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STANDPUNKT/080: Zwei Paar Schuhe - Der Zusammenhang von Entwicklung und Migration (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2019

Zwei Paar Schuhe
Der Zusammenhang von Entwicklung und Migration

Von Marcel Rauer


Obwohl Migrations- und Fluchtbewegungen für Afrika seit vielen Jahren Alltag sind, begann die europäische Diskussion diesbezüglich erst im Jahr 2015 richtig, als eine hohe Zahl an Migrant/innen nach Europa gelangten. Seither sind die Themen Migration und Zuwanderung bei uns medial omnipräsent. Dabei beträgt der Anteil der Menschen, die in Afrika geboren wurden, an der Gesamtbevölkerung in der EU nicht einmal 1 % und die meisten leben zudem in den Ländern mit ausgeprägter kolonialer Vergangenheit, in Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Belgien und Portugal, wie das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ermittelt hat. Die geringe Anzahl an afrikastämmigen Menschen in der EU rechtfertigt insofern nicht den teils emotional hoch aufgeladenen Diskurs. Dieser steht im Gegenteil einer differenzierten Debatte, die Migration als multidimensionale Herausforderung und Teil einer Lösung versteht, im Wege.

Auch wenn die Zahl derer, die nach Europa migrieren, seit 2015 drastisch zurückgegangen ist, bleibt Migration ein zentrales politisches Thema auf dem gesamten Kontinent. Europa hat sich von einer »Krisenreaktion« wegbewegt und sich auf die Rückführung von Migranten ohne Aufenthaltsrecht in ihre Herkunfts- oder Transitländer konzentriert. Die derzeitigen migrationspolitischen Ansätze Europas im Hinblick auf den afrikanischen Kontinent basieren überwiegend auf einer Abschottungsstrategie, die von kurzfristigen innenpolitischen Motiven geprägt ist.

Tendenziell sind es die besser Gebildeten, die sich dazu entschließen abzuwandern und dies auch organisieren können. Je höher der Bildungsstand, desto höher die Wahrscheinlichkeit, sich woanders erfolgreich ein neues Leben aufbauen zu können. Nur indirekt und langfristig hat z. B. Bildung einen migrationsdämpfenden Effekt: Insbesondere ist Bildung der wichtigste Faktor für sinkende Geburtenraten. Der gleiche Zusammenhang besteht auch in Bezug auf wirtschaftliche Faktoren. Menschen wandern auch entlang eines Wohlstandsgefälles. Die Wanderungswahrscheinlichkeit über Landesgrenzen hinweg steigt ab einem durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr von 2.000 kaufkraftbereinigten US-Dollar an. Diesen Wert erreichen die ärmsten Länder der Welt nicht. Bis die Menschen weitere Wege zurücklegen und auch Europa erreichen können, ist schon ein BIP zwischen 3.000 bis 10.000 Dollar notwendig. Der politisch motivierte Versuch über Entwicklung kurzfristig »Fluchtursachen« zu bekämpfen, kann deshalb also kaum funktionieren. Denn Entwicklung und bessere Einkommensmöglichkeiten versetzen zunächst einmal mehr Menschen in die Lage, eine Wanderung zu organisieren und zu finanzieren. Das bedeutet natürlich nicht, dass der Umkehrschluss richtig wäre und Europa die Entwicklungszusammenarbeit reduzieren sollte. Es zeigt nur, dass Entwicklungszusammenarbeit und Migrationsmanagement zwei Paar Schuhe sind.

Irreführende Demografie

80 % der afrikanischen Migrant/innen verbleiben auf dem Kontinent, und dies steht in keinem Verhältnis zu der geringen Zahl afrikanischer Migrant/innen, die nach Europa, in die Golfstaaten, nach Asien und Amerika abwandern. Gerade die reguläre (Binnen-)Migration leistet einen erheblichen Beitrag zur sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Herkunfts-, Transit- und Zielländer. Das Potenzial, solche Entwicklungsmöglichkeiten in Afrika zu nutzen, ist nicht zu unterschätzen und nicht ansatzweise ausgeschöpft. Die europäischen Partner scheinen angesichts ihrer Bemühungen, innerafrikanische Migration (vor allem im westafrikanischen ECOWAS-Raum) einzudämmen, noch immer nicht das Potenzial erkannt zu haben. Eine zunächst kontraintuitiv erscheinende Schlussfolgerung lautet: Reguläre Migration zu fördern, kann langfristig zu weniger Migration führen.

In der Regel gehen mit einem hohen Bevölkerungswachstum steigende Konkurrenz um Nahrung und Trinkwasser, um Wohnraum, Bildungseinrichtungen und Gesundheitsdienste einher. Aus einer schlechten Versorgung können soziale Konflikte entstehen, welche den Migrationswunsch verstärken. Bis ins Jahr 2030 und noch weit darüber hinaus wird sich das globale Bevölkerungswachstum immer mehr auf die Länder südlich der Sahara und Teile der Region Mittlerer Osten und Nordafrika konzentrieren. Nigeria beispielsweise, das schon jetzt einwohnerstärkste Land Afrikas, dürfte Prognosen zufolge zwischen 2070 und 2075 die Einwohnerzahl der heutigen EU erreichen.

Afrika erreicht Schätzungen zufolge im Jahr 2025 eine Bevölkerung von 1,5 und im Jahr 2050 von voraussichtlich 2,5 Milliarden. Diese Schätzungen basieren auf der Tatsache, dass das Bevölkerungswachstum zwischen 1980-2015 bei 2,5 % lag und auch über das nächste Jahrzehnt bei ca. 1,5 % verharren wird. Die derzeitige Geburtenrate auf dem afrikanischen Kontinent liegt bei 4,7 Kindern pro Frau, wobei es starke Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gibt. Dennoch sind derartige demografische Statistiken mit Vorsicht zu betrachten, da sie leicht für politische Agenden missbraucht werden können. Dies trifft insbesondere auf die Zahl derer zu, die in Befragungen angeben, perspektivisch das Heimatland verlassen zu wollen. Nur jede 200. Person, die einen generellen Migrationswunsch geäußert hat, verwirklicht diesen tatsächlich innerhalb eines Jahres. Eine direkte Korrelation zwischen Bevölkerungswachstum und Migrationsbewegungen Richtung Europa gibt es nicht.

Die EU investiert viel Geld in die afrikanische Grenzsicherung, wobei die Mittel für Ausrüstung und Training häufig an Unrechtsregime gehen. Europäische Staaten haben sich mit fragwürdigen Akteuren zusammengetan, die gewährleisten sollen, die Migration nach Europa zu kontrollieren. So hat Italien beispielsweise Abkommen mit der libyschen Küstenwache und indirekt mit Schmugglern geschlossen, um die Abfahrten von Booten nach Italien zu unterbinden. Die EU hat der sudanesischen Führung, die des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt wird, Mittel für Sicherheit zur Verfügung gestellt. Im März 2019 wurden EU-finanzierte Projekte zur Bekämpfung illegaler Migration im Sudan ausgesetzt. Dies geschah aufgrund der berechtigten Befürchtung, die EU-unterstützten Sicherheitskräfte könnten friedliche Proteste gewaltsam unterdrückt haben.

Auch die Finanzierung eines Nachrichtenzentrums durch die EU in der Hauptstadt Khartum ist im Juni gestoppt worden. Eine Welle von Protesten überflutete das Land im Dezember 2018, und Demonstrant/innen forderten die Absetzung des autokratischen Präsidenten Omar al-Bashir. Nachdem Bashir im April abgesetzt worden war, versuchte ein militärischer Übergangsrat, zu dem auch der Kommandant der berüchtigten Rapid Support Forces Miliz (RSF) gehörte, die Ordnung wiederherzustellen. Jene RSF, die von Amnesty International der Kriegsverbrechen in der sudanesischen Region Darfur beschuldigt wird. Neben verschiedenen Vorfällen von Repressionen wurde der Miliz ein Massaker am 3. Juni vorgeworfen, bei dem 128 Demonstrant/innen getötet wurden. Die EU behauptet zwar, dass sie weder Mittel noch Ausrüstung für den RSF bereitgestellt habe, aber es besteht kein Zweifel, dass die sudanesische Polizei, der auch vorgeworfen wird, die Proteste brutal unterdrückt zu haben, im Rahmen der Programme ausgebildet wurde. Ähnlich fatal sind die europäischen Ansätze in Bezug auf den Niger. Das ärmste Land der Welt erhält Entwicklungsgelder, die auf seiner Bereitschaft und Fähigkeit zur Eindämmung der Migrationsströme basieren. Europa muss sich bewusst sein, dass dies langfristig verheerende Auswirkungen hat. Nicht das Verhindern von innerafrikanischer Migration, sondern deren Förderung kann langfristig zu Stabilität beitragen.

Die genannten Praktiken gefährden nicht nur die Menschenrechte und untergraben die Demokratie, sondern bergen auch die Gefahr einer zunehmenden politischen Instabilität. Politische Frustration ist ein wichtiger Motivationsfaktor für Migration. Eine Stärkung fragwürdiger Autoritäten kann langfristig dazu führen, die Bevölkerung zu frustrieren und die eigentlichen Ursachen der Migration zu verschärfen. Irreguläre Migration ist auch ein Ventil für eine wachsende junge Bevölkerung, die oft mit hoher Arbeitslosigkeit und politischer Frustration konfrontiert ist. Wenn Europa wirklich Fluchtursachen in Afrika bekämpfen will, dann sollten zunächst Fluchtursachen »Made in Europe« angegangen werden.

Noch vor 2015 sahen die europäischen Migrationspläne für Afrika vor, mehr legale Visapfade für Migrant/innen anzubieten. Zunehmende legale Kanäle können illegale Migration nachweislich reduzieren und kombiniert mit starken Durchsetzungsmaßnahmen ein effektives Migrationsmanagement darstellen. Derartige Ansätze der legalen, gesteuerten Migration sollten erneut stärker in Betracht gezogen werden.

Personenfreizügigkeit - ein europäisches Privileg?

In der Debatte über Personenfreizügigkeit und Migration gilt es offene Meinungsverschiedenheiten zwischen der Afrikanischen Union (AU) und der EU. Während die EU derzeit sichtlich bemüht ist, Migration wirksam einzudämmen, kritisiert die AU das europäische Vorgehen als zu einseitig. Die AU versucht gleichzeitig, ein afrikanisches Migrationsmanagement zu etablieren und die Mobilität und Freizügigkeit auf dem Kontinent zu erhöhen.

Eine kontinentale Freihandelszone, die die Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen, Investitionen und Personen garantiert, ist eines der großen Vorhaben der AU. Ziel der Freihandelszone ist die Schaffung eines afrikanischen Binnenmarktes. Mit ihrer Hilfe soll der innerafrikanische Handel gefördert, die regionale und kontinentale Integration Afrikas ausgebaut und der industrielle, verarbeitende Sektor der afrikanischen Wirtschaft weiterentwickelt werden.

Der afrikanische Kontinentalmarkt wird nach seinem Aufbau mehr als eine Milliarde Menschen sowie ein Bruttoinlandsprodukt zwischen 2,2 und über 3 Billionen US-Dollar umfassen. An keinem anderen Freihandelsabkommen nehmen mehr Staaten teil.

Während europäische Entscheidungsträger/innen die Vorzüge von Personenfreizügigkeit und Freihandel innerhalb Europas zu schätzen und zu betonen wissen, gehen diese in Bezug auf den afrikanischen Kontinent davon aus, dass die Eindämmung von Personenfreizügigkeit zu einem besseren Migrationsmanagement beitragen könne. Diese Annahme missachtet die zahlreichen positiven Aspekte innerafrikanischer Binnenmigration. Neben der saisonalen Arbeitsmigration sind die Rücküberweisungen ein entscheidender und stabilisierender Faktor. Im Jahr 2018 beliefen sich die Rücküberweisungen (remittances) in die Länder südlich der Sahara auf insgesamt 46 Milliarden US-Dollar. 78 % aller in Europa arbeitenden irregulären Migrant/innen überweisen Geld in ihre afrikanischen Heimatländer. Dabei ist zu beachten, dass es durchschnittlich 40 Jahre dauern würde, um im jeweiligen Heimatland eine ähnliche Summe zu erwirtschaften.

Es gilt daher, die positiven Effekte von (inner-)afrikanischer Migration zu erkennen und zu fördern, unsere afrikanischen Partner bei ihren Bemühungen um Personenfreizügigkeit auf dem Kontinent nicht zu behindern und wieder über Visa-Erleichterungen nachzudenken.


Marcel Rauer
hat Politikwissenschaften und Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle (Saale) studiert und ist seit 2019 Direktor des Flucht- und Migrationskompetenzzentrums (FMCC) der Friedrich-Ebert-Stiftung in Addis Abeba, Äthiopien.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2019, S. 29 - 32
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2019

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