Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → MEINUNGEN

DILJA/033: Griechenland kämpft (SB)


Gesundheitssystem entsorgt

Zukunftslabor Griechenland offenbart Grausamkeit der EU



Keine zehn Jahre ist es her, da war "die Welt" zu Gast in Griechenland, wurden doch im Jahre 2004 unter nicht unerheblichen finanziellen Belastungen des heute fast für bankrott erklärten Staates die Olympischen Sommerspiele ausgetragen. Wer die heutigen Lebensverhältnisse in dem südeuropäischen EU- und NATO-Staat kennt, wer die an die Armutszonen sogenannter Drittweltländer gemahnenden Bilder aus den Straßen Athens mit denen der noch vor einer Dekade blühenden mediterranen Metropole vergleicht, wird nicht umhinkommen festzustellen, daß die wenigsten Menschen während der Olympiade 2004 Prophezeiungen über die inzwischen eingetretene Entwicklung des Landes geglaubt hätten. Der sogenannte Einigungsprozeß der Europäischen Union befand sich in vollem Gange, mehr und mehr osteuropäische Staaten stießen hinzu und wurden Mitglieder einer supranationalen Entität, deren Verheißungen in einem umgekehrten Verhältnis zu den tatsächlichen Sicherungs- und Wohlstandsleistungen standen, derer die Bevölkerungen ihrer Neumitglieder teilhaftig wurden.

Griechenland, ein relativ kleines, traditionsreiches europäisches Land, gilt nicht nur als Wiege der olympischen Idee, sondern auch als Mutter der Demokratie schlechthin. Ungeachtet der Tatsache, in der europäischen Nachkriegsordnung fest in das US-geführte westliche Bündnis integriert zu sein, hat sich Griechenland eine gewisse Eigenständigkeit in außenpolitischen Belangen bewahrt. In der griechischen Bevölkerung weist eine historisch gewachsene Widerständigkeit gegen Okkupation und Militärdiktatur eine tiefe Verankerung auf. Die Bereitschaft, sich gegen gewaltsame Besatzer wie das faschistische Deutschland oder die spätere Obristen-Junta aufzulehnen, konnte zu keinem Zeitpunkt vollständig gebrochen werden, und so können die heutigen massiven Proteste gegen die dem Land durch die EU-Troika aufgezwungene Verelendungspolitik niemanden überraschen.

Innerhalb weniger Jahre ist das Land auf dem Niveau eines Dritte-Welt- Staates angekommen, ohne daß dies im offiziellen Europa zu einer Zäsur der offensichtlich kontraproduktiven Politik gegenüber Athen geführt hätte. Im Gegenteil: Je größer die Not, umso vehementer die Anschuldigungen und Bezichtigungen gegen Volk und Regierung. Griechenland erfülle die Sparziele und Auflagen der Troika nicht, es habe über seine Verhältnisse gelebt und stehe nun vor den Konsequenzen, die Griechen seien zu faul und wollten nicht arbeiten, lautet die stereotyp wiedergekäute Litanei einschlägiger Medien, die der offiziellen Brüsseler Politik, an Griechenland ein Exempel zu statuieren und das Land in ein Armutsprotektorat überzuführen, das als abschreckendes Beispiel auf die gesamte EU einwirken soll, zuarbeiten.

Die Europäische Union, genauer gesagt die durch die aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds gebildete Troika bzw. die in repräsentierten internationalen Eliten, offenbaren dabei eine Grausamkeit und Menschenverachtung, die bei konsequenter und schonungsloser Berichterstattung über das tatsächliche Ausmaß einen medialen Aufschrei hervorrufen müßten, wären die von den zentraleuropäischen Institutionen vorgehaltenen Behauptungen und Versprechungen je ernstgemeint gewesen. In Griechenland hat mit dem Zusammenbrechen des Gesundheitssystems ein Sterben eingesetzt, das den Zorn weiter Teile der Bevölkerung, so dies denn überhaupt noch möglich ist, noch weiter entfacht haben mag. Längst geht es für viele Menschen nicht mehr allein darum, daß sie sich einschränken und mit widrigsten Lebensumständen, ohne ausreichende Nahrung, ohne Strom und in schwierigsten Wohnverhältnissen, irgendwie klarkommen müssen.

In der vergangenen Woche haben sich die Troika-Emissäre mit griechischen Regierungsvertretern auf ein weiteres Kürzungspaket geeinigt, demzufolge Löhne und Renten abermals gesenkt und durch Massenentlassungen im Gesundheitsbereich zwei Milliarden Euro eingespart werden sollen. In den öffentlichen Krankenhäusern sollen zehn Prozent der Beschäftigen, inklusive des ärztlichen Personals, entlassen werden, wodurch das ohnehin nur noch höchst eingeschränkt leistungsfähige Gesundheitssystem vollends zusammenzubrechen droht. Griechenland stirbt, denn schon heute können viele medizinische Behandlungen nicht durchgeführt werden wegen der das gesamte System betreffenden Versorgungsengpässe. Wieviele Kranke schon sterben mußten oder unbehandelt ihrem Schicksal entgegengehen, entzieht sich genauerer Kenntnis. Viele arme, alte und chronisch kranke Menschen können die für sie lebensnotwendigen Behandlungen und Medikamente nicht bezahlen, wozu sie gezwungen sind, da Ärzte und Apotheker aufgrund der ihnen seitens der Krankenkassen nicht ausgezahlten Vergütungen von den Patienten Vorkasse verlangen.

Die Haltung Brüssels, der Athener Regierung immer wieder Unterstützungsgelder in Aussicht zu stellen und die Tranchen gleichwohl nicht auszubezahlen, schlägt hier unmittelbar auf die Lebensverhältnisse der griechischen Bevölkerung durch. Der größten Krankenkasse des Landes fehlen im laufenden Haushalt 1,5 Milliarden Euro, die EU hält seit Juni die zuvor zugesagte Tranche in Höhe von 31,5 Milliarden Euro zurück. In den bevorstehenden Wintermonaten wird sich die gesundheitliche und allgemein katastrophale Lage eines Großteils der griechischen Bevölkerung vorhersagbar noch weiter zuspitzen, da eine schlechte Ernährungslage unter unzureichenden Wohn- und Beheizungsverhältnissen mit der mangelnden Gesundheitsversorgung eine unheilige, das Leben und die Gesundheit sehr vieler Menschen gefährdende Allianz eingehen wird.

Die Widerstandskraft und -tradition des Landes ist allerdings auch angesichts dieses Frontalangriffs nicht gebrochen. Gerade auch im Gesundheitsbereich greifen die Betroffenen zu Selbsthilfe, Protest und Widerstand gleichermaßen. Es entstehen Netzwerke solidarischer medizinischer Hilfen. Ärzte und Ärztinnen, Pfleger und Krankenschwestern leisten freiwillige unbezahlte Überstunden in selbstorganisierten Gesundheitszentren, um den vielen nicht mehr versicherten Landsleuten, die vom offiziellen System zum Sterben auf die Straßen geschickt werden, auch in schwersten Krankheitsfällen beizustehen. Den Klinikleitungen ist oft nicht recht, was da in ihren Häusern unterhalb der Schwelle des administrativen Zugriffs geschieht, doch sie wagen es nicht, mit noch rigoroseren Mitteln dagegen vorzugehen.

In den Stadtteilen der Großstädte entstehen Komitees, in denen sich die Arbeitslosen organisieren und mit vereinten, solidarischen Kräften versuchen, die oftmals für einzelne kaum zu bewältigenden Probleme in Angriff zu nehmen. Die New York Times zitierte in der vergangenen Woche einen griechischen Mediziner, der klargestellt hatte, daß Arbeitslosigkeit in Griechenland den Tod bedeute, weil Arbeitslose nach einem Jahr nicht mehr die geringste staatliche Unterstützung oder Sozialhilfe erhalten und auch nicht mehr krankenversichert sind. All dies ist sattsam bekannt und kann auch in den Schaltzentralen neoliberaler europäischer Zukunftsgestaltung kein Geheimnis sein. Auf leisen Sohlen sucht die Troika ihre Konzepte durchzusetzen. In Griechenland allerdings steht sie einer Bevölkerung gegenüber, die sich nicht zum ersten Mal einem solch massiven Angriff auf Leben und Freiheit ausgesetzt sieht und mehr und mehr ihre Gegenwehr zu organisieren beginnt.


29. Oktober 2012