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STANDPUNKT/083: Germany first (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 1. April 2020
german-foreign-policy.com

Germany first

Politiker und Medien in Südeuropa laufen Sturm gegen die Weigerung Berlins, in der Coronakrise deutsche Interessen zurückzustellen.


BERLIN/ROM/MADRID/ATHEN - Bürgermeister aus den am härtesten von der Covid-19-Pandemie betroffenen Städten Norditaliens bitten in einer ganzseitigen Anzeige in einer führenden deutschen Tageszeitung um "europäische Solidarität". Italien sei zur Bewältigung der Coronakrise auf "Coronabonds" angewiesen, erklären die Bürgermeister; sie dringen darauf, Berlin solle seinen Widerstand dagegen aufgeben. Seit vor allem die Bundesregierung beim EU-Gipfel Ende vergangener Woche die Debatte über die "Coronabonds" abgewürgt hat, die besonders für die Länder Südeuropas existenziell wichtig, für Berlin allerdings nicht kostenneutral wären, laufen Politiker und Medien von Spanien über Italien bis Griechenland Sturm. Deutschland treibe Politik nach dem Modell des Trump'schen "America First", heißt es in Spanien, während in Griechenland gewarnt wird, ein Verzicht auf die "Coronabonds" könne sich "für Europa als noch vernichtender erweisen" als das Covid-19-Virus. Sogar EU-orientierte italienische Medien protestieren gegen das "hässliche Europa" und schließen das Ende des "europäischen Projekts" nicht aus.

Im Stich gelassen

Erheblichen Unmut hatte bereits Anfang März die Weigerung der Bundesregierung ausgelöst, den am schwersten von der Covid-19-Pandemie getroffenen Staaten zu Hilfe zu kommen. Insbesondere der Beschluss vom 4. März, einen Exportstopp auf medizinische Schutzausrüstung zu verhängen, anstatt etwa Italien zu unterstützen, dann allerdings auch die faktische Schließung der Grenze nach Frankreich am 16. März hatten in den betroffenen Ländern massive Verärgerung hervorgerufen (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Diese hält an. Erst gestern hieß es etwa in der spanischen Tageszeitung El País, zwar habe die EU bereits am 12. Februar großspurig beschlossen, sie müsse Bemühungen fördern, Schutzausrüstung bereitzustellen - insbesondere für das hart kämpfende Krankenhauspersonal -, doch sei bislang immer noch nichts geschehen. Auch darauf sei es zurückzuführen, dass Ärzte und Pfleger in spanischen Krankenhäusern sich nicht ausreichend gegen das Virus schützen könnten. Eine "direkte Konsequenz" sei es, dass die Ansteckungsrate des medizinischen Personals sehr hoch sei: Am Montag seien 12.298 Ärzte und Pfleger als infiziert gemeldet gewesen, 15 Prozent der Gesamtzahl der in Spanien an Covid-19 Erkrankten.[2]

Berlin unter Druck

Der Unmut hat vor allem, aber keineswegs nur Spanien und Italien erfasst, und er reicht tief, denn in der Coronakrise wiederholen sich Erfahrungen aus früheren ernsten Krisen, besonders aus der Finanz- und der Eurokrise. Man habe sich schon "in der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 gefragt: 'Wo ist Europa?'", heißt es beispielsweise in El País, "und in diesen bitteren Tagen fragen wir uns das wieder".[3] Unter Druck geraten, hat die Bundesregierung inzwischen begonnen, gegenzusteuern. Dies ist nicht ganz einfach, da Berlin nach dem Ausbruch der Pandemie in China über Wochen kostbare Zeit verstreichen lassen hat und seinerseits miserabel vorbereitet ist.[4] In den vergangenen Tagen haben, um das stark beschädigte Image der Bundesrepublik aufzubessern, mehrere Bundesländer begonnen, Betten auf noch nicht ausgelasteten Intensivstationen für 50 Covid-19-Patienten aus Frankreich und 73 Covid-19-Patienten aus Italien bereitzustellen; zudem wurden einige kleinere Materiallieferungen in andere Länder Europas geschickt, so etwa 100.000 Atemschutzmasken nach Rumänien, 60.000 Atemschutzmasken nach Schweden. Außenminister Heiko Maas gab sich in einem Interview mit dem italienischen Corriere della Sera generös: "EU-Solidarität ist das Gebot der Stunde" [5], während der für Europa zuständige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, behauptete: "Europa ist wieder einmal besser als sein Ruf."[6]

Die "Coronabonds"

Überschattet werden die dürftigen Bemühungen Berlins, die Kritik besonders aus Südeuropa zu dämpfen, inzwischen vom Konflikt um die "Coronabonds". Vor allem südeuropäische Staaten wie Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Slowenien, aber auch Belgien, Luxemburg und Irland fordern ihre Einführung; Frankreich hat sich an die Spitze dieser Staatengruppe gesetzt. Es geht im Kern vor allem darum, die in der Coronakrise unumgängliche neue Schuldenaufnahme für die ökonomisch schwächer aufgestellten Staaten etwas kostengünstiger zu gestalten und auf diese Weise deren wirtschaftlichen Kollaps zu verhindern. Da die "Coronabonds" für Deutschland nicht kostenneutral wären, lehnt die Bundesregierung sie allerdings kategorisch ab - ganz wie in der Eurokrise die Eurobonds (german-foreign-policy.com berichtete [7]).

Das deutsche Dogma

Dies löst vor allem in Südeuropa länderübergreifend Proteste aus. Deutschland sei der "harte Kern" einer Gruppe von Staaten, die eine Politik nach dem Modell des Trump'schen "America First" trieben, heißt es in der spanischen Zeitung El Mundo: Sie stellten weiterhin das nationale Interesse über "das europäische Projekt".[8] Dem müssten sich die südeuropäischen Staaten widersetzen - notfalls mit der Einführung von "Coronabonds" auf der Basis einer Art "Koalition der Willigen" ohne die Staaten Zentral- und Nordeuropas: "Wann, wenn nicht jetzt?", heißt es in El País.[9] Einwände gegen "Coronabonds" seien angesichts der Schwere der Krise rein "dogmatisch", urteilt die griechische Tageszeitung Kathimerini: "Wenn dieses Dogma sich durchsetzt, könnte es sich für Europa als noch vernichtender erweisen als der Virus selbst."[10] Gelinge es der EU nicht, sich auf eine gemeinsame ökonomische Strategie zu einigen, dann sei das, "wie wenn man es zulässt, dass das Virus Europas Lungen infiziert, und Europa zugleich eines Atemgeräts zu berauben".[11]

Der deutsche Hochmut

Besonders scharfe Kritik kommt aus Italien - weiterhin auch aus Kreisen, die grundsätzlich klar EU-orientiert sind. Ministerpräsident Giuseppe Conte erklärte am Wochenende mit Blick auf die "Coronabonds": "Ich vertrete eine stark leidende nationale Gemeinschaft und kann keine Verzögerungen erdulden."[12] Es gelte, "tragische Fehler" zu vermeiden: "Sollte Europa nicht in der Lage sein, dieser epochalen Herausforderung Stand zu halten, würde Europa vor den Augen unserer Bürger seine Existenzberechtigung verlieren". EU-orientierte Medien titeln "Hässliches Europa" [13] oder warnen, komme es nicht zu einer schnellen Einigung auf eine Krisenstrategie, dann sei "das europäische Projekt vorbei" [14]. Die Wirtschaftspresse erinnert daran, dass die Bundesrepublik ihren Aufstieg nur dank eines großzügigen Schuldenerlasses im Londoner Schuldenabkommen von 1953 habe erreichen können: Ohne dieses Zugeständnis, das von Italien mitgetragen wurde, hätte Deutschland "weitere 50 Jahre Schulden zurückzahlen müssen".[15] Ähnlich äußert sich der in Italien populäre Schauspieler und Regisseur Tullio Solenghi. Solenghi kritisiert: "Die Deutschen tragen heute auf ökonomischem Gebiet Hochmut zur Schau ... . Sie fühlen sich höherwertig." Wäre "die internationale Gemeinschaft" nach dem Zweiten Weltkrieg "mit demselben, stets wiederkehrenden deutschen Hochmut" aufgetreten und hätte ihrerseits "die tatsächlichen Kriegsschulden zurückgefordert, dann würden die Deutschen heute aus den Mülltonnen leben."[16]

Das Ende der EU

Am gestrigen Dienstag haben zwölf Politiker aus den am härtesten von der Covid-19-Pandemie betroffenen Regionen Norditaliens, überwiegend Bürgermeister - darunter die Bürgermeister von Bergamo, Brescia und Milano - , in einer ganzseitigen Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für die "Coronabonds" geworben. Ebenfalls unter Verweis auf das Londoner Schuldenabkommen heißt es, "Euch Deutschen" sei "von vielen europäischen Ländern nach dem Krieg und bis zur Wiedervereinigung" "Solidarität" entgegengebracht worden.[17] Jetzt benötige Italien seinerseits Solidarität: "Die Erinnerung hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen." Es gehe letztlich um "das Überleben der Europäischen Union". Verhalte die EU sich in der jetzigen Krise falsch, dann "wird sie aufhören zu bestehen".


Anmerkungen:

[1] S. dazu Die Solidarität der EU
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8218/
und Die Solidarität der EU (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8220/

[2] Actuar juntos. elpais.com 31.03.2020.

[3] Gabriel Moreno González: La hora de la cohesión europea. elpais.com 30.03.2020.

[4] S. dazu Annahme verweigert
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8224/

[5] Paolo Valentino: Coronavirus, Heiko Maas: «La solidarietà è un pilastro comune. Gli Eurobond? I fondi Ue ci sono». corriere.it 26.03.2020.

[6] Deutschland nimmt 123 Corona-Kranke aus Italien und Frankreich auf. de.reuters.com 27.03.2020.

[7] S. dazu Wer die Regeln setzt
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8233/

[8] Carmen Valero, Iñaki Gil: El reto del eje franco-alemán ante el coronavirus: la soberanía primero o la unidad del proyecto europeo. elmundo.es 28.03.2020.

[9] Si ahora no, cuándo. elpais.com 28.03.2020.

[10] Dogma and realism. ekathimerini.com 26.03.2020.

[11] Europe without a respirator. ekathimerini.com 28.03.2020.

[12] Maurer rückt von Nein der Regierung zu Corona-Bonds ab. wienerzeitung.at 28.03.2020.

[13] La brutta Europa. La Repubblica 27.03.2020.

[14] Monica Guerzoni: Coronavirus, la sfida di Conte: «L'Europa è unita oppure non esiste». corriere.it 27.03.2020.

[15] Claudia Mura: La Germania dice no ai Coronabond ma dimentica che l'Europa condonò il 50% del suo debito di guerra. notizie.tiscali.it 28.03.2020.

[16] Eurobond, lo sfogo di Solenghi «Orgogliosi di essere italiani e non teteschi». video.corriere.it 28.03.2020.

[17] Anzeige. Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.03.2020.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2020

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