen auf legale Konstrukte, wie etwa die Liechtensteiner Anstalt, um die Identität der Inhaber zu schützen.

Dies ist das Zentrum der derzeitigen Krise, das faule Gewebe des internationalen Finanzwesens. Die Schattenbanken zum einen stehen für die regulatorische Lücke, die es dem Finanzsektor erlaubt, sozial unverantwortliche Risiken einzugehen. Höhere Eigenkapitalanforderungen für reguläre Banken oder eine Finanztransaktionssteuer verkleinern diese Lücke vielleicht, aber sie schließen sie nicht. Der Steuer- und Regulierungswettbewerb zum anderen macht deutlich, wie Gewinne am Fiskus vorbeigeschleust werden. In schlechten Zeiten bringen die Verluste der (Schatten-)Banken einen ohnehin schon geschwächten öffentlichen Sektor in vielen Ländern ins Wanken. Was ist zu tun, um diese Krisenauslöser in den Griff zu bekommen?

Schattenbanken müssen so reguliert werden wie jede andere Bank auch. Erstaunlicherweise gibt es hierzu bislang kaum Initiativen. Steuerschlupflöcher müssen geschlossen werden. Dies erfordert eine internationale Koordination bei der Gestaltung der Steuergesetzgebung, unter anderem durch globale Transparenz und eine einheitliche Definition der Steuerbasis, es erfordert aber wohlgemerkt keine Harmonisierung der Steuersätze. Nachdem eine Initiative der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Anfang des Jahrhunderts von der Bush-Regierung im Keim erstickt wurde und die zaghaften Maßnahmen der G20-Staaten unmittelbar nach Beginn der Krise 2008 sich als Flop herausgestellt haben, erweist sich die Europäische Union auf dem Gebiet der Steuerreform als Vorreiter. So plant die EU eine sogenannte konsolidierte Unternehmensbesteuerung, die das Verschieben von Papiergewinnen effektiv unterbinden würde. Auch der Widerstand aus Brüssel gegen die bilateralen Steuerabkommen der Schweiz mit Deutschland und England Ende November 2011 - unter den geplanten Abkommen könnte die Anonymität von Schweizer Bankkonten weiterbestehen - zeigt, dass die EU hier nicht bereit ist, Kompromisse einzugehen.

Eine Reform der Schattenbanken und des internationalen Steuerrechts drängt sich nicht nur aus finanzpolitischen Gründen auf. Beide sind notwendig, um das internationale Finanzsystem weniger krisenanfällig zu machen, und können wesentlich dazu beitragen, die Staatshaushalte der EU-Mitgliedsstaaten zu festigen. Darüber hinaus jedoch handelt es sich um eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Plumpe Steuerhinterziehung ist hierbei das deutlichste Beispiel. Aber auch die Tatsache, dass die effektiven Steuersätze auf Gewinne aus risikoreichen Anlagen immer weiter sinken, während Verluste durch diverse Rettungspakete auf die Allgemeinheit umgelegt werden, trägt zu wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschieden in Deutschland und andernorts bei.

Es wäre fatal, wenn sich Europas Politik bei der "Rettung" des Euro auf Symptombekämpfung beschränkte. Diese ist zwar unausweichlich, um das Vertrauen der Märkte wiederherzustellen; aber gleichzeitig sind grundlegende Reformen des Finanzwesens einzuleiten, allen voran eine Regulierung der Schattenbanken und eine Reform des internationalen Steuersystems. Innerhalb der EU ist vor allem aus England und Luxemburg Widerstand zu erwarten. Doch sollte der Euro dieses Mal gerettet werden, ohne dass parallel dazu notwendige Strukturreformen auf den Weg gebracht werden, dann wird die nächste Krise nicht lange auf sich warten lassen.


Peter Dietsch, Philosoph und Ökonom, ist Associate Professor für Philosophie an der Université de Montréal (Kanada) und derzeit als Humboldt Fellow Gast in der Abteilung "Transnationale Konflikte und internationale Institutionen" des WZB.
Dietsch@wzb.eu

Literatur
Dietsch, Peter/Rixen, Thomas: "Tax Competition and Global Background Justice". In: Journal of Political Philosophy, 2012 (im Erscheinen)

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 135, März 2012, Seite 38-41
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Mai 2012