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LAIRE/053: Für Franco Frattini befindet sich die EU im Krieg (SB)


Eine Art Kriegserklärung ...

EU-Justizkommissar Frattini wähnt sich im permanenten Abwehrkampf gegen Terrorangriffe


Nicht nur in den USA, auch in Europa reden und handeln die Regierenden immer mehr wie in Kriegszeiten. Sie gehen von nichts anderem aus, als daß sie sich in einem Krieg befinden und daß dieser nach innen wie nach außen geführt wird. GWOT, Global War On Terrorism, nennt die US-Regierung, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Welt in Freund und Feind gespalten hat, ihren globalen Krieg gegen den sogenannten Terrorismus. An der Seite Washingtons, strammen Schritts, die überwiegende Mehrheit der Mitgliedsländer der Europäischen Union.

Mit GWOT ist keineswegs allein der Krieg gegen Afghanistan und Irak oder gegen Aufständische in anderen Weltregionen gemeint, sondern auch der Krieg gegen die eigene Bevölkerung, die seit einiger Zeit zum eigentlichen Brutherd des verwerflichen, "terroristischen" und daher zur Vernichtung freigegebenen Gedankenguts erklärt wird. Das hat in den USA schon vor längerer Zeit zur Verabschiedung des Patriot Act, Bündelung sämtlicher Geheimdienste und Gründung eines Heimatschutzministeriums geführt. Ähnliche Maßnahmen haben auch europäische Staaten und die Europäische Union ergriffen.

Die Zusammenarbeit der Behörden dies- und jenseits des Atlantiks erfolgt zunehmend reibungsloser, sei es, daß EU-Bürger im Folterlager Guantánamo landen, ohne daß die hiesigen Regierungen die Gegenseite zur unverzüglichen Freilassung aufgefordert hätten, sei es, daß Flugpassagierdaten an die amerikanischen Ermittlungsbehörden überstellt werden.

Ein Merkmal des Ausmaßes der Gleichschaltung der Sicherheitskräfte ist die Reaktion der EU auf die Äußerungen des US-Heimatschutzministers Michael Chertoff in der BBC (15.1.2008). Der hatte erklärt, daß sich "die Terroristen" verstärkt nach Europa orientieren, sowohl als Ziel als auch als Plattform für Terrorangriffe. Die größte Gefahr für die USA komme von Übersee, und einer der Orte, über die man zunehmend beunruhigt sei, ist Europa, deutete Chertoff düster an. Man werde Maßnahmen ergreifen, um die Einreise aus Europa enger zu kontrollieren. Die Rede ist hier von einer Online-Registrierung, bei der die Daten noch vor der Abreise übermittelt werden.

Der EU-Kommissar für Justiz, Franco Frattini, hat im Anschluß an Chertoff klargestellt, daß er mit ihm d'accord geht. Die USA seien zurecht besorgt. "Wir sind in einer Kriegssituation - wie in den Vereinigten Staaten", sagte Frattini am 16. Januar gegenüber der BBC, wie tags darauf der EU-Observer (http://euobserver.com/9/25482) meldete.

"Tag für Tag entdecken wir Terroristenzellen", sagte Frattini, nur um seine Behauptung im nächsten Atemzug selber zu widerlegen. Im vergangenen Jahr seien in der EU 50 Terrorangriffe vereitelt worden. Er überlege, auf europäischer Ebene etwas Ähnliches wie die Online-Registrierung einzuführen, aber man könne nicht Menschen "aus gefährlichen Regionen der Welt" an der Anreise nach Europa hindern, gab er zu bedenken. Im kommenden Monat will die EU über ein Entry-exit-System beraten. Es geht um die jahrelange Registrierung, wer nach Europa hinein- und wer aus ihm herausfährt.

Wie bei der Sammlung von Flugpassagierdaten findet eine weitere Angleichung mit den US-Behörden statt. Offensichtlich rennt US-Heimatschutzminister Chertoff bei Frattini offene Türen ein. Das verwundert nicht, hat sich der Justizkommissar bereits in der Vergangenheit mit Vorschlägen hervorgetan, die die behaupteten Vorzüge der EU konterkarieren. Frattini hat maßgeblich am Aufbau der Grenzschutzbehörde Frontex, die zwecks Abwehr von Flüchtlingen eingerichtet wurde, mitgewirkt. Auch das System von Lagern, die auf afrikanischen Boden installiert werden, um dort Flüchtlinge zu sammeln, damit sie nicht übers Mittelmeer oder den Atlantik nach Europa vordringen, gehört zu den von ihm vorangetriebenen Projekten. Ginge es nach Frattini, werden die Lager nicht nur Bestandteil der Flüchtlingsabwehr sein, sondern auch als Pool für Arbeitskräfte dienen, die eine bestimmte Zeit in der EU tätig sein dürfen, nur um anschließend wieder zurückgeschickt zu werden. Zudem hat sich Frattini in der Vergangenheit mit der Forderung nach einer weitreichenden Internetzensur harscher Kritik ausgesetzt.

Wenn sich die Europäische Union tatsächlich in einer "Kriegssituation" befindet - damit will Frattini anscheinend eine Abschwächung zu Krieg andeuten -, so könnte man annehmen, daß die Aussage des EU-Kommissars "eine Art Kriegserklärung" war (also eine abgeschwächte Form von Kriegserklärung). Tatsächlich lassen die regelmäßigen Vorstöße von Sicherheitspolitikern wie Innenminister Wolfgang Schäuble in Richtung einer neuen Auslegung des Grundgesetzes oder auch seiner Außerkraftsetzung ahnen, daß im Denken und Handeln der Regierenden die Übertragung weitreichender Befugnisse an die Behörden, wie nach der Verhängung des Kriegsrechts, längst Einzug gehalten hat.

Die meisten Bürger der Europäischen Union haben nicht das Gefühl, daß sie sich im Krieg befinden, und kaum einer dürfte sich bewußt sein, daß die EU aus der Sicht seiner Administration kriegerischen Angriffen durch feindliche Kräfte ausgesetzt sein soll.

Die Militarisierung der Gesellschaft schreitet voran. So sieht der Reformvertrag vor, daß sich die EU-Mitglieder um den ständigen Ausbau ihrer Militärapparate bemühen. Und vergangene Woche haben fünf ehemalige militärische Führungskräfte aus der EU die Bildung eines EU-NATO-Direktorats gefordert. Der German Marshall Fund stellte am vergangenen Mittwoch den Report "Towards a Grand Strategy for an Uncertain World" in Brüssel vor.

Die fünf ehemaligen Generalstabschefs Jacques Lanxade (Frankreich), Henk van den Breemen (Niederlande), Klaus Naumann (Deutschland), Peter Inge (Großbritannien) und John Shalikashvili (USA) sehen unter anderem Klärungsbedarf in der Frage, wenn ein Mitglied von der EU und gleichzeitig von der NATO um einen Beitrag zur militärischen Unterstützung gebeten wird. Wem gegenüber wird dieser Staat loyaler sein, fragten die Autoren. Es müsse im ersten Schritt ein übergreifendes EU-NATO-Direktorat auf der höchsten politischen Ebene geschaffen werden, die solche Fragen klärt. Zudem werden in dem Report als mögliche künftige Bedrohungen Iran und China namentlich genannt - die Autoren folgen noch der klassischen Einteilung in Innen- und Außenpolitik -, aber eben auch islamische Extremisten.

Hier korrespondieren sie zweifellos mit Frattinis Behauptung, wonach sich die Europäische Union in einer Kriegssituation befindet. Die allseits propagierte Auflösung der klassischen Innen- und Außenpolitik läßt allerdings einige bemerkenswerte Schlußfolgerungen zu: Wenn es keine Außenpolitik gibt, verlieren territoriale Grenzen ihre Bedeutung. Wenn aber die Welt nicht mehr in Länder eingeteilt wird, bietet sich eine andere Kategorisierung der vorherrschenden Ordnung an. Das könnte die Renaissance des Klassenbegriffs sein.

Aus einer weltweiten, vertikalen Hierarchie folgt logischerweise, daß die Bundeswehr, die gegen die Bevölkerung Afghanistans Krieg führt und an der Bombardierung afghanischer Dörfer beteiligt ist, konsequent gedacht, auch gegen die deutsche Bevölkerung zu Kriege zieht, da sich diese auf derselben, nicht durch Ländergrenzen voneinander getrennten Ebene befindet. So erhielte die Aussage Frattinis eine neue Deutung: Die EU ist in einer Kriegssituation ... und der Krieg wird gegen die untere Klasse geführt, sei sie in Afghanistan oder Europa.

21. Januar 2008