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SCHULDEN/035: Schuldenbremse - Disziplinierung der Haushalte oder Einschränkung der Finanzpolitik? (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Europäische Schuldenbremse
Disziplinierung der Haushalte oder Einschränkung der Finanzpolitik?

von Mechthild Schrooten, Mai 2012



• Die Stabilisierung von Banken und Finanzintermediären im Zuge der internationalen Finanzkrise 2007/08 hat den Schuldenstand der öffentlichen Haushalte in zahlreichen Ländern in die Höhe schnellen lassen. 23 von 27 Mitgliedstaaten befinden sich in einem Defizitverfahren.

• Ende 2011 wurden durch eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes die finanzpolitischen Rahmenbedingungen in der EU verschärft. Mit dem Fiskalpakt soll durch die Einführung nationaler Schuldenbremsen das Defizitkriterium noch strenger ausgelegt werden.

• Die neuen Regelungen sind kein simpler Export der deutschen Schuldenbremse. Vielmehr sind angesichts des Schuldenstandes auch in Deutschland Anpassungsleistungen zu erbringen. Ein einfaches Herauswachsen aus den Schulden wird langfristig kaum möglich sein, auch da derzeit die guten Zinsbedingungen auf dem internationalen Finanzmarkt nur begrenzt zur Investitionsfinanzierung genutzt werden können.

• Die Europäische Schuldenbremse setzt nicht auf die Bekämpfung der Verschuldungsursachen. Dazu gehören der Steuersenkungswettbewerb, die Kosten der Finanzmarktkrise und die zunehmende Dichotomie von privatem Reichtum und öffentlicher Armut. Im internationalen Vergleich sinkt - gerade in Krisenzeiten - die finanzpolitische Schlagkraft Europas.


Hintergrund

In den letzten Jahren ist ein Teufelskreis aus Banken-, Finanzmarkt- und staatlichen Verschuldungskrisen entstanden. Maßnahmen, die im Zuge der internationalen Finanzkrise 2007/2008 zur Stabilisierung von Banken und Finanzintermediären ergriffen wurden, haben den Schuldenstand der öffentlichen Haushalte in zahlreichen Ländern in die Höhe schnellen lassen. Dies gilt auch für die Mitgliedsländer der EU. Staatliche Schulden sind über den Finanzmarkt zu finanzieren. Hierbei kommen einzelne Euroländer zunehmend an ihre Grenzen. Verschuldungskrisen, Rettungsschirme, Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM) und Schuldenbremse sind in diesem Zusammenhang zentrale Schlagworte.

Vor diesem Hintergrund haben fünfundzwanzig Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU) im März 2012 den Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (»Fiskalpakt«) unterzeichnet.(1) Nur Großbritannien und Tschechien beschreiten einen Sonderweg. Der Fiskalpakt sieht vor, dass die Unterzeichnerstaaten auf der jeweiligen nationalen Ebene »Schuldenbremsen« einführen und diese in der Verfassung verankern. Der europäische Fiskalvertrag soll 2013 in Kraft treten. Dazu muss er von zwölf der 17 Euroländer ratifiziert worden sein. Sein Ziel ist, die öffentliche Verschuldung einzudämmen, indem er der staatlichen Verschuldung durch die »Fiskalpaktbremse« eine formale Grenze setzt. Davon soll wiederum ein stabilisierender Impuls auf den Finanzmarkt ausgehen. Faktisch werden auch zukünftige Rettungsprogramme für den Finanzsektor und für die Mitgliedsländer der Eurozone gedeckelt. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist der Euro-Rettungsschirm erst neuerlich weiter ausgebaut worden.


Zum Auftakt ein Sixpack

Durch die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hat es in der EU bereits Ende 2011 eine deutliche Verschärfung der finanzpolitischen Rahmenbedingungen gegeben. Das so genannte Sixpack trat in Kraft.(2) Stärker als in der Vergangenheit wird der Schuldenstand bei der Einleitung eines Defizitverfahrens berücksichtigt; er soll den Schwellenwert von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten. Dieser Grenzwert findet sich auch in den Maastricht-Kriterien. Nach der Euro-Einführung haben offenbar etliche Länder diesen Indikator aus den Augen verloren. Weiterhin gilt unter dem Sixpack ein Defizit der öffentlichen Haushalte von bis zu drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts als unproblematisch, wenn die Verschuldungsobergrenze von 60 Prozent des BIP nicht überschritten wird. Andernfalls ist die Staatsverschuldung gezielt zurückzuführen - und zwar jährlich um ein Zwanzigstel des Überhangs über den Referenzwert.

Zudem setzt das Sixpack auf Krisenprävention. Die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte soll durch eine mittelfristige Haushaltsplanung gestärkt werden. Darüber hinaus werden eine verbesserte Durchsetzung von Sanktionen gegenüber Mitgliedstaaten, die die Referenzwerte überschreiten, und die Etablierung eines Frühwarnsystems zur Erkennung makroökonomischer Ungleichgewichte angestrebt.

Dieses Frühwarnsystem setzt sich aus zehn Indikatoren zusammen, unter anderem die Leistungsbilanzsituation, die internationale Verschuldung, die Entwicklung der Lohnstückkosten und die Arbeitslosenquote. Deren Entwicklung wird ab jeweils festgelegten Schwellenwerten als problematisch eingeschätzt. Wissenschaftliche Begründungen für diese Schwellenwerte dürften sich in der Regel nur schwer finden lassen.

An der Konstruktion des Frühwarnsystems zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie wenig die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes auf das Thema Wirtschaftswachstum gerichtet ist - so wird die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts beziehungsweise der Industrieproduktion nicht als expliziter Frühwarnindikator begriffen. Das BIP geht nur indirekt - etwa bei der Bestimmung der Verschuldungsquote - in die Frühwarnindikatoren ein. Nach der Neuregelung können von Seiten der EU Empfehlungen gegenüber Mitgliedsländern ausgesprochen werden, wenn die Ungleichgewichte als übermäßig eingeschätzt werden. Insgesamt zielt dieses Reformpaket auf die Verschärfung der finanzpolitischen Rahmenbedingungen. Aus dieser Disziplinierung resultiert eine Einschränkung der finanzpolitischen Handlungsoptionen.


Schon jetzt: Defizitverfahren gegen Mehrzahl der Mitgliedsländer

Entsprechend der gültigen Kriterien befinden sich 23 der 27 EU-Mitgliedstaaten in einem Defizitverfahren, nur Finnland, Schweden, Estland und Luxemburg sind nicht von Defizitverfahren betroffen. Allein die Anzahl der betroffenen Länder deutet darauf hin, dass es sich bei der Verschuldungs- und Defizitproblematik der öffentlichen Haushalte um ein massives und offenbar zu weiten Teilen strukturelles Problem handelt. Die betroffenen Volkswirtschaften lassen sich in unterschiedliche Gruppen teilen: Einige Länder kombinieren hohe staatliche Defizite mit einer relativ geringen staatlichen Verschuldungsquote, andere überschreiten beide Referenzwerte und einige Länder weisen eine relativ hohe staatliche Verschuldung bei gleichzeitig eher geringem Defizit der öffentlichen Haushalte auf.

Zu dieser letzten Gruppe zählt auch Deutschland. Hier liegt zwar das aktuelle Defizit der öffentlichen Haushalte unter dem angegebenen Referenzwert, die Staatsverschuldung aber überschreitet den Schwellenwert von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts deutlich; sie wird mit knapp 82 Prozent des BIP angegeben. Obwohl sich die Bundesrepublik Deutschland derzeit zu hervorragenden Konditionen über den Kapitalmarkt refinanzieren kann, ist sie nach den Vorgaben des verschärften Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu einer Rückführung des Verschuldungsstandes gezwungen. Die derzeit günstigen Finanzierungsbedingungen auf dem Kapitalmarkt können nur eingeschränkt genutzt werden; dies obwohl gerade in Deutschland ein erheblicher Finanzierungsbedarf etwa im Bereich Bildung besteht. Schon diese Inflexibilität zeigt, dass mit der Verschärfung der Spielregeln und der Setzung von starren Obergrenzen finanzpolitischer Handlungsspielraum aufgegeben wurde.


Fiskalpakt setzt auf weitere Verschärfung der Spielregeln

Im Fiskalpakt wird an der Verschuldungsobergrenze von 60 Prozent des BIP festgehalten. Allerdings wird das Defizitkriterium verschärft. Die EU-Kommission unterscheidet zwischen dem strukturellen und dem konjunkturellen Defizit der öffentlichen Haushalte. Entsprechend der Vorgaben des Fiskalpaktes darf das jährliche konjunkturbereinigte Defizit eines Unterzeichnerstaates künftig nicht mehr als 0,5 Prozent des BIP betragen. In die Berechnung des konjunkturellen Defizites gehen durch den Wirtschaftszyklus bedingte Schwankungen des Einnahme- bzw. Ausgabevolumens ebenso wie die Kosten einmaliger Maßnahmen etwa zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ein. Analystisch abzugrenzen vom strukturellen, konjunkturbereinigten Defizit ist das konjunkturelle. Weitgehend unstrittig unter Ökonomen ist, dass strukturelle Defizite zu bekämpfen sind, da sie für eine Verfestigung von Verschuldung sorgen.

Klar erscheint, dass die neue Regelung rund um das konjunkturbereinigte bzw. strukturelle Defizit von einzelnen Mitgliedstaaten der EU offenbar als strikter als die im Sixpack formulierte Neuregelung verstanden wird. Dies wird auch dadurch deutlich, dass nicht alle Länder zur Durchsetzung des Fiskalpaktes bereit sind.(3)


Das strukturelle Defizit - Die unbekannte Größe

Mit dem Fiskalpakt wird die Staatsverschuldung von zwei Seiten in die Zange genommen: einerseits durch die Verschuldungsobergrenze, andererseits durch die Begrenzung des strukturellen Defizits. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass bei Inkrafttreten der veränderten Rahmenbedingungen auf der Ebene der nationalen Finanzpolitik nach Auswegen gesucht wird. Tatsächlich besteht bei dem Begriff »strukturelles Defizit« ein erheblicher Interpretationsspielraum.(4)

Während das konjunkturelle Defizit annahmegemäß kurzfristigen Schwankungen unterliegt, könnte von einer weitgehenden Konstanz der strukturellen beziehungsweise konjunkturbereinigten Defizitkomponente ausgegangen werden. Genau dieser strukturelle Charakter dürfte aber auch die rasche Rückführung dieser Defizitkomponente sehr schwierig machen. Denn die hinter einem strukturellen Defizit stehenden Ursachen, die von Mitgliedsland zu Mitgliedsland unterschiedlich sein können, werden durch den Fiskalpakt weder analysiert noch bekämpft.

In der Praxis sind konjunkturelle und konjunkturbereinigte, strukturelle Defizite nicht eindeutig voneinander abzugrenzen. Unterschiede in den Sichtweisen führen zu Differenzen bei den Berechnungsmethoden und folglich bei den Ergebnissen. In der Konsequenz sind für die Zukunft langwierige Diskussionen um die Erfüllung des Defizitkriteriums zu erwarten. Bei Umsetzung des Fiskalpaktes wird sich die europäische Finanzpolitik in den nächsten Jahren stark mit Definitions- und Abgrenzungsproblematiken auseinander zu setzen haben. Das bindet wirtschaftspolitische Ressourcen, die an anderer Stelle wesentlich sinnvoller genutzt werden könnten.

Entsteht im Rahmen eines möglichen »Definitionsgerangels« der Eindruck, die Abgrenzungsproblematik wird zu einem Aufweichen der Kriterien genutzt, kann die Glaubwürdigkeit des gesamten Fiskalpakts massiv leiden. Der von ihm erwartete stabilisierende Effekt auf den Finanzmarkt würde nicht eintreten - die öffentlichen Haushalte einzelner Volkswirtschaften müssten weiterhin mit erheblichen Risikoaufschlägen bei der Finanzierung ihrer Staatsausgaben über den Finanzmarkt rechnen. Schließlich sind Verschuldungskrisen auch immer Vertrauenskrisen. Durch einen »Interpretationswirrwarr« können die jetzt geforderten massiven Anstrengungen zur Krisenprävention weitgehend wirkungslos werden und würden auch auf dem Finanzmarkt verpuffen.


Was bedeutet der europäische Fiskalpakt für Deutschland?

Die im Fiskalpakt festgelegte Defizitgrenze geht formal leicht über die im deutschen Grundgesetz festgeschriebene hinaus. Der deutsche Vergleichswert liegt bei 0,35 Prozent des BIP, dieser ist ab 2016 auf Bundesebene zu realisieren.(5) Vielfach wird von einem simplen Export der deutschen Schuldenbremse gesprochen. Dies ist allerdings bei weitem zu kurz gegriffen. Denn die im deutschen Grundgesetz verankerte Defizitbegrenzung sieht lange Übergangsfristen vor; so sind erst ab 2020 die Bundesländer mit einzubeziehen. Der europäische Fiskalpakt dagegen bezieht sich von vornherein auf den konsolidierten Haushalt und soll möglichst bald greifen. Folglich würde der Fiskalpakt auch dem vermeintlichen Musterland Deutschland erhebliche Anpassungsleistungen abverlangen.

Dazu kommt, dass Deutschland die im Fiskalpakt vorgegebene Verschuldungsquote von 60 Prozent des BIP deutlich überschreitet. Ein automatisches »Herauswachsen« aus der Schuldenquote von 80 Prozent des BIP ist zwar theoretisch möglich, allerdings als dauerhaftes Modell eher unrealistisch. Wahrscheinlicher ist, dass auch in Deutschland erhebliche Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Kriterien des Fiskalpaktes zu erfüllen. Dazu wären dann Ausgabenkürzungen bzw. Einnahmeerhöhungen notwendig. Da Steuererhöhungen als unattraktiv gelten, sind Ausgabenkürzungen zu erwarten. Das angestrebte vergleichsweise hohe Konsolidierungstempo kann die gesamtwirtschaftliche Entwicklung erheblich dämpfen.


Schulden, Zinsen und Forderungen sind Grundbestandteile der Wirtschaftsordnung

Grundsätzlich haben die öffentlichen Haushalte zwei Möglichkeiten, sich zu refinanzieren: über Steuern und Abgaben oder über Kredite und damit letztendlich über Verschuldung. Der Zins, den Schuldner für Kredite zu zahlen haben, setzt sich aus dem Marktzins und einem Risikoaufschlag zusammen, letzterer steigt mit dem Kreditausfallrisiko. Wenn etwa privatwirtschaftliche RatingAgenturen die Bonität der öffentlichen Haushalte eines Landes herabstufen, führt dies über einen steigenden Risikoaufschlag zu höheren Kreditkosten.(6) Diese treiben die Gesamtschuld weiter in die Höhe. An diesen grundlegenden Funktionsbedingungen des Finanzmarktes wird sich durch die finanzpolitischen Neuregelungen wenig ändern.

Wenn in Europa starre Vorgaben zur Verschuldung und Defizitbegrenzung durchgesetzt werden, fallen etliche, gesamtwirtschaftlich bedeutsame Aspekte aus der Betrachtung. In dieser Hinsicht wird bei den starren Vorgaben vernachlässigt, dass die Finanzierung von staatlichen Investitionen über den Kapitalmarkt durchaus sinnvoll sein kann. Denn Investitionen amortisieren sich vielfach erst langfristig; höhere Investitionen können auch von Unternehmen nur durch Kreditaufnahme finanziert werden. Hier werden an den Staat andere Maßstäbe angelegt.

Außerdem gilt: Schulden stehen immer Forderungen gegenüber. In einer entwickelten Marktwirtschaft bietet der Staat durch seine Verschuldung aus der Sicht von Anlegern interessante Wertpapiere. Zurzeit verfügen die Finanzmärkte über erhebliche Liquidität. Wenn nun das Volumen der Staatsverschuldung in Europa massiv zurückgefahren wird, stehen aus Sicht der Anleger weniger als weitgehend sicher eingestufte Wertpapiere zur Verfügung. Dies impliziert, dass schon aufgrund der in Europa angedachten Mengenrestriktion bei der Kreditaufnahme andere Volkswirtschaften dauerhaft mit relativ günstigen Finanzierungskonditionen rechnen können. Zugleich können von dieser Konstellation - hohe Liquidität im Finanzsektor bei geringen Marktzinsen - Impulse für risikoreichere, renditeversprechende Finanzinvestitionen ausgehen. Risikoreiche Finanzgeschäfte haben die Grundlage für die internationale Finanzkrise 2007/2008 gelegt. Folglich ist zu erwarten, dass sich durch die finanzpolitischen Vorgaben in Europa der Teufelskreis aus Banken-, Finanzmarkt- und staatlichen Verschuldungskrisen kaum nachhaltig durchbrechen lassen wird.


Nachhaltige Strategien sind gefragt

Erklärtes Ziel der finanzpolitischen Neuregelungen ist die Prävention von Verschuldungskrisen. In Deutschland, wie in den anderen Mitgliedsländern der EU, werden sich die neuen finanzpolitischen Kriterien jedoch nicht einfach dadurch erfüllen lassen, dass sie verschärft werden. Soll die staatliche Verschuldung nachhaltig zurückgeführt werden, so sind ihre Ursachen zu bekämpfen. Dazu gehören der langjährige europäische Steuersenkungswettbewerb, die zunehmende Dichotomie von privatem Reichtum und öffentlicher Armut ebenso wie die durch Bankenrettungsprogramme entstandenen Kosten der Finanzmarktliberalisierung. Kurz gesagt, ein erheblicher Teil der staatlichen Schulden geht darauf zurück, dass jahrelang privates Vermögen angehäuft werden konnte und später durch staatliche Intervention, etwa bei der Bankenrettung, vor der Entwertung geschützt wurde.

Vor diesem Hintergrund liegt der Gedanke nahe, den über noch immer stark wachsende Vermögen verfügenden Privatsektor deutlich an der Entschuldung des Staatssektors zu beteiligen. Dies gilt umso mehr, als dass die jahrelange Umverteilung von unten nach oben zur massiven Ungleichverteilung von Vermögen innerhalb des Privatsektors beigetragen hat. Kurzum, eine Vermögensabgabe für Superreiche muss her. Grundsätzlich bestände hierbei ein erheblicher Gestaltungsspielraum.

Anders ausgedrückt: eine klar strukturierte Vermögensabgabe könnte zu einer raschen Rückführung der staatlichen Schuld beitragen.(7) Zugleich könnten von einer solchen Abgabe für Superreiche weitere positive Effekte ausgehen. Erstens würde die Summe des vagabundierenden Spekulationskapitals sinken. Schon dadurch könnten die negativen Effekte des Finanzkapitalismus beschränkt werden. Zweitens würde mit einer solchen Vermögensabgabe der wachsenden Kluft zwischen arm und reich in der Gesellschaft entgegen gewirkt werden. Auch das könnte stabilisierend wirken.

Alles in allem wird die Politik bei einem Festhalten an dem Fiskalpakt nicht an Steuer- beziehungsweise Abgabenerhöhungen vorbei kommen. Ausgaben können zwar formal gekürzt werden - allerdings nicht beliebig.(8)


Europas fiskalpolitische Schlagkraft gebremst

Ein gemeinsames Problem des verschärften Stabilitätsund Wachstumspaktes und des Fiskalpaktes ist, dass sich in einer Marktwirtschaft politische Vorgaben nicht ohne Weiteres per Verordnung oder Plan erfüllen lassen. Notwendig wäre, an den Ursachen der staatlichen Verschuldung anzusetzen. Ursachenbekämpfung aber wird mit dem Fiskalpakt nicht betrieben; vielmehr werden hier einseitig die zukünftigen, finanzpolitischen Handlungsoptionen beschnitten. Die Entwicklung der öffentlichen Haushalte hat demnach engen Vorgaben zu folgen. Zu einer vergleichbar engmaschigen, harten und in Europa einheitlichen Regulierung etwa des Banken- und Finanzsektors fehlt indes der politische Mut und Wille.(9)

Defizite und Verschuldungsstände der öffentlichen Haushalte sind die Symptome einer seit langem neoliberal ausgerichteten Wirtschaftspolitik. Die internationale Finanzkrise 2007/2008 hat gezeigt, wie wichtig staatliche Handlungsfähigkeit ist. Trotz dieser Erkenntnis setzen der verschärfte Stabilitäts- und Wachstumspakt und der Fiskalpakt auf eine Begrenzung der finanzpolitischen Optionen. Die vor dem Hintergrund von Zahlungsschwierigkeiten einzelner Mitgliedsländer konzipierte Politik einer flächendeckenden Schuldenbremse kann so zur Wachstumsbremse für alle EU-Staaten werden. Damit bleibt die zukünftige finanzpolitische Potenz Europas - auch und gerade in Krisensituationen - deutlich hinter der der USA und Japans zurück. Noch ist in Europa jedoch ein Umdenken möglich.


Über die Autorin

Dr. Mechthild Schrooten ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Bremen.


Anmerkungen

1. Zuvor, im Dezember 2011, haben sich die 17 Euroländer zur Schaffung einer Fiskalischen Stabilitätsunion entschlossen. Der Fiskalpakt ist von den nationalen Parlamenten zu ratifizieren; Irland plant ein Referendum.

2. Das Sixpack setzt sich aus fünf Verordnungen und einer Richtlinie zusammen. Europäische Kommission (2011): EU-»Six-Pack« zur wirtschaftspolitischen Steuerung tritt in Kraft.
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=MEMO/11/898&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en (Zugriff: 12. April 2012).

3. Der verschärfte Stabilitäts- und Wachstumspakt lässt eine Defizitobergrenze von drei Prozent des BIP zu; dabei wird nicht zwischen den unterschiedlichen »Defizitarten« unterschieden. Die Dreiprozentmarke wird auch im Fiskalpakt genannt. Wesentlicher Unterschied ist allerdings, dass im Fiskalpakt Vorgaben für die unterschiedlichen Defizitkomponenten gemacht werden.

4. Das konjunkturbereinigte Defizit spiegelt demnach keineswegs den tatsächlichen Finanzierungsbedarf der öffentlichen Haushalte wider.

5. Die Bundesländer müssen zukünftig einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen.

6. Schrooten, Mechthild (2011): Europäische Rating-Agentur. Zweck und Optionen.
http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/08693.pdf.

7. Vgl. dazu Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (2012): Memorandum 2012.

8. Bereits jetzt werden in allen Staaten der EU Rentenreformen durchgesetzt, die auf eine Erhöhung des Renteneintrittsalters zielen.

9. Dringend geboten etwa wäre es, die Schattenbanken unter eine Aufsicht zu stellen, vergleichbar mit der Beaufsichtigung des traditionellen Bankensektors. Vgl. dazu: Schrooten, Mechthild (2012): Schattenbanken gehören abgeschafft. In: Wirtschaftsdienst 4/2012.

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Die Internationale Politikanalyse (IPA) ist die Analyseeinheit der Abteilung Internationaler Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung. In unseren Publikationen und Studien bearbeiten wir Schlüsselthemen der europäischen und internationalen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Unser Ziel ist die Entwicklung von politischen Handlungsempfehlungen und Szenarien aus der Perspektive der Sozialen Demokratie.

Diese Publikation erscheint im Rahmen der Arbeitslinie »Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik«, Redaktion: Dr. Björn Hacker, bjoern.hacker@fes.de. Redaktionsassistenz: Nora Neye, nora.neye@fes.de.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2012