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STANDPUNKT/015: EU-Exit (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

EU-Exit

Von Riccardo Petrella, 30. April 2016


Nach vielen Jahren der, wenn auch kritischen, Akzeptanz der absoluten Herrschaft der Logik der Finanzmärkte, die das gesamte System des "Rechts- und Sozialstaates" in Europa auf den Kopf gestellt und zerstört haben, ist es nunmehr unzureichend, lediglich bei der Suche nach Sündenböcken zu verweilen, auch wenn es viele gibt, die es verdient hätten, als solche exponiert zu werden.

Die Weigerung des House of Commons des Vereinigten Königreiches an diesem 25. April, 3.000 syrische Kinder aufzunehmen, die verwaist oder auf der Flucht von ihren Eltern getrennt in den Flüchtlingslagern Europas gestrandet und von Mauern, Stacheldraht und Grenzzäunen eingesperrt sind, die erneut von fast allen Mitgliedsstaaten der EU (von Ungarn bis Österreich, von Frankreich bis Slowenien, vom Vereinigten Königreich bis Polen, ohne Dänemark, die Niederlande und Italien zu vergessen) errichtet wurden, zeigt, dass dieses Europa nicht nur vom Vereinigten Königreich (Brexit) oder Österreich oder Ungarn befreit werden muss ... sondern vor allem von der EU und dem System, das sie geschaffen und allen Europäern aufoktroyiert hat.

Wir wollen ausdrücklich ein geeintes Europa, ein Europa geeint im Namen von Demokratie, Gerechtigkeit, Würde und Freiheit.

Mit dem gleichen Nachdruck weisen wir ein Europa der Nationalisten, der nationalen (First Britain) oder regionalen (First Veneto) Souveränität, ein fremdenfeindliches und rassistisches Europa à la Hofer und Salvini entschieden zurück. Und mit demselben, wenn nicht noch heftigerem Nachdruck weisen wir ein Europa der Ungleichheit, der sozialen Ausgrenzung, der antidemokratischen Technokratie und des gegen Mensch und Natur gerichteten Raubtierkapitalismus zurück. Wir wollen kein Europa der Austerität, das Zwiespalt zwischen den europäischen Völker sät und Kriege zwischen den Armen schafft, während es die Reichen weiter bereichert. Wir wollen diese EU nicht, die spaltet, die teilt und die die bestraft, die nicht gehorchen und sich dem Diktat der Troika beugen. Millionen von europäischen Bürgern haben nicht jahrzehntelang gekämpft, um der Troika Macht zu verschaffen, sondern einem Parlament von gewählten europäischen Volksvertretern.

Wir wollen keine EU, die sich einem militärischen Plan und einer von Waffengewalt geprägten und von den USA und der NATO vorgegebenen Außenpolitik beugt.

Und schließlich wollen wir auch keine EU, die die repräsentative und direkte Demokratie verrät, die die Rechte und Würde der Arbeit verzerrt, die Kontrolle und Verantwortung für öffentliche Güter und Dienstleistungen den Behörden und öffentlichen Institutionen entzieht und sie stattdessen an private Subjekte übergibt und sie somit zum Spielball von Vermarktung, Privatisierung, Konkurrenzdenken, Kommerzialisierung und finanziellem Materialismus macht.

Im Namen der Effizienz (das Mantra des "Efficient Europe") hat die EU die fundamentalen Werte von Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit und Brüderlichkeit der europäischen Gesellschaften ermordet.

Ich denke, es ist richtig und weise, dass die EU aus der zukünftigen Geschichte Europas verschwindet. Es liegt nun an den Bürgern, an den Organisationen der zivilen Gesellschaft und an den gewählten Vertretern im Europäischen Parlament, die EU Richtung Ausgang zu dirigieren und eine neue verfassungsgebende europäische Phase einzuleiten.


Übersetzung aus dem Italienischen von Evelyn Rottengatter


Über den Autor

Riccardo Petrella, geboren 1941 in La Spezia (Italien), ist Politologe, Soziologe und Menschenrechtsaktivist. Er ist Doktor der Politikwissenschaften der Universität Florenz und Ehrendoktor der Universitäten Umea (Schweden), Roskilde (Dänemark), KUB (Belgien), Polytechnische Fakultät von Mons (Belgien), Montréal, Quebec (Kanada), Institut Polytechnique de Grenoble (Frankreich), Università Nazionale di Rosario (Argentinien) und der Universität Corsica (Frankreich). Seine aktuelle Position ist emeritierter Professor der Université catholique de Louvain (Belgien), Präsident des Europäischen Instituts für Recherchen zur Wasserpolitik (IERPE) in Brüssel und Präsident der "Università del Bene Comune" (UBC), einer gemeinnützigen Vereinigung mit Sitz in Anversa (Belgien) und Sezano, Verona (Italien). Petrella ist Autor zahlreicher Bücher und Publikationen (eines seiner bedeutendsten Werke ist "Wasser für alle: ein globales Manifest", 2001) und engagiert sich unter anderem im Rahmen der Kampagne "Banning Poverty 2018".


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2016

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