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DILJA/015: Zukunftsvision Europas nimmt in Griechenland Gestalt an - Ein Land im Kriegszustand (SB)


Athener Regierung durch Massenproteste und Generalstreik in Frage gestellt


Es wird Ernst. In Griechenland, das in der europäischen Presse stereotyp mit Vokabeln wie "krisengeschüttelt" oder "hochverschuldet" versehen wird gerade so, als wäre die Situation im Lande eine spezifisch griechische, kann derzeit niemand voraussagen, wie es um die Fähigkeit der Regierung von Ministerpräsident Giorgos Papandreou von der sozialistischen PASOK, ihren elemantarsten Aufgaben nachzukommen, am Ende dieser Woche aussehen wird. Nachdem die beiden größten Gewerkschaften Griechenlands zu einem zweitägigen Generalstreik aufgerufen haben, dessen Höhepunkt auf die für Donnerstag anberaumte Parlamentsentscheidung über einen weiteren, massiven Sozialabbau im öffentlichen Dienst anberaumt wurde, ist das öffentliche Leben im ganzen Land weitgehend zum Erliegen gebracht worden.

Schon am heutigen Mittwoch kam es zu den größten Protestveranstaltungen seit Beginn einer Entwicklung, die als "Finanzkrise" einen zumindest für außergriechische Beobachter noch gangbaren Namen bekommen hat, so als ob ein solches Etikett die Gewähr dafür böte, daß es eine, wenn auch schmerzhafte Lösung des Problems gäbe oder zumindest geben könnte und daß die verfügbaren analytischen Mittel allemal geeignet wären, Ursachen und Wirkungen, Wirkungen und Ursachen verläßlich zu diagnostizieren sowie den weiteren Ablauf zu prognostizieren. Nach Polizeiangaben beteiligten sich über 125.000 Menschen an Kundgebungen in Athen, Thessaloniki, Patras und Heraklion. Ihre Proteste richten sich gegen die feindseligen Maßnahmen sowie den bevorstehenden zusätzlichen Sozialabbau ihrer eigenen Regierung, die als "Sparpolitik" zu bezeichnen angesichts der desaströsen finanziellen Lage der griechischen Bürger und Bürgerinnen einem Euphemismus gleichkommt [1].

Von den finanziellen Nöten der in Griechenland lebenden Menschen ist in der westlichen Presse so gut wie nichts, vom drohenden oder auch nur angeblich drohenden Staatsbankrott des Landes jedoch sehr viel zu vernehmen. Die griechische Regierung, seit Krisenbeginn gewillt, die Bedingungen der Kreditgeber zu erfüllen, koste es, was es wolle, hat de facto jeglichen Handlungsspielraum längst eingebüßt. Ihr politisches Überleben und damit die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung als unabwendbarer Garant für die Fortsetzung einer tatsächlich fernab von Athen bestimmten Zwangsadministration hängt heute mehr denn je vom Wohlwollen der sogenannten Troika ab, wie kurzerhand die "Experten" aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) genannt werden, deren Bericht bzw. Urteil maßgeblich ist für die Entscheidung, ob an den griechischen Staat die nächste Tranche des 2010 verabschiedeten, 110 Milliarden Euro umfassenden "Hilfs-"Pakets ausgezahlt wird oder eben nicht.

Die sogenannten "Spar"-Beschlüsse, die die gegenwärtigen Massenproteste sowie den zweitägigen Generalstreik des ganzen Landes unmittelbar ausgelöst haben, stellen die unverhandelbaren Bedingungen dar, die die griechische Regierung respektive das Parlament zu erfüllen haben, wollen sie nicht binnen kürzester Zeit einen tatsächlichen Staatsbankrott mit unabsehbaren und unkalkulierbaren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen erleben. Beschwörend suchte Ministerpräsidenten Papandreou bereits am Dienstag auf seine Landsleute einzuwirken, um sie wenn schon nicht von Protesten, so doch von noch massiveren Gegenaktionen abzuhalten. Er warnte die Streikenden vor einer "Zersetzung" des Landes und erklärte wörtlich [2]:

Wir müssen durchhalten in diesem Krieg als Volk, als Regierung, als parlamentarische Gruppe, für das Land, um ihn zu gewinnen.

Damit hat der griechische Ministerpräsident das Wort "Krieg" in den Mund genommen. Angesichts der faktischen Zwangslage, in der sich seine Regierung befindet, und der daraus ableitbaren Schlußfolgerung, daß die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung, wenn seitens der Regierung der soziale Frieden durch die sogenannten Kürzungsbeschlüsse und Sparmaßnahmen aufkündigt wird bzw. aufgekündigt werden muß, ab einer bestimmten Schwelle, wenn überhaupt, nur noch mit Gewalt gewährleistet werden kann, ist diese Begriffswahl sehr wohl nachvollziehbar. Papandreous Worte kommen dem klammheimlichen Eingeständnis gleich, mit dem Rücken an der Wand zu stehen, hat der Ministerpräsident doch seiner eigenen Bevölkerung und sogar dem staatlichen Apparat in seiner vollen Breite und Tiefe nichts anderes zu bieten als die verhaltene und doch unmißverständliche Drohung mit Krieg.

Der soziale Frieden, der ein Minimum an Gewährleistung keineswegs eines materiellen Wohlstands, sondern einer gewissen Überlebenssicherheit nicht unbedingt für die gesamte Bevölkerung, so doch für einen Bodensatz der abhängig Beschäftigten - nicht unwesentlich auch des öffentlichen Dienstes - voraussetzt, droht endgültig zu implodieren, sollten, wie zu erwarten steht, am Donnerstag die von der Troika verlangten neuen Gesetze vom Parlament durchgewunken werden. Mit der gesetzlichen Aufkündigung der vor über 100 Jahren erkämpften Unkündbarkeit der Staatsbediensteten soll die schrittweise Entlassung von rund 30.000 Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes ermöglicht werden. Neue Steuern, die wie alle vorherigen Regelungen die Bezieher niedriger Einkommen belasten, sollen ebenso erhoben wie die Bezüge im öffentlichen Dienst um weitere 20 Prozent gesenkt werden.

Mit den Worten: "Wir werden für das Land siegen, wir werden durchhalten" [2] suchte Papandreou die Stillhalte-Bereitschaft der Betroffenen anzusprechen und zu aktivieren, ohne ihnen in irgendeiner Weise konkrete Angebote machen zu können. Wer von einem Krieg spricht, sollte erklären können, wer denn eigentlich der Gegner ist, gegen den Griechenland - "als Volk, als Regierung, als parlamentarische Gruppe", mit derlei Durchhalteparolen gestählt - nach Ansicht des Ministerpräsidenten zu Felde ziehen soll. Bereits am heutigen Mittwoch kam es in Athen zu ersten Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten, nachdem sich rund 70.000 Menschen in vier Kolonnen auf den Weg zum Parlament, wo am Abend in erster Lesung über das neue Spargesetz beraten wird, gemacht hatten. Die Polizei setzte Tränengas ein und sperrte - aus Angst vor Ausschreitungen, wie es hieß - die zwei U-Bahn-Stationen, die am zentralsten am Syntagma-Platz vor dem Parlament gelegen sind.

Im Parlament verfügt Papandreou lediglich über eine minimale Mehrheit (154 von 300 Sitzen). Ob diese ausreichen wird, um am morgigen Donnerstag die parlamentarischen Voraussetzungen für die Befolgung des Finanzdiktats seitens der Troika aus EU, EZB und IWF zu erfüllen, steht durchaus in Frage, zumal ein PASOK-Abgeordneter erst am Montag sein Mandat niederlegte, weil er nicht länger bereit war, diese Politik mitzutragen. Möglicherweise ist die parlamentarische Bühne jedoch keineswegs so entscheidend über die weitere Zukunft Griechenlands, da die dem Land zugedachten Verschärfungen ohnehin alternativlos sind unter den gegebenen Voraussetzungen.

Um die (konservative) Opposition mit in sein Boot zu holen, schlug Papandreou dem Chef der Oppositionspartei Nea Dimokratia (ND), Antonis Samaras, schon einmal vor, doch gemeinsam zum bevorstehenden EU-Gipfel zu reisen, was dieser ablehnte. In Athen macht bereits das Wort von einer "Regierung der nationalen Einheit" die Runde, was Ängste vor einer Machtübernahme durch das Militär oder die Einsetzung des Militärs durch ein solches Bündnis zu schüren imstande ist. Weder die Regierung noch die Experten der Troika können jedoch prognostizieren, ob in einem solchen Fall die Armee bereit wäre, gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen, um die landesweiten Proteste zu beenden und die massenhaften Streiks zu brechen.

Das Desinteresse, das die meisten Menschen in den übrigen EU-Staaten der bereits heute extrem eskalierten Situation in Griechenland entgegenbringen, so als glaubten sie tatsächlich, die "faulen" Griechen würden ihnen die Butter vom Brot nehmen, steht in einem markanten Mißverhältnis zu der tiefen Verwobenheit der angeblich griechischen Krise mit einer Politik der EU, die generell und die Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten ignorierend der Vorteilswahrung ihrer politischen wie sonstigen Eliten geschuldet ist und in Zeiten anwachsender Not mehr denn je deren Bereitschaft offenbart, diese zu Lasten der überwiegenden Mehrheiten mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln rigoros durchzusetzen - wobei selbstverständlich die letzten Worte dieser Auseinandersetzungen weder in Griechenland noch in einem anderen EU-Staat bereits gesprochen sein können.



Anmerkungen

[1] Siehe auch im Schattenblick -> INFOPOOL -> EUROPOOL -> MEINUNGEN:
DILJA/013: Griechenlandkrise - Aufstandsbekämpfung durch paramilitärische EU-Kräfte? (SB)
DILJA/014: Paramilitärs in der Europäischen Union - ein Anachronismus mit Zukunft (SB)

[2] Hellenen im Generalstreik. Papandreou sieht Griechenland im "Kriegszustand". Süddeutsche Zeitung, 19.10.2011,
http://www.sueddeutsche.de/politik/hellenen-im-generalstreik-papandreou-sieht-griechenland-im-kriegszustand-1.1168314

19. Oktober 2011