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STANDPUNKT/072: Deutsch-Europa (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 3. Juli 2019
german-foreign-policy.com

Deutsch-Europa


BERLIN/BRÜSSEL - Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen soll das Amt der EU-Kommissionspräsidentin übernehmen. Dies haben die EU-Staats- und Regierungschefs am gestrigen Dienstag nach erbitterten Machtkämpfen beschlossen. Damit geht der wohl einflussreichste Posten in der Brüsseler Bürokratie an eine deutsche Politikerin. Kurz zuvor hatten auch hochrangige Politiker aus anderen EU-Staaten noch geurteilt, "bei der Stärke", die Deutschland in der EU habe, sei eine Deutsche an der Spitze der Kommission für viele nur "schwer zu vermitteln". In der Tat wird nicht nur die EU-Politik in zunehmendem Maß von Berlin geprägt. Auch Führungsposten in den EU-Behörden sind immer häufiger in deutscher Hand, vor allem auf dem Feld der Finanzen, aber auch im Europaparlament - insbesondere dort, wo die gesetzgeberische Arbeit koordiniert wird - sowie in der Außenpolitik. Ein bekannter französischer EU-Experte urteilt, Deutschland bleibe nicht zuletzt deshalb "europäisch" orientiert, "weil es ein 'deutsches Europa' geformt hat, das einzig deutschen Interessen dient".

"Deutschlands Stärke in der EU"

Noch am gestrigen Dienstag hatten einflussreiche Politiker zunächst bezweifelt, dass man die EU-Staats- und Regierungschefs veranlassen könne, Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zu ihrer Kandidatin für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin zu wählen. Schon zuvor hatte es mit Bezug auf den Spitzenkandidaten der EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU), geheißen, der Widerstand gegen seine Ernennung zum Kommissionspräsidenten liege gar nicht so sehr in seiner Person oder in seiner mangelnden Regierungserfahrung begründet, was öffentlich vorgeschoben werde, sondern vielmehr darin, dass die Bundesrepublik bereits viele einflussreiche Posten in den EU-Führungsgremien innehabe. Unter Bezug auf die Stimmung in diversen EU-Ländern hatte ein einflussreiches Online-Magazin gewarnt, "andere" Staats- und Regierungschefs würden "dem eigenen Volk nicht mehr lange erklären können", dass "jetzt mal endlich ein Deutscher als EU-Kommissions-Chef oder EZB-Chef dran" sei: Dann könne man die EU ja auch "gleich Deutsch-Europa" nennen.[1] Gestern wurde sogar ein Minister eines EU-Landes mit der Einschätzung zitiert, es sei mit ernsthaftem Widerstand gegen von der Leyen zu rechnen: "Bei der Stärke, die Deutschland in der EU hat, ist ein Deutscher als Kommissionschef für viele schwer vorstellbar."[2]

Politisch dominant

Die deutsche Macht in der EU drückt sich längst nicht mehr nur in der politischen Durchsetzung deutscher Interessen innerhalb der Union aus. Ein zentrales Beispiel dafür ist nach wie vor die strikte Austeritätspolitik, auf die Berlin Brüssel festgelegt hat und die es bis heute aufrechterhält - gegen hartnäckigen Widerstand anderer EU-Staaten, etwa Italiens.[3] Weitere Beispiele bietet die erfolgreiche Abwehr aller größeren Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, die den Plänen Berlins widersprechen: von der Einrichtung eines voluminösen Haushalts für die Eurozone inklusive eines Euro-Finanzministers, um die Ungleichheiten innerhalb der EU-Währungszone ein wenig abfedern zu können, über die Digitalsteuer, die Frankreich jetzt auf nationaler Ebene realisiert, bis hin zur Pariser Variante einer schnellen Militarisierung der EU, die Berlin zugunsten einer langsameren, dafür aber umfassenderen Militarisierung sabotiert (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Zuletzt hat Berlin das EU-Freihandelsabkommen mit dem Mercosur gegen die Interessen der französischen Landwirte durchgesetzt.[5] Noch stellt Paris sich quer; es "ist derzeit nicht bereit, das Abkommen zu ratifizieren", teilt eine Regierungssprecherin mit.[6] Berlin arbeitet freilich daran, auch diesen Widerstand zu überwinden.

Personell führend präsent

Längst dominiert Deutschland allerdings auch personell in den Führungsetagen der wichtigsten Gremien und Institutionen der EU beziehungsweise Europas. Dies gilt etwa für das weite Feld der Finanzen. Der zur Krisenbekämpfung wichtige Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) etwa wird seit seiner Gründung von Klaus Regling geleitet, der einst im Bundesfinanzministerium an der Ausarbeitung des Bonner Entwurfs für den "Stabilitäts- und Wachstumspakt" der EU beteiligt war. Elke König, eine ehemalige Präsidentin der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), wirkt seit der Gründung des Einheitlichen Bankenabwicklungsgremiums (SRB) zum 1. Januar 2015 als dessen Vorsitzende. Der einstige CDU-Europaabgeordnete Klaus-Heiner Lehne amtiert als Präsident des Europäischen Rechnungshofs, während der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt Werner Hoyer (FDP) seit Anfang 2012 als Präsident der Europäischen Investitionsbank (EIB) tätig ist.[7] Im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB) stellte Deutschland von 1998 bis 2011 den einflussreichen Chefvolkswirt. Dabei ist die EZB ohnehin nach dem Modell der Deutschen Bundesbank aufgebaut und in der Bankenmetropole Frankfurt am Main angesiedelt worden; ihre strikte Unabhängigkeit entspricht deutschen Vorstellungen.

Schlüsselpositionen

In herausragenden Positionen vertreten ist die Bundesrepublik zudem in der Außenpolitik und im Europäischen Parlament. Als dessen Generalsekretär amtiert bereits seit 2009 mit Klaus Welle ein ehemaliger CDU-Europapolitiker; Welles Kabinettschefin Susanne Altenberg kommt ebenso aus Deutschland wie ihr langjähriger Vorgänger Christian Mangold, der seit Jahresbeginn die Generaldirektion Kommunikation des Parlaments leitet. In der einflussreichsten Generaldirektion des Parlaments, derjenigen, die die gesetzgeberischen Arbeiten koordiniert, haben Deutsche laut Recherchen des französischen EU-Experten Jean Quatremer zwei Drittel der Direktorenposten sowie drei Fünftel der Abteilungsleiterstellen inne.[8] Hinzu kommen Schlüsselpositionen in der Außenpolitik. Helga Schmid, die zur Amtszeit von Außenminister Josef Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) führende Stellungen im Auswärtigen Amt innehatte, amtiert seit September 2016 als Generalsekretärin des Europäischen Auswärtigen Diensts; sie ist regelmäßig mit den wichtigsten Dossiers befasst, etwa um den Jahreswechsel 2013/2014 mit den Majdan-Protesten, außerdem mit dem Iran-Konflikt, in dem sie aktuell wieder verhandelt. Leiterin des Verhandlungsteams des EU-Brexit-Unterhändlers Michel Barnier ist die Deutsche Sabine Weyand, die ihre Karriere in der Brüsseler EU-Bürokratie machte. Als einer der einflussreichsten Deutschen in Brüssel gilt Martin Selmayr. Der ehemalige Kabinettschef von Kommissionspräsident Juncker, der als eigentlicher Strippenzieher in der Kommission galt (german-foreign-policy.com berichtete [9]), ist nach einem hochumstrittenen Verfahren am 1. März 2018 zum Generalsekretär der EU-Kommission ernannt worden.

"Das Parlament wird eingekauft"

Erhält nun auch noch von der Leyen das Amt der Kommissionspräsidentin, dann verfestigt sich der deutsche Zugriff auf die EU und ihre Bürokratien noch mehr. Zwar dauerten am gestrigen Abend die Proteste im Europaparlament an, das konsequent darauf beharrt, einen Spitzenkandidaten seiner Fraktionen zum Kommissionspräsidenten zu wählen. Der langjährige Präsident des Parlaments, Martin Schulz (SPD), geht allerdings nicht davon aus, dass sich das Europaparlament dem Vorschlag der EU-Staats- und Regierungschefs tatsächlich konsequent widersetzt. Schulz berichtet: "Es gibt Bestrebungen, das Parlament einzukaufen".[10]

Die neue deutsche Frage

EU-Experte Quatremer urteilt, die "extrem enge Vernetzung" deutscher EU-Bürokraten und -Politiker erkläre nicht nur, "weshalb die europäischen Institutionen nie Deutschland kritisieren" - auch nicht etwa wegen seines exzessiven Handelsüberschusses, das seit vielen Jahren offen gegen die EU-Normen verstößt (german-foreign-policy.com berichtete [11]). Man müsse darüber hinaus konstatieren, dass Deutschland auch deshalb "europäisch" bleibe, "weil es ein 'deutsches Europa' geformt hat, das einzig deutschen Interessen dient". Quatremer, der vor allem für die linksliberale Tageszeitung Libération schreibt, stellte schon vor zwei Wochen fest: "Die Schlacht um die europäischen Ämter wirft ein Schlaglicht auf diese neue deutsche Frage."[12]


Anmerkungen:

[1] Thomas Fricke: Warum nennen wir die EU nicht gleich Deutsch-Europa? spiegel.de 28.06.2019.

[2] Die Option von der Leyen. spiegel.de 02.07.2019.

[3] S. dazu Die doppelten Haushaltsstandards der EU.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7960/

[4] S. dazu Vor neuen Konfrontationen.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7920/

[5] S. dazu Freihandel mit Folgen.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7982/

[6] Paris sperrt sich gegen Abkommen. tagesschau.de 02.07.2019.

[7] S. dazu Eine nie dagewesene Machtkonzentration.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7126/

[8] Jean Quatremer: La nouvelle question allemande.
bruxelles.blogs.liberation.fr 21.06.2019.

[9] S. dazu Der Blitzaufstieg des Generalsekretärs.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7561/

[10] Der Tagesspiegel: Schulz rechnet mit Von der Leyen-Durchmarsch. presseportal.de 02.07.2019.

[11] S. dazu Die doppelten Haushaltsstandards der EU.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7960/

[12] Jean Quatremer: La nouvelle question allemande.
bruxelles.blogs.liberation.fr 21.06.2019.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2019

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