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SCHULDEN/046: Europa als Dauerbaustelle (Sozialismus)


Sozialismus Heft 12/2012

Europa als Dauerbaustelle

von Joachim Bischoff und Richard Detje



Fünf Jahre sind inzwischen seit dem Ausbruch der Großen Krise in den USA vergangen. Ausgehend von den Immobilienmärkten platzte im Frühjahr 2007 eine große Kredit- und Vermögenspreisblase und verstärkte rückschlagend die Überakkumulation.(1) Nach immensen Interventionen der Notenbanken und der Regierungen konnte die Abwärtstendenz abgefangen werden.(2) Um einen tiefen Absturz der Ökonomien in den Jahren 2009/2010 abzumildern, gaben Staaten weltweit zusätzlich gut 2.000 Mrd. US-$ für Konjunkturprogramme aus.

Der gesamte Krisenprozess droht seit 2010 an der südlichen Peripherie der EU außer Kontrolle zu geraten. Durch den krisenbedingten Anstieg von "notleidenden Krediten" sind die Banken und in der Folge die öffentlichen Haushalte tief in die roten Zahlen gerutscht. Zwischen 2008 und 2010 haben allein die europäischen Regierungen 1,6 Bio. Euro für die Rettung ihres Bankensektors aufgebracht. Das entspricht 13% ihrer gesamten Wirtschaftsleistung. Dreiviertel davon bestanden in Garantien und 400 Mrd. Euro wurden für direkte staatliche Rekapitalisierungsmaßnahmen bereitgestellt.

In der anhaltenden Krise der Eurozone wird deutlich, dass die Finanzmärkte trotz einiger Korrekturmaßnahmen nicht unter Kontrolle sind. Die "Eurokrise" ist zur Dauerbaustelle mutiert. Es gibt zwar bescheidene Fortschritte in der Regulierung, z.B. durch die höhere Eigenkapitalausstattung der Banken oder die Vorbereitung einer Bankenunion. Doch da es über die Ursachen der Krisen keine Einigkeit gibt, sind auch die Antikrisenmaßnahmen strittig. Die für zahlreiche Länder auf den Weg gebrachte Austeritätspolitik führt immer tiefer in eine ökonomisch-politische Sackgasse und zerstört die Formen demokratischer Willensbildung. Zudem ist völlig offen, wie der Schuldenabbau ("Deleveraging") in dieser Konstellation ohne deflationäre Abwärtsspirale gelingen soll, wie die relative Entkoppelung von Finanz- und Realwirtschaft zurückgefahren und das "infernalische Dreieck" (so der "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger) aus Staatsschuldenkrise, Bankenkrise und Rezession aufgebrochen werden kann.

• Seit fünf Jahren prägt also die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise das ökonomische, soziale und politische Leben in Europa. Statt die Schrumpfung des gesellschaftlichen Reichtums nach dem Krisentief des Sommers 2009 wieder auszugleichen, steckt die Europäische Währungsunion seit dem 2. Quartal 2012 erneut in der Krise. Die Mehrheit der Bevölkerung zahlt dafür mit der baren Münze ihrer sozialen Existenz. Die Arbeitslosigkeit erreicht mit über 25% in Griechenland und Spanien und über 15% in Irland und Portugal historische Höchststände. Aber selbst Arbeitslosenquoten zwischen 35% und 55% unter der nachwachsenden Generation sind nur die Spitze jenes sozio-ökonomischen Eisbergs, an dem Zukunftsperspektiven zerbersten. Aussicht auf eine gesicherte Erwerbsbiografie jenseits von prekären, temporären, nicht existenzsichernden Jobs hat in den so genannten Krisenstaaten Europas nur noch eine Minderheit - meist aus den traditionellen Eliten. Die Bevölkerungen in den südlichen Krisenstaaten haben eine massive Absenkung ihres Lebensstandards hinnehmen müssen und für das nächste Jahrzehnt zeichnet sich keine grundlegende Verbesserung ab. Die massiven Einschnitte in den sozialen Besitzständen sowie die verschärfte Deregulierung von Arbeitsverhältnissen erfassen nach und nach auch die weniger pleitebedrohten Euroländer.

• Gleichzeitig weist die Fieberkurve der herrschenden Krisenumdeutung, die Entwicklung der öffentlichen Verschuldung, steil nach oben. In Spanien und Portugal ist der Schuldenstand seit 2008 um rund 50 Punkte auf 90,7% bzw. 119% gestiegen, in Irland und Griechenland um rund 60 Punkte auf 118 bzw. 171%. Und dies unter einem Regime härtester Austerität, das selbst Margaret Thatcher und Ronald Reagan unter demokratischen Verhältnissen, also jenseits des historischen Laboratoriums der Chicago Boys im Chile der Militärdiktatur, für unvorstellbar gehalten hätten.

• Das Euro-Krisenregime entzieht sich demokratischer Einflussnahme. Mit Six-Pact, Europäischem Semester und Fiskalpakt sind Verfahren entstanden, die für die kommenden Jahren institutionell - als Euro-Finanzminister und Euro-Wirtschaftsregierung - festgeschrieben und über einen "Konvent" legitimiert werden sollen. Das kurze Intermezzo "technischer Kabinette" in Griechenland und Italien ist die Experimentalphase eines gesamteuropäischen Austeritätsregimes, das in Richtung eines autoritären Kapitalismus steuert.

Krisenursachen

Die Hauptursache für die massive Verschuldung der öffentlichen Haushalte liegt nicht in den staatlichen Interventionsmaßnahmen. Das enorme Anwachsen des Schuldenstandes vieler Staaten in den letzten drei Jahren ist ohne Zweifel auf die Anstrengungen zurückzuführen, die Bankenkrise und ihre Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft zu bewältigen. Aber die Überschuldung von privaten Haushalten, öffentlichem Bereich und Unternehmen gründet in der seit langem wachsenden sozialen Ungleichheit und einer diese Entwicklung verschärfenden Verteilungs- und Steuerpolitik. Auf die chronische Akkumulations- und Wachstumsschwäche reagierten die kapitalistischen Hauptländer seit den 1980er Jahren mit Steuersenkungen. Der öffentliche Sektor wurde geschrumpft, mit der Folge verschärfter Einkommens- und Vermögensunterschiede, übermäßiger Ausdehnung der Finanzsektoren (Finanzialisierung) und chronischer Verfestigung der Wachstumsschwäche. Die Verschärfung der makroökonomischen Ungleichgewichte touchierte mehrfach die Systemstabilität der Gesellschaften.

Gleichwohl hat sich die Euro-Schuldenkrise seit Ende Juli 2012 etwas beruhigt, nachdem der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, diese zum handlungsfähigen Akteur ausgerufen und erklärt hat, die Notenbank werde zur Rettung des Euro alles unternehmen. Seither sind die am höchsten verschuldeten Euro-Staaten wieder in der Lage, an den Finanzmärkten zumindest für kurze Laufzeit Kapital aufzunehmen. Selbst die sonst so kritische Bundesbank hat die Reformbemühungen und Fortschritte in den Krisenländern zuletzt gelobt: Geringere Leistungsbilanzdefizite und insbesondere die gesunkenen Lohnstückkosten in Griechenland und Portugal zeugten von verbesserter Wettbewerbsfähigkeit der kriselnden Volkswirtschaften.

Verlässt man allerdings die Oberfläche, wird sichtbar, dass die Kernprobleme kaum bewegt wurden: bis Ende 2013 soll in den Krisenländern, aber auch in Italien, Frankreich und den Niederlanden die gesamtgesellschaftliche Wirtschaftsleistung weiter schrumpfen. Griechenland muss sich darauf einstellen, dass Ende 2013 die Wirtschaftsleistung um über 25% reduziert worden ist. Nicht nur in Griechenland oder den anderen Krisenländern ist die Investitionsbereitschaft angesichts der hohen Staatsverschuldung und der anhaltenden Probleme der Finanzsektoren stark eingeschränkt. Ohne deutliche Impulse durch öffentliche Investitionen ist es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass sich in Europa ein solides Wirtschaftswachstum entwickeln wird, mit dem die Arbeitslosigkeit reduziert und eine dauerhafte Verbesserung bei den öffentlichen Finanzen und der Schuldentragfähigkeit erreicht werden kann.

Die Investoren und Finanzmärkte erwarten zur Jahreswende eine von der Troika - EZB, EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds (IWF) - getragene, allerdings nicht dauerhafte Lösung der Krise. Sie soll nun endlich über die Ankündigungspolitik des EZB-Präsidenten hinausgehen. Aber selbst eine solche "Zwischenlösung" gestaltete sich schwierig, weil die Finanzminister der Eurozone unterschiedliche Auffassungen darüber haben, wie Griechenland im Euroraum gehalten und die nächste Tranche des Finanzhilfspakets freigegeben werden kann.

Neue Zwischenlösung

Nach langwierigen Verhandlungen konnte schließlich am 26. November 2012 ein Paket neuer Maßnahmen für Griechenland verabredet werden. Es handelt sich erneut um eine Zwischenlösung, mehr nicht. Griechenlands Leidensprozess wird erneut verlängert - das Schlüsselproblem wurde erneut ignoriert. Es gibt komplizierte Prozesse der Re-Finanzierung, aber die Ökonomie selbst soll sich ohne wirtschaftliche Impulse erholen. Das Land erhält immerhin noch vor Jahresende die dringend benötigten Kredittranchen. Die Euro-Staaten stopfen die Löcher im Hilfspaket, ohne ihre öffentlichen Haushalte kurzfristig zu belasten. Der IWF setzte durch, dass die Schuldenquote Griechenlands bis 2020 auf ein halbwegs tragfähiges Niveau sinkt - zumindest auf dem Papier.

Die Finanzierungslücke im Hilfsprogramm für Griechenland soll mit einer Kombination mehrerer Maßnahmen geschlossen werden, ohne dass es vorerst zu einem Schuldenschnitt durch öffentliche Gläubiger kommt. Zu lösen hatten die Krisenmanager zwei Probleme: Zum einen ist eine Finanzierungslücke zu decken, die die Troika auf 32,6 Mrd. Euro in der Periode 2013 bis 2016 schätzt. Entstanden ist sie unter anderem dadurch, dass Griechenland zwei Jahre mehr Zeit für den Defizitabbau erhalten soll. In einem ersten Schritt soll aber nur die bis 2014 klaffende Lücke von rund 14 Mrd. Euro geschlossen werden; um die beiden Folgejahre will man sich später kümmern. Die Verschuldung soll bis 2020 auf 124% des BIP zurückgeführt werden. Man könnte auch sagen: Die internationalen Geldgeber haben begriffen, dass die bisher unterstellten ökonomischen Rahmenbedingungen völlig irreal sind.

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble definierte für die Politik der Bundesregierung zwei Essentials: Es werde erstens keine Anhebung der Hilfen und damit kein offizielles drittes Hilfspakets geben. Es gebe "keine Überlegungen, das Programm aufzustocken". "Wir müssen Wege finden, wie wir ohne dieses Instrument die Lücken schließen." Zweitens wehrte er sich gegen einen erneuten Schuldenerlass, diesmal der öffentlichen Hand. Für die meisten Länder der Euro-Zone sei ein Schuldenerlass durch nationale Gesetze ausgeschlossen: "Wir sollten uns, ohne zu spekulieren, auf andere Lösungen konzentrieren".

Christine Lagarde, Chefin des IWF, ist hingegen durch entsprechende Statuten darauf verpflichtet, für eine Schuldentragfähigkeit zu sorgen. Aus Sicht des IWF "ist der angemessene Zeitplan: 120% im Jahr 2020". Obwohl es zielführender wäre und letztlich für spätere Jahre auch nicht ausgeschlossen werden kann, steht ein "richtiger" Schuldenschnitt durch öffentliche Gläubiger aktuell nicht zur Debatte. Öffentliche Gläubiger von Bedeutung sind der IWF, die EZB und die Euro-Staaten, die Griechenland im Rahmen des ersten Hilfsprogramms mit bilateralen Krediten unterstützt haben. Der IWF pocht auf seinen Status als "bevorzugter Gläubiger", die EZB darf keine monetäre Staatsfinanzierung betreiben, und auch die Euro-Staaten sträuben sich. Alle Euro-Mitglieder hätten in der bisherigen Debatte darauf hingewiesen, dass es ihnen das nationale Recht verunmögliche, einen Schuldenerlass durchzuführen und zugleich für weitere Hilfskredite an dasselbe Land zu garantieren.

Die Euro-Staaten haben jetzt also zugesagt, nötigenfalls zusätzliche Maßnahmen zu prüfen, wenn Griechenland einen Primärüberschuss erreicht hat und alle Sanierungsvorgaben umsetzt - um sicherzustellen, dass die Staatsverschuldung bis 2016 auf 175%, bis 2020 auf 124% und bis 2022 auf "wesentlich unter 110%" des BIP reduziert wird. 124% bis 2020 bedeutete eine Reduktion um 20%, denn ohne zusätzliche Maßnahmen würde die Schuldenquote laut Troika im Jahr 2020 noch immer 144% des BIP betragen.

Lagarde akzeptiert das neue Paket mit Einschränkungen: Sie werde dem IWF-Exekutivdirektorium die Auszahlung der nächsten Tranche empfehlen, sobald Fortschritte bei der Konkretisierung und Umsetzung der gemachten Zusagen, insbesondere bezüglich des Schuldenrückkaufs, vorlägen.

Der IWF hat damit sein Ziel nicht aufgegeben, über einen erneuten Schuldenschnitt eine langfristige Schuldentragfähigkeit der griechischen Ökonomie zu erreichen. Ein solcher "haircut" träfe die öffentlichen Kreditgeber, ginge also auch zulasten der deutschen SteuerzahlerInnen. Sie bürgen bereits für gut 49 Mrd. Euro, die im Rahmen des ersten und zweiten Hilfspakets an Griechenland überwiesen worden sind. Ein Teil davon müsste abgeschrieben werden. Der IWF begründet seine Haltung damit, dass Griechenland so schnell wie möglich eine nachhaltige Verringerung der Schuldenlast brauche. Aus dem Ruder gelaufen ist die Langfristplanung wegen der viel tieferen wirtschaftlichen Depression. Der Streit über die langfristige Schuldentragfähigkeit, die eine Voraussetzung ist für die Rückkehr des Landes an den privaten Kapitalmarkt, verzögerte bislang die Entscheidung über die Auszahlung weiterer Hilfen.

Schuldenrückkauf und Zugeständnisse

Ein wesentlicher Bestandteil des Pakets - neben einem auf später verschobenen Schuldenschnitt - ist der Rückkauf von griechischen Staatsanleihen, die derzeit noch von privaten Gläubigern gehalten werden, durch Griechenland selbst. Er soll - wie es in entsprechenden Dokumenten heißt - "in naher Zukunft" erfolgen und zwar zu keinen höheren Kursen als der Schlusskurs vor Verkündung des neuen Pakets. Weil dieser Marktpreis deutlich unter dem Nominalwert liegt, ergibt sich netto eine Entlastung. Finanziert werden soll der Rückkauf offenbar innerhalb des bestehenden Griechenland-Programms.

Zunächst geht es also nicht um einen Schuldenschnitt bei öffentlichen Banken und Investoren, sondern um einen "Schuldenrückkauf" der von privaten griechischen und internationalen Gläubigern gehaltenen Schulden mit einem Nominalwert von rund 63 Mrd. Euro und einem aktuellen Marktwert von ca. 18 Mrd. Euro. Der Grundgedanke dieser Operation ist, dass private Gläubiger auch nach dem ersten Schuldenschnitt noch ca. 63 Milliarden Euro griechischer Schuldtitel halten, die zu Preisen unterhalb der Hälfte des Nennwertes gehandelt werden. Alleine kaufen kann Griechenland die Anleihen allerdings nicht, hierfür soll die Griechenland-Hilfe aus dem Rettungsfonds EFSF um etwa 10 Milliarden Euro aufgestockt werden. Für den Schuldenabbau von Bedeutung ist der Kurs, zu dem ein "Rückkauf" abgewickelt wird. Ein Rückkaufpreis von 35 Cent je Euro würde die privat gehaltenen Staatsschulden um 29 Mrd. Euro, also um fast die Hälfte, und den Verschuldungsgrad um neun Prozentpunkte reduzieren. Allerdings wäre eine solche Operation selbst wieder den Interessen der Investoren ausgeliefert und der Wertabschlag auf die Schuldtitel würde rasch zusammenschmelzen. Es ist also höchst unsicher, ob die angestrebte Entlastung erreicht werden kann.

Das Paket enthält eine Reihe von Zugeständnissen der Euro-Staaten - mit der Begründung, das Sanierungsprogramm sei auf Kurs und würde Griechenland dauerhaft entlasten. Zugleich erforderten die Verschlechterung der makroökonomischen Situation, die bisherigen Verzögerungen bei der Umsetzung des Programms und die Verschiebung des Ziels eines Primärüberschusses von 4,5% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um zwei Jahre auf 2016 jedoch eine Überarbeitung des Konzepts. Politisch hat sich also Finanzminister Schäuble durchgesetzt, weil ein neues Rettungspaket schwierig in Deutschland durchzusetzen wäre, daher also die kleineren Zugeständnisse, um eine Zwischenlösung zu ermöglichen.

Die Zinssätze für die Hilfskredite der Euro-Staaten aus dem ersten Griechenland-Programm werden um 100 Punkte gesenkt (mit Ausnahmen für Staaten, die ihrerseits in einem vollen Hilfsprogramm stehen), die zu zahlende Garantiegebühr für EFSF-Kredite (zweites Griechenland-Programm) um zehn Basispunkte. Außerdem wird für Hilfskredite und EFSF-Darlehen die Laufzeit um 15 Jahre verlängert, die Zinszahlungen für die EFSF-Gelder werden über einen Zeitraum von zehn Jahren gestundet. Und die Euro-Staaten verpflichten sich, Griechenland ab 2013 einen Betrag zu überweisen, der dem Anteil der nationalen Notenbank an den Gewinnen aus dem Aufkaufprogramm für griechische Anleihen der EZB entspricht.

Alle diese Vergünstigungen soll Athen jedoch nur schrittweise und unter der Voraussetzung erhalten, dass es die vereinbarten Reformmaßnahmen umsetzt. Die Euro-Gruppe sieht jetzt die Voraussetzungen erfüllt, um die nationalen Verfahren zur Freigabe der nächsten Auszahlung von insgesamt 43,7 Mrd. Euro aus dem EFSF-Programm einzuleiten und möglichst am 13. Dezember zu bewilligen. Im Dezember sollen noch 10,6 Mrd. Euro zur Haushaltsfinanzierung und 23,8 Mrd. Euro in Form von EFSF-Bonds zur Banken-Rekapitalisierung überwiesen werden. Der Rest würde in drei weiteren Tranchen im ersten Quartal 2013 gezahlt - natürlich unter der Bedingung, dass Griechenland das überarbeitete Austeritätsprogramm einhält. Schuldenrückkauf, die genannten Zugeständnisse und die Auszahlungen sollen die griechische Staatsverschuldung auf einen tragfähigen Pfad zurückbringen und eine schrittweise Rückkehr zur Finanzierung über den Markt ermöglichen.

Austeritätspolitik brutal

Das griechische Parlament hatte mit einer knappen Mehrheit von 153 Stimmen ein neues Sparprogramm über 13,5 Mrd. Euro für die nächsten Jahre gebilligt. Kurz darauf wurde der auf diesen Kürzungen basierende Haushalt für 2013 mit 176 zu 128 Stimmen beschlossen. Er gilt in Griechenland als "härtester Sparhaushalt aller Zeiten" und sieht Ausgabensenkungen in Höhe von knapp 10 Mrd. Euro vor - darunter deutliche Rentenkürzungen. Allein im kommenden Jahr sollen die Renten um 4,8 Mrd. Euro gekürzt werden. Die so genannten Reformen sehen auch Lohnkürzungen und geringere Abfindungszahlungen vor. Im Bericht der Troika heißt es deutlich: "Es (ist) notwendig, den Widerstand von Besitzstandswahrern und renditehungrigen Interessengruppen zu brechen." Mit ihren umfassenden Reformen des Arbeitsmarktes habe die griechische Regierung wesentliche Schrille zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit eingeleitet. Die durchschnittlichen Löhne fielen 2010 um 5,2% und 2011 um 3,4%; in diesem und dem kommenden Jahr sollen sie um weitere 6,8% schrumpfen.

Das Resultat gefällt den neoliberalen Ökonomen. Allerdings bleibe noch immer viel zu tun, um eine Wirtschaft zu schaffen, die weniger von den hohen Löhnen und dem Konsum ihrer Staatsbediensteten lebt - und mehr von privaten Investitionen und Exporten. Angemahnt wird deshalb eine Liberalisierung der Güter- und Dienstleistungsmärkte, besonders auf den Feldern Energie und Transport.

Das Urteil über eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist allerdings umstritten. Fakt ist: Die Wirtschaft des Landes ist durch die Kürzungsoperationen tief in eine rezessive Abwärtsspirale gerutscht. Das BIP wird nach Schätzungen der Troika im Jahr 2012 um 6% und damit im fünften Jahr schrumpfen. Für das kommende Jahr rechnet sie mit einem weiteren Rückgang um 4,2%. Erst 2014 soll es leicht aufwärtsgehen. Weil die Wirtschaft aus der Spur geraten ist, lässt sich auch die Haushaltsplanung für 2013 und 2014 nicht mehr einhalten. Die Arbeitslosenquote wird im nächsten Jahr durchschnittlich bei etwa 25% liegen und das Leistungsbilanzdefizit voraussichtlich 8,4% des BIP betragen. Der Schuldendienst sorgt zusammen mit geringen Einnahmen aus Steuern und der Privatisierung öffentlicher Unternehmen dafür, dass der griechische Staat selbst keine Investitionsaktivitäten ergreift, um die nationale Wirtschaft anzukurbeln, den Produktionsprozess wieder in Gang zu bringen und damit die Nöte auf dem Arbeitsmarkt zumindest etwas zu lindern. Die Stimmung bleibt depressiv.


Griechenlands mittelfristiges Finanzprogramm (Beträge in Mio. €)


2012

2013

2014

2015

2016

Geplante
Einsparungen
Kostenblöcke im Griechischen-Staatshaushalt
 1. Primärausgaben
 - Gehälter & Renten
 - Sozialversicherung & Gesundheit
 - Betriebsausgaben
 2. Zinsen
47.586
20.629
16.202
7.146
11.735
44.650
18.499
14.969
6.305
8.900
41.453
17.965
12.721
6.056
9.800
40.565
17.881
11.790
6.164
11.100
40.716
17.767
11.791
6.175
12.456





Einsparungseingriffe, sortiert nach Bedeutung
 1. Renten
 2. Besoldung
 3. Gesundheitsetat
 4. Verwaltungsreform
 5. Öffentliche Unternehmen
 6. Verteidigung
 7. Sozialfürsorgeausgaben
 8. Kommunalverwaltung
 9. Bildung









4.680
1.174
455
385
249
303
210
50
86
563
204
620
284
123
100
71
160
37
140
75
38
50
97
4
12
0
10
92
44
0
0
26
0
12
0
0
5.475
1.497
1.113
719
495
407
305
210
133
 Steuerliche Eingriffe
 davon Steuerreform
 Noch nicht bestimmte Eingriffe



1.783
0
0
2.024
1.127
0
103
103
1.900
-19
0
2.700
3.891
1.230
4.680
 Gesamteingriffe





18.800

Quelle: Neue Zürcher Zeitung


Soziale und politische Proteste

Nicht nur in Griechenland sind die Perspektiven der Austeritätspolitik negativ. Ausgehend von Spanien und Portugal hatten sich GewerkschafterInnen in Italien, Griechenland, Frankreich und Belgien auf gemeinsame Protestaktionen am 14. November als koordiniertem "Aktions- und Solidaritätstag" verständigt, wie es sie zuvor in Europa noch nicht gegeben hatte. Die Proteste und Generalstreiks waren Ausdruck eines breiten grenzüberschreitenden Widerstands gegen einen weiteren Umbau Europas, den der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi im Sommer dieses Jahres auf die knappe Formel gebracht hatte: "Das europäische Sozialmodell ist tot".

Die Gewerkschaften forderten den Übergang auf einen gesellschaftlichen Lösungspfad, bei dem endlich auch die Interessen der breiten Bevölkerung und nicht nur die Rettung der Eigentumstitel berücksichtigt werden. Der "Aktions- und Solidaritätstag", der auch vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) mitgetragen wurde, könnte einen Wendepunkt markieren. Denn bis dato prägte bestenfalls eine Solidarität per Presseerklärung das europäische Gewerkschaftsleben. Selbst dort, wo die Amputation des Europäischen Sozialmodells - Stichwort Rente mit 67 - von vornherein unter EU-Ägide organisiert worden war. Eine europäische Gewerkschaftspolitik gab es in den zurückliegenden fünf Jahren europäischer Krise und verschärfter Austeritätspolitik nicht. Mit einer klugen Politik der Gewerkschaften könnte dies anders werden. Die Grundlagen dafür sind am 14. November geschaffen worden:

• In Spanien und Portugal legte ein 24-stündiger Generalstreik das öffentliche Leben weitgehend lahm; nicht nur im Verkehrsbereich, bei der Post, im Bildungsbereich und Krankenhäusern, sondern auch in den industriellen Zentren, wie bei VW-Seat, Opel und Nissan in Spanien; in Portugal war es der dritte, in Spanien der zweite Generalstreik in diesem Jahr. Allein in Madrid und Barcelona sollen 2 Millionen auf den Straßen gewesen sein.

• In Griechenland wurde nach einem zweitätigen Generalstreik in der ersten Novemberwoche erneut für drei Stunden die Arbeit niedergelegt. In Belgien wurde der Bahnverkehr lahmgelegt und in Italien rief die CGIL zu vierstündigen Arbeitsniederlegungen auf; in Frankreich fanden Proteste unter der Losung "Für Beschäftigung und Solidarität - gegen Sparmaßnahmen" statt. Und in Deutschland gab es Solidaritätsaktionen u.a. in Stuttgart, Berlin, Frankfurt, Kassel und München. In Großbritannien hatten am 10. Oktober über 100.000 Menschen gegen die Politik der ToryLibs demonstriert; einen "Generalstreik" hat der TUC angekündigt.

Das war sicherlich noch nicht die Aufhebung der Fragmentierung der europäischen Gewerkschaftsbewegung, die nicht nur zwischen den Gewinnern wettbewerbskorporatistischer Regime und Schuldnerstaaten verläuft, sondern auch innerhalb der nationalen Gewerkschaftsverbände. Aber es kann der Beginn einer neuen Erzählung der europäischen Gewerkschaftsbewegung sein. Die Koordinaten haben sich verändert: Wer gegen das autoritäre Vergesellschaftungsmodell à la Fiskalpakt ist, sollte sich für ein wirtschaftsdemokratisch neu gegründetes Europa erwärmen. Dazu ist nicht zuletzt konzeptionelle Arbeit zur Neugründung eines demokratischen Europas gefordert. Wenige Tage vor dem 14. November hatten sich in Florenz Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen ausgetauscht und sich unter anderem auf einen "Alter Summit" im Juni 2013 in Athen verständigt, in den die alternativen Agenden gegen die Fiskaldiktatur des EU-Krisenregimes einfließen sollen (siehe hierzu den Beitrag von Elisabeth Gauthier in diesem Heft). Der Zeithorizont für alternative Agenden für ein demokratisches Europa ist allerdings knapp bemessen. In zwei Jahren wollen Merkel/Schäuble ihr "Neues Europa" implantiert sehen.

Der 14. November sollte der Beginn eines solidarischen Europas von Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Bewegungen sein. Die Aufgabe ist nicht leicht zu schultern: Neben der Anti-Austeritäts-Agenda geht es zentral um die Verständigung darüber, wie Beschäftigung von Nord nach Süd, West und Ost neu organisiert werden kann - kurz, wie eine neue solidarische Wirtschaftsordnung beschaffen sein muss, die einen historischen Fortschritt gegenüber der längst gescheiterten Lissabonner Wettbewerbsstrategie markiert. Eine Wirtschaftsordnung, die der arbeitslosen Jugend Zukunftsperspektiven eröffnet, indem sie darüber entscheidet, "was", "wie" und "wofür" produziert wird.

Ohne Strukturreformen und sozial-ökologische Investitionen ist ein soziales Europa nicht zu haben

Die erforderliche Debatte um das "was, wie und wofür"-Produzieren unterstellt allerdings eine komplett andere Herangehensweise an die Probleme, wie sie seitens der EU-Institutionen und der griechischen Regierung bei ihren Bemühungen um einen Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone praktiziert wird. Daher gibt es aktuell reichlich Grund zur Skepsis: Erstens sind viele ähnliche Beschlüsse in der Vergangenheit nicht schnell genug umgesetzt worden. Zweitens argumentieren Kritiker der Rettungspolitik und Ökonomen, die beabsichtigten und zum Teil bereits praktizierten "Reformen" und Sparmaßnahmen seien kontraproduktiv, weil sie das Wirtschaftswachstum in einer Phase mit schwacher Konjunktur erheblich bremsten. Und drittens wird ein Festhalten an der Umsetzung der harten Austeritätspolitik zu weiteren sozialen Verwerfungen und entsprechenden Protesten führen, der gesellschaftliche Widerstand wird zunehmen. Ein "Reform"paket, das weder von der Regierung noch von der Bevölkerung mit Überzeugung getragen wird, die hohe Arbeitslosigkeit und massive Absenkung der Lebensstandards werden für die demokratische Willensbildung mit der Zeit zu einem großen Problem.

Angesichts der Abschwächung der Globalökonomie handelt es sich zudem um eine wenig überzeugende Rettungskonzeption, bei der wachstumsfördernde Investitionen mit Sicherheit zu stark gekürzt worden sind. In dem erreichten Zustand ist das Land derzeit weder in der Lage, die von der EU angebotenen Mittel zur Strukturförderung abzurufen, noch auf konstruktive Vorschläge zur Schaffung von Arbeitsplätzen einzugehen. Das liegt nicht an den unwilligen griechischen ArbeitnehmerInnen. Im Gegenteil: Griechenland bietet unausgeschöpftes Potenzial, aber pauschale Ausgabenkürzungen tragen nicht dazu bei, dieses zu heben.

Ohne einen Mix von innergesellschaftlichen Reformen und gezielten Investitionen wird das Land nicht zu einem befriedigenden Wirtschaftswachstum zurückkehren. Zu diesen gehört ein umfangreiches Programm staatlicher Investitionen, die Teil einer langfristigen Strategie zur Förderung von Solidarität und ökologischer Nachhaltigkeit sein müssten - auf nationaler wie auf EU-Ebene. Für die Finanzierung eines solchen Programms, das für alle Länder aufgelegt werden müsste, die von der Krise am stärksten betroffen sind, könnte die Europäische Investitionsbank in großem Umfang herangezogen werden, die bereits ermächtigt ist, Schuldverschreibungen zur Finanzierung ihrer Aktivitäten herauszugeben.

Übergangsweise müssten zudem in allen europäischen Krisenstaaten private Investitionen durch ein System von staatlichen Anreizen in eine Richtung gelenkt werden, die den mittelfristig zu entwickelnden Zielen einer sozial-ökologisch modernisierten Wirtschaftsstruktur entspricht. Zu den Instrumenten der Lenkung zählen etwa Landesentwicklungspläne und Raumordnungsprogramme, die zu einem langfristigen staatlichen Infrastrukturkonzept ausgebaut werden sollen.

Die dagegen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU geplanten und von den Programmen der EU und des IWF geforderten Sparpolitiken und Austeritätsprogramme sind nicht nur wirtschaftlich kontraproduktiv. In sozialer Hinsicht sind sie zudem gefährlich, da sie die europäischen Gesellschaften in die Armut treiben und zu einer noch stärkeren gesellschaftlichen Polarisierung führen. Und sie bereiten den Nährboden für politische Spannungen und Instabilität. Der Zugewinn an Zustimmung für rechtspopulistische Optionen in vielen Ländern(3) ist hierfür ein bedrohlicher Indikator.


Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Richard Detje Redakteur von Sozialismus.


Anmerkungen

(1) Überakkumulation lässt sich mit Keynes so definieren: "Es ist nicht so, dass wir zu viele Automobile herstellen, statt mehr Rundfunkgeräte oder Flugzeuge zu produzieren, oder zu viele Landmaschinen, statt mehr Werkzeugmaschinen herzustellen. Vielmehr gibt es in allen Wirtschaftsbereichen gleichzeitig Überkapazitäten. Wie kann das sein? ... wir konsumieren zu wenig, der Anteil der Konsumausgaben am Volkseinkommen ist zu gering im Vergleich zu dem, was die Unternehmen investieren oder was sonst in die Kapitalakkumulation fließt." (J.M. Keynes, On Air. Der Weltökonom am Mikrofon der BBC. Zusammengestellt und übersetzt von Michael Hein. Hamburg 2008, S. 74)

(2) Nach Schätzungen haben die Notenbanken und Regierungen der entwickelten kapitalistischen Länder rund 4 Billionen US-$ zur Stützung der Finanzsektoren aufgewandt. Die Bilanzen der Zentralbanken sind im zurückliegenden Jahrzehnt von 3 Billionen US-$ auf 13 Bio. US-$ ausgeweitet wurden. Die Notenbanken wurden faktisch zu einer zentralen Stütze der angeschlagenen Finanzsektoren.

(3) Siehe hierzu Forschungsgruppe Europäische Integration (Hrsg.): Rechtspopulismus in der Europäischen Union, Hamburg 2012.


Zum Thema:

Joachim Bischoff: Hegemonialmacht Deutschland?
Die Spaltung Europas, Austeritätspolitik und Alltagsbewusstsein, Sozialismus 11/2012

*

Quelle:
Sozialismus Heft 12/2012, Seite 10 - 15
Redaktion Sozialismus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2013