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DILJA/005: Beispiel Ungarn - rechtskonservatives Aufbegehren gegen Finanzdiktat (SB)


Neue rechtskonservative Regierung Ungarns verweigert den Gehorsam

Harter Kurs von EU und IWF, um die eingeforderte Sparpolitik durchzusetzen


Seit dem 1. Mai 2004 ist Ungarn Mitglied in der Europäischen Union. Die ehemals dem Einflußbereich der Sowjetunion angehörende südosteuropäische Republik wurde im Zuge der bislang größten Beitrittswelle - neben Ungarn traten vor sechs Jahren auch Polen, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, die Slowakei und die Tschechische Republik sowie Zypern und Malta dem gelobten Land wirtschaftlicher und politischer Versprechen bei - in die EU aufgenommen. Das imperialistische Kern-Europa, maßgeblich dominiert von den größten EU-Staaten Deutschland und Frankreich, konnte sich die Hände reiben, da mit den Neumitgliedern eine ganze Zone Osteuropas besser denn je zuvor unter für westliche Konzerne und internationale Banken lukrative Verwertungsbedingungen gestellt werden konnte.

Schon nach wenigen Jahren zeichnete sich ab, was bei nüchterner Betrachtung, frei von Seifenblasen wie dem durch den EU-Beitritt in Aussicht gestellten Lockversprechen auf Wohlstand und Freiheit, von vornherein absehbar war: Aus den Volkswirtschaften des früheren Ostblocks waren Zulieferer- und Billigstlohnzonen für das westliche Kapital geworden mit negativen Folgen für die heimischen Industrien und Landwirtschaften und infolgedessen selbstverständlich auch für die Bevölkerungen der jungen EU-Mitgliedstaaten. Die Republik Ungarn machte da keine Ausnahme. Im gesamten, nun unter Brüsseler Vormundschaft gestellten osteuropäischen Raum nahm die soziale Polarisierung im Zuge dessen nahezu zwangsläufig zu. Mit anderen Worten: Die nationalen Eliten vermochten sich zu bereichern, während die überwiegende und anwachsende Bevölkerungsbasis zusehends verarmte. Die sogenannte soziale Schere klafft in Ungarn noch fünfmal krasser auseinander als in der Bundesrepublik Deutschland [1], die ihrerseits keineswegs für eine konsequente Umverteilungspolitik von reich zu arm bekannt ist.

Der EU-Beitritt Ungarns wurde in der Zeit der von 2002 bis 2010 regierenden Sozialdemokraten mit klar post-, also antikommunistischer Ausrichtung vollzogen. Die bisherige Regierungspartei, die "Ungarische Sozialistische Partei" (MSZP), hatte den Wahlsieger der jüngsten Parlamentswahlen vom 11. April 2010, den Vorsitzenden des rechtskonservativen "Bundes Junger Demokraten" (Fidesz), Viktor Orbán, 2002 durch ihren Wahlsieg aus dem Amt des regierenden Ministerpräsidenten gedrängt. Vier Jahre später hatten sich die Sozialisten unter Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány abermals behaupten können, obwohl sich Gyurcsány politisch diskreditiert hatte. In seiner alsbald berühmt bzw. berüchtigt gewordenen Balaton-Rede, die kurz vor dem Kommunalwahlen am 1. Oktober 2006 den Medien zugespielt worden war, hatte er die Verlogenheit der eigenen Parteipropaganda offengelegt sowie ungeschönt einer gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit gerichteten Regierungspolitik das Wort geredet [2].

Erst im April des vergangenen Jahres sah sich Ministerpräsident Gyurcsány zum Rücktritt veranlaßt, um Schlimmeres für die regierende MSZP zu verhindern. Diese hatte in den zurückliegenden Regierungsjahren ihren politischen Kredit so weitgehend verspielt, daß der Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten - auf Gyurcsány folgte der parteilose Gordon Bajna - den politischen Wandel durch eine krasse Wahlniederlage der Regierungspartei bei den Parlamentswahlen im April dieses Jahres nicht verhindern konnte. Dies lag in erster Linie darin, daß die, wenn auch ungewollt deutlichen Worte des früheren Premiers voll und ganz der tatsächlich durchgeführten Regierungspolitik entsprachen. Die ungarischen Sozialdemokraten befolgten die ihnen von EU und IWF auferlegte rigide "Spar"-Politik ohne Wenn und Aber. Unter diesen Maßgaben konnte das Haushaltsdefizit, zumindest buchungstechnisch, zwischen 2006 und 2008 von 9,3 auf 3,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gedrückt werden, so daß Ungarn die Maastricht- Kriterien so gut wie erfüllt zu haben schien.

Die inzwischen abgewählte sozialdemokratische Regierung hatte einen strikt neoliberalen Kurs verfolgt mit all den sozialen Folgen, die dies für Land und Leute haben kann und haben muß. Den anwachsenden Unmut in der Bevölkerung zu kanalisieren und für sich in einen Wahlerfolg umzumünzen, stellte für den konservativen späteren Wahlsieger, Victor Orbán, eine der leichtesten Übungen dar, wobei er wohl eher darauf zu achten hatte, die ihm zufallenden Stimmen enttäuschter Anhänger der Regierungspartei nicht an die als rechtsextrem geltende Jobbik-Bewegung zu verlieren. Als Orbán und der Fidesz nach einem überragenden Wahlerfolg im Mai die Regierung übernahmen, lösten sie ein kleines finanzielles Erdbeben aus durch die Bekanntgabe, daß die sozialdemokratische Vorgängerregierung das tatsächliche Ausmaß der Staatsverschuldung verschleiert habe.

Nach Angaben von Peter Szijjarto, dem Sprecher der neuen Regierung Orbán, befände sich Ungarn in einer "sehr ernsten" Situation. Man fände, so Szijjarto am 4. Juni 2010 [2], "ständig neue Leichen im Keller", weshalb Spekulationen über einen dem Land womöglich drohenden Staatsbankrott "keine Übertreibung" seien. Die von der Vorgängerregierung anvisierte Begrenzung des Haushaltsdefizits auf 3,8 Prozent hatte sich, der neuen Regierung zufolge, als Mogelpackung entpuppt. Frei nach dem Beispiel Griechenlands korrigierte die Regierung Orbán die vorherige Defizit-Einschätzung, so durch Lajos Kosa, den Vizepräsidenten der Fidesz-Partei, der das für 2010 zu erwartende Defizit mit 7,5 Prozent des BIP angab. Die Regierung Orbán kündigte umgehend einen Aktionsplan an zur Konsolidierung des Haushalts, der den Maßnahmen der Vorgängerregierung in puncto Sozialfeindlichkeit kaum in etwas nachstand.

Ihre Kernpunkte bestanden in der einseitig die Wohlhabenden des Landes begünstigenden Abschaffung progressiver Besteuerung. Einkommensunabhängig sollen alle Beschäftigten künftig eine 16prozentige Einkommenssteuer entrichten, während zuvor Besserverdienende 32 Prozent gegenüber einer 17prozentigen Einkommenssteuer bei Geringerverdienenden zu entrichten hatten. Die rechtskonservative Regierung Orbán verringerte zudem die Unternehmerabgaben von 19 auf 10 Prozent. So weit, so schlecht, entsprach doch bis dahin die Regierungspolitik voll und ganz dem Vorgehen in christ-, aber auch sozialdemokratisch oder liberal regierten westeuropäischen Staaten. Die Regierung Orbán beschloß auch einen Einsparungskurs im öffentlichen Dienst, wo um bis zu 15 Prozent gesenkte Gehälter einen Spareffekt von 425 Millionen Euro bewirken sollen.

Nun war Fidesz mit dem Versprechen in den Wahlkampf gezogen, die rigide Kürzungspolitik der Sozialisten rückgängig zu machen, und wer wollte, das Beispiel Griechenlands sowie die ersten Schritte der neuen Regierung vor Augen, nicht annehmen, daß in Budapest nun wie in Athen das Kürzungsdiktat von EU und IWF eins zu eins umgesetzt werden würde? Doch weit gefehlt. Es ist zwar richtig, daß die Rechtskonservativen alles andere als eine verkappte Linksregierung sind, die, würde sie die eigenen Ansprüche konsequent verfolgen, umgehend den westlichen Institutionen die Gefolgschaft aufkündigen und demgegenüber eine eigenständige, gerade auch in schwierigsten Zeit am Wohl der gesamten Bevölkerung orientierte Wirtschafts- und Sozialpolitik initiieren würde. Gleichwohl haben Fidesz und Premier Orbán eine rote Linie gezogen, die sich nicht zu überschreiten bereit sind.

Von der neuen Regierung Ungarns wurden nämlich noch weitere Kürzungs- und Sparmaßnahmen verlangt. Diesbezügliche Verhandlungen mit der EU sowie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) führten am Wochenende des 17./18. Juli zu einer kleinen Sensation. Die ungarischen Regierungsvertreter brachen die Verhandlungen kurzerhand ab, nachdem deutlich geworden war, daß ihre Gesprächspartner die Souveränität Ungarns nicht zu respektieren bereit sind. "Wir haben gesagt, daß keine weitere Sparpolitik betrieben werden kann", hatte György Matolcsy, der neue ungarische Wirtschaftsminister, am 19. Juli in einer Fernsehsendung erklärt [4]. Die Begründung aus Budapest, daß nämlich ein noch massiverer Sparkurs, als ohnehin schon betrieben, die Wirtschaftserholung in Ungarn gefährden könnte, anstatt sie zu beflügeln, ist nur zu begründet, hat sich doch in den bisherigen Krisenländern der EU, allen voran Griechenland und Irland, bereits herausgestellt, was schon der vielzitierte gesunde Menschenverstand weiß: Je weniger Geld die Menschen in der Tasche haben, umso weniger können sie ausgeben.

Aus diesem Grunde bestand die Bitte der ungarischen Regierung darin, ihr eine höhere Neuverschuldung zuzubilligen. Doch damit biß sie bei den EU- und IWF-Granden auf Granit. Diese beantworteten die Weigerung Ungarns, dem Diktat Folge zu leisten, umgehend mit härtesten Druck- und Disziplizierungsmaßnahmen. So wurde dem Land von seinen vermeintlichen Gönnern kurzerhand die nächste Tranche eines 2008 vertraglich vereinbarten, insgesamt 20 Milliarden Euro umfassenden Hilfspakets gesperrt. Ohne den Zugang zu diesen 5,5 Milliarden Euro steht nach Ansicht sogenannter Experten nun zu befürchten, daß Ungarn seine Verbindlichkeiten gar nicht mehr bedienen kann. Doch (noch) geht die Regierung Orbán nicht in die Knie. Sie hat lediglich in Aussicht gestellt, im September die Gespräche mit der EU bzw. dem IWF wiederaufzunehmen, doch dem Zwangsdiktat weiterer finanzieller Einschnürungen zulasten auch ihrer eigenen politischen Basis - den kleinen Unternehmern sowie den Landwirten ihres Landes - beugt sie sich nach wie vor nicht.

Damit stellt sich eine national-konservative Regierung Ungarns, die keine anderen politischen Positionen vertritt als ihre zahlreichen Brüder und Schwester im Geiste, sprich die konservativen christlicher wie sozialdemokratischer Prägung in den westeuropäischen Staaten, an den Pranger einer scheinbar allmächtigen EU-Administration sowie eines absolut kompromißlosen Finanzinstituts wie dem IWF, die bei der kleinsten Unbotmäßigkeit gegenüber seinen Verdikten gleich die große Keule herausholt. In der EU wird bereits laut darüber nachgedacht, an Ungarn die gerade erst verschärften Sanktionen wegen einer schlechten Haushaltsführung durchzuexerzieren. Dem Land wurde auch die Sperrung von Hilfsgeldern aus dem EU-Regionalfonds angedroht.

EU-Währungskommissar Olli Rehn drohte ganz ungeschminkt: "Wir müssen unsere Zähne schärfen." [5] Dabei geht es nicht nur um Ungarn, sondern, zumindest aus Sicht von EU und IWF, ums Prinzip, denn wenn in einem einzigen Land eine gewisse Eigenständigkeit der Regierungspolitik zugelassen wird und diese auch noch den Vorgaben dieser Institutionen zuwiderläuft, werden es sich auch alle weiteren EU-Staaten, so sie, wie längst absehbar ist, in eine vergleichbare Lage kommen oder sich in ihr längst befinden, zweimal überlegen, ob der Unterwerfungskurs gen Brüssel ihnen tatsächlich das einbringt, was sie sich von ihm versprechen (lassen). Die EU gibt kein Pardon und toleriert kein abweichendes (Regierungs-) Verhalten. So will das Handelsblatt von EU-Diplomaten folgendes vernommen haben: "Wir haben die rote Karte gezeigt. Uns wird keine Regierung mehr auf der Nase herumtanzen." [5] Deutliche Worte, die nicht nur in Kreisen betroffener Regierungen, sondern mehr noch allen Menschen in der gesamten EU die Augen zu öffnen imstande sein dürfte, so dies nicht schon längst geschehen ist.

Anmerkungen:

[1] Kapitalexpansion. Hannes Hofbauer zieht eine düstere Bilanz der EU-Osterweiterung, von Ramona Sinclair, junge Welt, S. 15

[2] Elitäre Verdrossenheit. Extreme Rechte und Rechtsextreme dürften bei den ungarischen Parlamentswahlen die Plätze eins und zwei belegen, von Werner Pirker, junge Welt, S. 3

[3] Roßkur in Ungarn. Krisenprogramm: Rechtsregierung setzt neoliberale Politik des Vorgängerregimes fort, von Tomasz Konicz, junge Welt, 12.06.2010, S. 9

[4] Ungarn trotzt Diktat, von Arnold Schölzel, junge Welt, S. 1

[5] IWF und EU verstärken Druck auf Ungarn, von Markus Salzmann World Socialist Web Site, 27.07.2010

28. Juli 2010