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STANDPUNKT/091: Bleibende Schäden - Teil 2 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 12. Mai 2020
german-foreign-policy.com

Bleibende Schäden (II)

Desaströse Lebensbedingungen osteuropäischer Schlachthofarbeiter in Deutschland führen zu massenhaften Infektionen mit dem Covid-19-Virus.


BERLIN - Die Infektion Hunderter Arbeiter aus Ost- und Südosteuropa mit dem Covid-19-Virus in Deutschland ruft Protest der diplomatischen Vertretungen ihrer Herkunftsländer hervor. Die Arbeiter, die zu Niedrigstlöhnen für deutsche Schlachthöfe schuften, leben oft unter desaströsen Bedingungen; auf diese war laut Einschätzung des Robert-Koch-Instituts bereits eine "auffällige Häufung" von Tuberkulosefällen unter rumänischen Schlachthof-Beschäftigten im Jahr 2018 zurückzuführen. Dass ihre desolaten Lebensbedingungen seitdem nicht verbessert, sondern weiterhin ignoriert wurden, begünstigt nun die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie. Die Lage ost- und südosteuropäischer Arbeiter in der Bundesrepublik resultiert daraus, dass das krasse Wohlstandsgefälle in der EU den Bürgern peripherer Staaten oft kaum eine andere Wahl lässt, als ihren Lohn im wohlhabenden Zentrum der Union zu verdienen; dafür müssen sie niedrigste Löhne sowie miserable Wohn- und Arbeitsverhältnisse in Kauf nehmen. Der deutschen Fleischindustrie sichern sie damit billige Exporte und eine führende Weltmarktposition.

Zuviel Arbeit, wenig Lohn

Die katastrophalen Bedingungen, unter denen insbesondere Arbeiter aus Ost- und Südosteuropa in deutschen Schlachthöfen schuften müssen, sind seit Jahren bekannt. Die Arbeitszeiten sind oft viel länger als erlaubt; in Schleswig-Holstein etwa ist ein Fall dokumentiert, in dem die Beschäftigten fünf Tage in der Woche jeweils eine Zwölfstundenschicht zu absolvieren haben, wobei zuweilen noch ein sechster Arbeitstag hinzukommt.[1] Die miserablen Löhne werden häufig unzuverlässig gezahlt; Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird immer wieder nicht gewährt. Auch der Arbeitsschutz lässt zu wünschen übrig; zahlreiche Arbeiter haben mit Schikanen zu kämpfen und sind von willkürlichen Kündigungen bedroht. Die üblen Arbeitsverhältnisse können von den Schlachthofbetreibern vor allem wegen des krassen Wohlstandsgefälles in der EU aufrechterhalten werden: Der miserable Verdienst, den sie in Aussicht stellen, ist für viele Einwohner östlicher und südöstlicher EU-Länder immer noch attraktiv. Vermittelt werden zahlreiche Arbeiter - in einigen Schlachthöfen bis zu 80 Prozent der Belegschaft - über teilweise höchst dubiose Subunternehmen, was die Ausbeutung der Betroffenen noch weiter begünstigt. Diese haben - nicht zuletzt aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse - wenig Möglichkeiten, ihre Rechte zu verteidigen.

Kaum ein Schlachthof ohne Verstöße

Die hemmungslose Ausbeutung ost- und südosteuropäischer Arbeiter in den deutschen Schlachthöfen wird seit Jahren scharf kritisiert, unter anderem von Gewerkschaften, kirchlichen Vereinigungen und Nichtregierungsorganisationen. Staatliche Stellen hingegen gehen nicht in angemessenem Umfang gegen sie vor; abgesehen von unzureichenden Kontrollen existieren bis heute, wie es in einem Schreiben der DGB-Region Schleswig-Holstein Nordwest von Ende Januar heißt, "gesetzliche Lücken und Verfahrenslücken", die "den Subunternehmen und Schlachthofbetreibern noch immer zu viele Spielräume" bieten, "sanktionsfrei Regeln zu umgehen (Beispiel: Arbeitszeitgesetz, Arbeitsschutz)".[2] Das Ausmaß lässt eine Überprüfung erahnen, die das Bundesland Nordrhein-Westfalen im vergangenen Sommer in 30 der 34 größeren dortigen Schlachthöfe durchgeführt hat. Man habe nur in zwei Betrieben keine Verstöße festgestellt, hieß es anschließend; bereits nach einer Auswertung von nur 40 Prozent der beschlagnahmten Unterlagen habe man mehr als 3.000 Arbeitszeitverstöße entdeckt, darunter 16-Stunden-Arbeitsverträge; in mehr als 900 Fällen sei die vorgeschriebene arbeitsmedizinische Vorsorge nicht gewährleistet worden; in 26 der 30 Betriebe habe es zahlreiche gravierende Arbeitsschutzmängel gegeben.[3]

Spitzenposition auf dem Weltmarkt

Die desaströsen Verhältnisse in den Schlachthöfen ermöglichen es der deutschen Fleischindustrie nicht nur, im Inland billiges Fleisch auf den Markt zu werfen. Sie eröffnen auch die Chance, auf dem Weltmarkt um Exportanteile zu konkurrieren. Dabei hatten deutsche Unternehmen zuletzt durchaus Erfolg. Die Bundesrepublik ist, gemessen am Wert der Ausfuhr, der fünftgrößte Fleischexporteur der Welt (nach den USA, Brasilien, Australien und den Niederlanden) sowie der drittgrößte Schweinefleischexporteur (nach Spanien und den USA); der Umsatz, den alleine die Ausfuhr von Schweinefleisch erzielte, lag 2019 bei rund 5 Milliarden US-Dollar. Der größte deutsche Schlachtbetrieb, Tönnies aus dem nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück, erzielte im vergangenen Jahr mit der Verarbeitung von 20,8 Millionen Schweinen - davon mehr als drei Viertel in Deutschland - sowie von 440.000 Rindern einen Rekordumsatz in Höhe von um die 7,3 Milliarden Euro.[4] Angaben zu seinem Gewinn macht das Unternehmen nicht.

Erhöhtes Ansteckungsrisiko

Zu den Bedingungen, die der deutschen Fleischindustrie satte Umsätze und Spitzenpositionen auf dem Weltmarkt ermöglichen, gehört die Unterbringung der ost- und südosteuropäischen Arbeiter in schäbigsten Unterkünften, für die ihnen regelmäßig stark überhöhte Mieten vom Lohn abgezogen werden. Dazu zählen Sammelunterkünfte in umgebauten Ställen sowie alte, häufig überbelegte Wohnungen, die oft schlecht ausgerüstet und hygienisch unzulänglich ausgestattet sind - "Schrottimmobilien, Bruchbuden, die vollgestopft werden", urteilt etwa der katholische Priester Peter Kossen, der seit Jahren für bessere Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie kämpft.[5] Die Unterbringung in Gruppen auf engstem Raum in Gebäuden, die nicht selten durch Schimmelbefall Atemwegserkrankungen begünstigen, fördert die Ausbreitung von Infektionskrankheiten ebenso wie der regelmäßige Transport der Niedriglohnarbeiter zu den Schlachthöfen in engen Kleinbussen. Das hat vor knapp einem Jahr das Robert Koch-Institut ausdrücklich bestätigt. Damals ging es um 13 Fälle von Tuberkulose, die im Lauf des Jahres 2018 bei Beschäftigten zweier Schlachthöfe in Niedersachsen aufgetreten waren; einer endete tödlich. Von den 13 Erkrankten waren elf Rumänen. Das Robert Koch-Institut stellte explizit fest, "räumlich enge Wohnverhältnisse in gemeinsam genutzten Unterkünften" führten "zu einem erhöhten Transmissionrisiko"; zudem könne "Ansteckungsgefahr ... bei langen Fahrzeiten in gemeinsam genutzten Fahrzeugen sowohl vom Heimatland nach Deutschland" als auch "bei Fahrten zwischen Wohn- und Arbeitsort (überwiegend im Shuttle-Service der Betriebe) bestehen". Bei den 13 Fällen handele es sich um eine "auffällige Häufung" von Tuberkulose.[6]

Hunderte Covid-19-Infektionen

Die jahrelange Ignoranz gegenüber den desaströsen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ost- und Südosteuropäer, die in deutschen Schlachthöfen die Verfügbarkeit billigen Fleischs in deutschen Supermärkten und hohe Profite deutscher Konzerne sichern, wirkt sich nun auch auf die Covid-19-Pandemie aus. Bereits Ende April hatte die Regierung Rumäniens mitgeteilt, dass sich 200 der insgesamt 500 rumänischen Beschäftigten eines Schlachthofs in Birkenfeld (Baden-Württemberg) mit dem Covid-19-Virus infiziert hatten.[7] Inzwischen sind weitere Fälle bekannt geworden, die Schlachthöfe in Oer-Erkenschwick (Nordrhein-Westfalen) sowie in Bad Bramstedt (Schleswig-Holstein) betreffen. Schlagzeilen machte zuletzt vor allem ein Schlachthof in Coesfeld (Nordrhein-Westfalen), von dessen Beschäftigten bis gestern 249 positiv auf Covid-19 getestet wurden, darunter zahlreiche Rumänen, Bulgaren und Polen; 278 Testergebnisse standen noch aus.[8] Dabei erregen weniger die Verhältnisse öffentliche Aufmerksamkeit, in denen die Arbeiter aus Ost- und Südosteuropa in der Bundesrepublik dahinvegetieren, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Ansteckungen die Covid-19-Statistik des Landkreises Coesfeld über die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner heben, von der an der Lockdown verlängert werden muss.

Protest

Dass in der Bundesrepublik Bürger ost- und südosteuropäischer EU-Staaten zu Zehntausenden in Verhältnissen leben und arbeiten müssen, die sie jetzt systematisch der Gefahr einer Infektion mit dem Covid-19-Virus aussetzen, ruft inzwischen Protest in mehreren ihrer Herkunftsländer hervor. Die Bundesrepublik müsse nicht nur "mehr Ressourcen für Überprüfungen" in Schlachthöfen bereitstellen, sondern auch "eine Informationskampagne" initiieren, "in der die Rechte hervorgehoben werden, die deutsche Arbeitgeber einhalten müssen", fordert etwa der rumänische Europaabgeordnete Dragos Pîslaru von der Allianz USR-PLUS.[9] Darüber hinaus haben sich inzwischen, wie Bundesarbeitsminister Hubertus Heil einräumt, mehrere diplomatische Vertretungen ost- und südosteuropäischer EU-Mitgliedstaaten bei der Bundesregierung über die Behandlung ihrer Bürger in Deutschland beschwert und sich "ausdrücklich weitere Maßnahmen" vorbehalten - so zum Beispiel einen Ausreisestopp für Saisonarbeiter, die unter ähnlich üblen Bedingungen leben und arbeiten müssen wie ihre Kollegen in den Schlachthöfen.[10] Damit steht Berlin, das wegen seiner einseitigen Grenzschließungen mit massivem Unmut in Frankreich und Luxemburg [11] sowie wegen seiner Krisenpolitik mit steigender Wut in Südeuropa, insbesondere in Italien [12] konfrontiert ist, womöglich ein weiterer, tief in die Bevölkerungen der betroffenen Länder hineinreichender Konflikt bevor.


Anmerkungen:

[1], [2] Schleswig-Holsteinischer Landtag: Umdruck 19/3501. 29.01.2020.

[3] Sabine Tenta: Desaströse Arbeitszustände in NRW-Schlachthöfen. www1.wdr.de 16.10.2019.

[4] Anja Müller, Katrin Terpitz: Großschlachterei Tönnies knackt die Umsatzmarke von sieben Milliarden Euro. handelsblatt.com 05.03.2020.

[5] Wenke Husmann: "Die Leute haben große Angst". zeit.de 10.05.2020.

[6] Robert Koch-Institut: Epidemiologisches Bulletin Nr. 26. 27.06.2019.

[7] Mehr als 200 rumänische Arbeiter in Schlachthof mit Coronavirus infiziert. spiegel.de 29.04.2020.

[8] Infektionszahlen in Coesfeld weiter gestiegen. aerzteblatt.de 11.05.2020.

[9] Dana Alexandra Scherle: Rumänischer EU-Abgeordneter Pîslaru: Mehr Schutz für Saisonarbeiter! dw.com 08.05.2020.

[10] Massimo Bognanni, Oda Lambrecht: "Unhaltbare Zustände". tagesschau.de 08.05.2020.

[11] S. dazu Bleibende Schäden (I)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8271/

[12] S. dazu Die Solidarität der EU (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8220/
und Germany First
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8234/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2020

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