Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → POLITIK

FRANKREICH/001: Die Lage der MigrantInnen in Frankreich (Sozialismus)


Sozialismus Heft 2/2013

Die Lage der MigrantInnen in Frankreich

von Bernhard Sander



Die französischen Regierungen haben sich spätestens, seit Innenminister Sarkozy in den Vorstädten den Abschaum »wegkärchern« wollte, mit Teilen der zugewanderten Bevölkerung angelegt - angefangen von polizeilichen Verdachtskontrollen nach Hautfarbe über den Rückzug sozialstaatlicher Infrastruktur bis hin zur jüngst bekannt gewordenen Korruption einer ganzen Polizeiabteilung für Strafrechtsermittlungen in Marseille (30 Personen), die mit Drogen gehandelt, erpresst und die Bevölkerung der Vorstädte tyrannisiert haben soll. Lokalpolitiker der PS rufen heute nach dem Einsatz des Militärs in den Marseiller Vorstädten. In unguter Erinnerung sind seit Chiracs Zeiten in den 1990er Jahren die Charterflugzeuge, mit denen »sans-papiers«, also Lohnabhängige ohne Aufenthaltserlaubnis, ausgewiesen wurden. Als Sarkozy Staatspräsident war, wurden dafür sogar Jahreszielquoten mit dem Innenminister vereinbart. Die Zahl der Ausgewiesenen erreichte 2012 mit über 32.000 einen Rekord, da auch der sozialdemokratische Innenminister Valls die Praxis fortsetzt.

Juristisch gilt für das Staatsbürgerrecht, dass wer in Frankreich geboren ist, ein Recht auf Staatsbürgerschaft besitzt. In französischen Behörden war es folglich tabuisiert, den Migrationshintergrund zu erfassen. Dennoch war klar, dass beim Eintritt in den Arbeitsmarkt eine Adresse in der Vorstadt und ein islamischer Vorname Segregationsvorgänge auslösen. Die Rechtspopulisten konnten mit dem Fehlen von Statistiken auch ihre Behauptungen von der »Überflutung« durch die Ausländer und vom erhöhten Gewalt- und Kriminalitätspotenzial der Einwanderer in die Welt posaunen.

Der frühere Staatspräsident Sarkozy versuchte zu Beginn seiner Amtszeit, die »sichtbaren Minderheiten« durch Repräsentanten aus den Reihen der Linken zu lösen und in sein Bündnis der Leistungswilligen einzubinden. Er erzielte bei der Präsidentschaftswahl 2007 bedeutende Erfolge in den Reihen der aufstiegs- und integrationswilligen jungen Erwachsenen. Nach und nach wurden diese Menschen (Justizministerin, Städtebau-Staatssekretärin, Gleichstellungsbeauftragte) jedoch wieder aus dem Kabinett entfernt, da sich in der Anhängerschaft der Sarkozy-Partei UMP zunehmend eine rassistische Grundtendenz breit machte. PS-Kandidat Hollande wurde schließlich ganz besonders von den migrantischen Franzosen gewählt (56% zu 29% im Durchschnitt).


Einwanderungsland Frankreich

Erstmals hat nun das Statistische Amt INSEE den Status der MigrantInnen im französischen Bildungs- und Beschäftigungssystem beleuchtet (www.insee.fr/fr/publications-et-services/sommaire.asp?codesage=IMMFRA12). Auch wenn damit soziale Probleme in solche der ethnischen Zugehörigkeit umgedeutet werden können, wird deutlich, dass sich die Benachteiligungen, Ausschlussprozesse und Lebenschancen entlang der Zuwanderungsfrage verschärft haben. Die 243 Seiten umfassende Studie konzentriert sich hauptsächlich auf den Zeitraum 1999 bis 2008; Schwerpunkte werden an einer Detailuntersuchung für das Jahr 2010 entwickelt. Die Zahlen sind also nicht ganz aktuell.

In Frankreich leben fast 64 Mio. Menschen. Über sieben Mio. von ihnen wurden im Ausland geboren. 3,7 Mio. werden statistisch als »Fremde« (Menschen mit anderer Staatsbürgerschaft) betrachtet, die nicht gesondert ausgewertet wurden und von denen nur gut eine halbe Million in Frankreich geboren sind. Davon werden unterschieden 5,34 Millionen Eingewanderte (MigrantInnen), von denen 2,17 Mio. die französische Staatsbürgerschaft besitzen, weil sie diese ab dem 14. Lebensjahr beantragen können, wenn sie in Frankreich geboren wurden. In der Statistik wird bei allen Erwachsenen mit mindestens einem fremden, ausländischen Elternteil unterschieden zwischen direkten Nachfahren/Kindern von Einwanderern, das sind 9,2% der Bevölkerung (4,53 Mio.) und den »Immigrés« (MigrantInnen), also im Ausland Geborenen (unabhängig von ihrer staatsbürgerlichen Zughörigkeit zur französischen Nation), die mit 10,5% einen weiteren Bestandteil der Bevölkerung bilden (5,15 Mio.). Jeder fünfte Einwohner über 18 Jahre hat ausländische Wurzeln. Wie viele Kinder diese Menschen haben, untersucht der Bericht leider nicht.

Der Bevölkerungsanteil der MigrantInnen (durchschnittlich 8%) steigt mit der Einwohnerzahl der Städte und konzentriert sich besonders in Paris (20%) und Umgebung sowie im Elsass und in der Region PACA (Provence-Alpen-Cote d'Azur) - sieht man vom Überseedepartement Guayana (30%) ab. Doch ansonsten ist diese Gruppe relativ gleichmäßig in der Fläche verteilt. Bei den Menschen mit migrantischer Abstammung ist zwar der Anteil in der Pariser Bevölkerung besonders hoch, doch ist diese Gruppe stark im Süden (bei EU-27-Ursprüngen) und allgemein stärker in der östlichen, industrialisierteren Landeshälfte angesiedelt. Es gibt große Landstriche vom Baskenland bis zur Bretagne, wo der Anteil der Menschen mit afrikanischem oder asiatischem Elternteil unter 2% liegt.


Migrationsgeschichte und Zusammensetzung

Im 20. Jahrhundert hat es in Frankreich jeweils nach den Weltkriegen Einwanderungswellen gegeben, »um den Verlust an Arbeitskräften zu heilen«. Mit der einsetzenden Krise des Fordismus und der Überakkumulation wurden auch in Frankreich die Zuzugsmöglichkeiten auf die Familienzusammenführung begrenzt. Stammten bis 1975 etwa zwei Drittel der MigrantInnen aus dem Bereich der EU-27, drehte sich das Verhältnis danach vollständig um. Heute sind zwei Drittel außereuropäischen Ursprungs (davon wiederum ein Viertel aus Algerien und Marokko, 10% aus Asien und 14% aus Afrika). Die Hälfte ist mit weniger als 22 Jahren nach Frankreich gekommen, die EU-27-Einwanderer sind älter. In der Gruppe der Erwachsenen mit mindestens einem migrantischen Elternteil stammen 60% aus dem EU-27-Raum (vorwiegend Italien, Portugal und Spanien) und 21% aus Algerien und Marokko. Bei den Kindern dreht sich das Verhältnis auf 29% zu 36%, das »Nationalitäten«-Spektrum verbreitert sich also. Zwar ist das Durchschnittsalter der MigrantInnen im letzten Jahrzehnt etwa gleichgeblieben, während die Gesamtbevölkerung um etwa 1,4 Jahre älter wurde. Aber die frühen, eher europäischen Einwanderer sind bedeutend gealtert. Heute ist jede/r fünfte Migrant/in unter 25 Jahre alt (mit afrikanischem Ursprung außerhalb des Maghreb sind es sogar 52%), aber nur 10% der autochthonen Bevölkerung.(1)

Ende der 1990er Jahre wuchs die Zahl der zugewanderten Menschen mit jährlich 2%. Diese Entwicklung ist nicht auf Einreiseprozesse zurückzuführen, sondern darauf, dass große Teile dieser Gruppe nun in ein Alter kamen, in denen man Kinder haben kann. Der französische Sozialstaat ist auf die besonderen Belange dieser jüngeren BürgerInnen außereuropäischen Ursprungs, die Familien gründen wollen, nicht vorbereitet.

Er ist aber auch auf Bedürfnisse der älteren Generation insgesamt nicht vorbereitet, z.B. den Pflegenotstand, wie dies die Katastrophe von 2003 zeigte, als im heißen Sommer Tausende alter Menschen in den Heimen, aber auch zu Hause dehydrierten und verdursteten. Die Belange von MigrantInnen im Rentenalter stellen eine weitere Herausforderung dar, da hier schlechte Sprachkenntnisse, besonders traditionsverhaftete Lebensweisen und weitere Probleme entstehen werden.

Es gibt MigrantInnen ohne und mit französischer Staatsbürgerschaft. Der Anteil der letzteren Gruppe hat sich seit 1975 kontinuierlich und besonders nach 1999 erhöht, als der Druck der Innenminister spürbar anstieg. 90% der Menschen im Alter zwischen 18 und 50 Jahren mit mindestens einem migrantischen Elternteil hat nur noch die französische Staatsbürgerschaft.

Die aktuelle Familiensituation der MigrantInnen unterscheidet sich wesentlich von der der Franzosen französischer Abstammung. Ungefähr 60% leben als Paar zusammen, bei den Einwanderern aus dem europäischen Raum sogar über 70% und aus dem afrikanischen Raum 66%. Dieser stärkere familiale Zusammenhalt kompensiert möglicherweise fehlende sozialstaatliche Einbindung. Doch dieser Zusammenhang scheint für die Kinder von Einwanderern nicht mehr zu gelten, denn deren Lebensform spielt sich in geringerem Maße in Familien ab (Europäer 59%, Afrikaner 40%). Die Ehe als Lebensform dominiert in allen Gruppen, ihr Anteil halbiert sich allerdings von 63% bei der ersten auf 32 % bei der zweiten Generation.

Besonders hohe Kinderzahlen weisen Paare aus dem schwarzafrikanischen Teil Afrikas auf. Doch auch hier ist eine Entwicklung zu durchschnittlichen Werten absehbar, da die Individualitätsansprüche mit Dauer des Verbleibs zunehmen.


Sprachkenntnis und Schulerfolg

Kommt man in ein fremdes Land, ist vor allem für Erwachsene die Sprache fremd. Im Vorteil waren und sind diejenigen, die aus einem Land kommen, in dem die Amtssprache französisch ist. Das sind im Falle Frankreichs die afrikanischen Staaten. Die Hälfte bis zwei Drittel sagen von sich, zum Zeitpunkt der Einreise habe man schriftlich wie mündlich gute bis sehr gute Sprachkenntnisse. Europäer, sofern sie nicht aus Italien oder Spanien stammen, sind in ihren Sprachkenntnissen benachteiligt. Vor allem bei den Kindern ist zu beobachten, dass immer mehr Französisch beherrschen, je später sie eingereist sind (vor 1970 51%, nach 2000 78%). In einem Viertel der Einwandererfamilien und der Hälfte der Familien aus Nachkommen von Einwanderern wird auch noch eine weitere Sprache gesprochen, vor allem bei denen (nord-)afrikanischer Abstammung - dies allerdings sehr schlecht. Der Anteil, der diese Zweitsprache gut beherrscht, ist wiederum bei den Europäern von außerhalb der EU und türkischen MigrantInnen sehr hoch. Dieser Umgang mit der Zweitsprache drückt wohl aus, wie gut Frankreich diese Gruppen integriert hat.

Sprachkenntnisse wiederum scheinen den Schulerfolg zu determinieren. Obwohl Frankreich ein Ganztags-Schulsystem hat, spielen natürlich der familiäre Zusammenhang und Rückhalt eine Rolle. Bei zerklüfteten Arbeitsvertragsverhältnissen können vermutlich weniger Aufmerksamkeit und Ressourcen bereitgestellt werden, als in den wohl situierten Milieus. 15% der 30-49-Jährigen (andere Gruppen wurden nicht untersucht) haben keinen Schulabschluss. Unter den Eingewanderten liegt der Anteil mit 38% mehr als doppelt so hoch, wobei Türken (65%) und Portugiesen (53%) am schlechtesten abschneiden.

Auf den höheren Stufen der Bildungsleiter relativiert sich das Bild: Hochschulzugangsberechtigung haben 16% der MigrantInnen und 18% der Ursprungsfranzosen, einen Universitätsabschluss (Master) können in beiden Gruppen 16% vorweisen. Der Anteil der MigrantInnen bei den höheren Abschlüssen ist seit den 1990er Jahren stetig gewachsen und liegt heute fast bei 40% gegenüber etwa 50% bei den Ursprungsfranzosen. Die Bildungssysteme der Zuwandererländer und die Eingliederungsmöglichkeiten in das französische System scheinen sich verbessert zu haben.

Dafür spricht auch, dass der Bildungserfolg der Kinder von Einwanderern sich nicht mehr nennenswert von denen der Ursprungsfranzosen unterscheidet. Doch der auch aus Deutschland bekannte Umstand, dass die soziale Herkunft der Eltern in starkem Zusammenhang mit dem Bildungserfolg der Kinder steht, gilt in Frankreich für alle drei Bevölkerungsgruppen. Nur 41% der Kinder aus Arbeiterfamilien haben eine Empfehlung für die weiterführende Schule erhalten (SEK II), dementsprechend auch nur 43% der im Ausland geborenen Kinder, aber 58% aus Nicht-Einwandererfamilien.

Die Einwandererfamilien sind (im Durchschnitt) größer als andere. Die Kinder haben oft kein eigenes Zimmer und das Lebensniveau dieser Familien ist im untersten Viertel zu suchen. Während in mehr als jeder zweiten Familie die regelmäßige Hilfe durch die Eltern genannt wird, sind dies in Einwandererfamilien nur ein Viertel, bei türkischen Kindern sogar nur 17%. Haben die Eltern selbst nichts gelernt, helfen sie selbst auch nicht bei den Schulaufgaben. 40% der migrantischen Mütter und 60% der nicht-migrantischen Mütter mit höherem Bildungsabschluss helfen bei den Schulaufgaben; Väter spielen demgegenüber auf allen Bildungsstufen nur eine geringere Rolle.

Dabei wünschen 70% aller Eltern (75% bei den Marokkanern, Algeriern und Tunesiern), dass ihre Kinder am besten bis zum Alter von 20 Jahren zur Schule gehen sollten, denn rd. 40% sind überzeugt, dass ein höherer Bildungsabschluss am nützlichsten ist, um eine Anstellung zu finden. 85% der MigrantInnen meinen, dass ihr Kind in der zehnten Klasse ein guter Schüler ist. Die Zufriedenheit mit den öffentlichen Schulen ist zwar hoch (durch alle Gruppen über 80%), aber sie liegt bei den Privatetablissements deutlich höher (über 90%).


Arbeitsmarkt

Beim migrantischen Teil der Bevölkerung liegt die Erwerbsquote (einschl. Arbeitslosen) über dem Durchschnitt. Vor allem die außereuropäischen MigrantInnen sind jünger und haben daher eine sehr hohe Erwerbsquote. Allerdings liegt hier die Frauenerwerbsquote signifikant niedriger. Um die Spannbreite deutlich zu machen: 81% der Ursprungsfranzösinnen zwischen 30 und 54 Jahren mit Kindern unter sechs Jahren geht einer Erwerbsarbeit nach, bei den Frauen mit außereuropäischer Abstammung liegt die Quote bei 46%. Bei den allein erziehenden Frauen ist der Unterschied weitgehend eingeebnet (88% zu 76%), weil sie Arbeit suchen müssen.

Und wie sind sie nun beschäftigt? Je höher man in der sozialen Hierarchie sucht, desto weniger findet man Menschen mit ausländischen Wurzeln. Der Anteil Selbständiger und Kleingewerbetreibender liegt in Frankreich bei 9%, bei den Einwanderern etwas höher, insbesondere bei Italienern und Türken (16%). Freiberufler und leitende Führungskräfte haben einen Anteil von 17% an den Erwerbstätigen, bei MigrantInnen und deren Kindern sind solche Positionen unterrepräsentiert (13%). In der Kategorie der einfachen Angestellten (29%) findet man dagegen nur geringfügige Unterschiede, allerdings bilden diese Berufe bei den Frauen aus beiden Einwanderergenerationen mit über 50% das Gros der Anstellungen (Supermarktkassiererin usw.).

Im Durchschnitt ist jeder fünfte Franzose Arbeiter. Unter den Einwanderern ist der Anteil höher: Hier ist jeder Dritte angelernter oder qualifizierter Arbeiter (bei den Männern dieser Gruppe sogar 44%) Es dominieren Portugiesen, Marokkaner und vor allem Türken (61%).

Die französische Arbeitsgesellschaft ist von einer gewissen sozio-professionellen Durchlässigkeit gekennzeichnet: Wenn ein oder beide Elternteile Einwanderer waren, dann sind in der nächsten Generation nur noch halb so viele einfache Angestellte oder Arbeiter. Umgekehrt hat sich der Anteil der migrantischen Bevölkerung in den Kategorien Freiberufler und Führungskräfte gegenüber der Ursprungsgeneration verdoppelt. Der Generationenunterschied gilt in noch ausgeprägterem Maße für Töchter im Vergleich zu den Müttern aus Migrantenfamilien (mit Ausnahme der einfachen Angestellten, doch ist auch dies als Aufstieg zu interpretieren, weil in der Müttergeneration der Anteil der Nichtberufstätigen dreimal höher liegt).

Mit Blick auf die Aufstiege innerhalb des Beschäftigungssystems dreht sich dieses Bild jedoch wieder: Während 37% der autochthonen Franzosen einen Aufstieg erfahren haben, sind es bei den Einwanderern nur 23% und bei den Nachfahren von Einwanderern 33%. Weder die Höhe des Bildungsabschlusses noch das Alter relativieren diese Unterschiede, nur der Handel und die allgemeine Dienstleistungen, bei denen die Zahl der Beförderungen eh unterdurchschnittlich ist, machen wenig Unterschiede. Die Situation von MigrantInnen ist vor allem durch drei Faktoren gekennzeichnet: Ihre Erwerbsarbeit ist konzentriert in Sektoren, die besonders ungeschützt sind. Die Gefahr der Arbeitslosigkeit ist größer und der Zugang zu Arbeitsplätzen erschwert. Und je nach Einwanderungswelle sind die Chancen ebenfalls ungleich verteilt: Wer später kam, fängt tiefer an.

In welchen Tätigkeiten sind die Eingewanderten besonders stark vertreten? Bei den Männern sind das der Bau bzw. das baunahe Handwerk, die Textilindustrie und das Bewachungsgewerbe, wo sie jeweils zwischen 20% und 25% der Beschäftigen stellen und nur geringe Löhne gezahlt werden. Die Frauen stellen jeweils über 30% der Hausangestellten und der Beschäftigten im Bewachungsgewerbe sowie um die 15% beim Reinigungs- und Küchenpersonal bzw. im Hotel- und Gaststättenbereich.

Ein ähnliches Bild zeigt die Branchenaufteilung. Unter den Nachfahren von MigrantInnen aus dem außereuropäischen Bereich sind 83% im tertiären Sektor (Durchschnitt aller Franzosen 76%) beschäftigt. Die Zahl der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe liegt durchgängig um die 10% in allen Ursprungskategorien, wobei die Männer hier in der Überzahl sind (16%); der Durchschnitt aller Franzosen liegt bei 6%. 10% der Franzosen arbeiten im öffentlichen Dienst und 13% im Gesundheitswesen, aber nur unter den Nachfahren von Einwanderern liegt der Anteil fast so hoch, bei allen anderen Migrantenkategorien deutlich niedriger (was mit der Sprachkompetenz zusammenhängen könnte). Der Privatsektor nimmt fast Dreiviertel aller Migrantengruppen auf.

Die Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt ist immens, vor allem wenn das Lebensalter berücksichtigt wird: Die Arbeitslosenquote bei MigrantInnen ist doppelt so hoch wie der Durchschnitt (16% zu 9%), bei den 15- bis 24-Jährigen ist jeder dritte ohne Job (junge Frauen und außereuropäische haben es noch etwas schwerer). Erstaunlicherweise ist die Lage für die Kinder von Einwanderern nicht besser. Sind beide Elternteile zugewandert, liegt der Anteil der arbeitssuchenden jungen Männer sogar bei 44%. Die letzte berufliche Stellung ist bei beiden Gruppen (im Alter von 25 bis 64 Jahren) ein Differenzierungskriterium für die Arbeitslosenquote: Je niedriger der sozio-professionelle Status, desto höher das Arbeitslosenrisiko. Dies gilt ganz besonders für die außereuropäischen, nicht-qualifizierten Handarbeiter mit 40%. Die MigrantInnen - und ganz besonders die über 50-Jährigen - sind nicht nur in stärkerem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen, sie bleiben auch viel länger arbeitslos. 2010 gab es in Frankreich im Durchschnitt 40% Langzeitarbeitslose, bei den MigrantInnen jedoch 46% und bei den eingewanderten Älteren 59%.

Mit Hinblick auf die Prekarisierungsprozesse haben wir nur eine - wenn auch aufschlussreiche - Momentaufnahme aus dem Jahre 2010. Jeder Zehnte befindet sich in Frankreich in einem prekären Beschäftigungsverhältnis, davon die Hälfte in befristeten Arbeitsverhältnissen. Dazu kommen Praktika und bezuschusste Einarbeitungsverträge und Leiharbeit (2% der Gesamtbeschäftigung) sowie die Teilzeitarbeit, die bei den Frauen einen deutlich höheren Anteil hat. Unter den MigrantInnen ist die Verteilung so ähnlich, mit der Ausnahme, dass hier der Leiharbeiteranteil etwa doppelt so hoch liegt. Insofern findet keine besondere Diskriminierung durch die Prekarisierung statt.

Als großes Hemmnis erweist sich die Schwelle vom Schulsystem in die Beschäftigung. Nur knapp jede/r Zweite hat in Frankreich die ersten drei Jahren nach dem Verlassen des Bildungssystems die Erfahrung von mindestens einem Monat Arbeitslosigkeit erlebt, unter den in Afrika geborenen Kindern war es gar nur jede/r Dritte. Die durchschnittliche Beschäftigungsdauer in diesen drei Jahren beträgt etwa 25 Monate, bei den Eingewanderten aber im Schnitt nur 20 Monate.

Über die Stufe des Bildungsabschlusses wird entschieden, ob man nach drei Jahren in Arbeit steht: Hat man keinerlei Abschluss sind 56% im Job, mit Bachelor und höher 87%. Aber auch unter den Bestqualifizierten haben nur Dreiviertel eine unbefristete Stelle. Von denen, die keinen Abschluss vorweisen können, hat nach drei Jahren weniger als jeder Vierte einen unbefristeten Vertrag. In dieser Gruppe ist zudem das Leiharbeitsverhältnis (18%) stark vertreten. Auch das (berufsbildende, literarische, naturwissenschaftliche) Abitur bietet nur 59% eine Aussicht auf unbefristete Verträge.


Einkommen, Vermögen, Wohnen

Da die Studie hinsichtlich der individuellen Erwerbseinkommen nur Säulendiagramme abbildet, beschränke ich mich auf das verfügbare Haushaltseinkommen, das für das Jahr 2009 untersucht wurde. Das Jahreseinkommen liegt bei MigrantInnen etwa bei 26.600 Euro und bei Menschen aus Migrantenfamilien bei 25.500 Euro, bei allen anderen bei 35.300 Euro. Damit bestätigt sich, dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte entsprechend ihrer Beschäftigungsfelder vom Zugang zu höheren Löhnen eher ferngehalten sind. 2/3 des Haushaltseinkommens resultiert aus Lohneinkommen bzw. Arbeitslosengeld. Altersbezüge bilden nur 18% der Einkommen, in den migrantischen Gruppen aber 26%. Darin spiegelt sich der hin zu den Jüngeren verzerrte Altersaufbau und die höhere Erwerbsquote unter den Zugewanderten wieder.

Die sozialstaatlichen Aufwendungen für Ehepaare vor allem mit bis zu drei Kindern gleichen die Einkommensdifferenzen an, ohne sie auszugleichen. Die Ausnahme sind hier die besonders Kinderreichen. Der Unterschied zwischen dem untersten und dem neunten Zehntel der Einkommenspyramide beträgt etwa 1 zu 3, gleichgültig ob es sich um MigrantInnen, Nachfahren von MigrantInnen oder andere Haushalte handelt. Allerdings ist der Abstand zwischen »Arm und Reich« bei Menschen aus den nicht arabischen afrikanischen Ländern am geringsten (2,8, weil hier das neunte Zehntel relativ weniger hat) und bei Nachfahren von Einwanderern aus Übersee am höchsten (3,5).

Als arm im Sinne der Statistik gelten in Frankreich im Durchschnitt 13,5% der BürgerInnen. Davon weicht die Situation der MigrantInnen deutlich ab: 37% der Personen in einem Migranten-Haushalt gelten als arm und 20% der Personen aus einem Haushalt von Nachfahren. Die Statistik beschönigt insofern, als sie den Median jeweils in den Gruppen getrennt berechnet, die Armutsschwelle also mal bei 19.000 Euro liegt, mal bei ca. 16.800 Euro und mal bei 13.300 Euro. Legt man die 19.000 Euro aller Haushalte zugrunde, ist fast jede/r MigrantIn arm. Bei einer Befragung äußerte unter den afrikanischen Einwanderern außerhalb des Maghreb ein Drittel Zahlungsverzug (Miete, Strom, Steuern), Beschränkungen im Konsum (Heizung, Möbelersatz, Kleidung, Warmwasserbereitung) und finanzielle Schwierigkeiten (Vollzugszinsen, laufendes Einkommen deckt die Ausgaben nicht).

Und die Vermögensbildung? Sie bleibt, verstärkt durch die Migrationsthematik, natürlich eine Klassenfrage. Fast neun von zehn Franzosen haben ein Sparbuch, jeder zweite hat eine Lebensversicherung und knapp 2/3 Immobilienbesitz (meist selbstgenutzten Wohnraum). Bei den MigrantInnen haben nur 2/3 ein Sparbuch, ein Drittel eine Lebensversicherung und gut 40% eine Immobilie. Bei den MigrantInnen von außerhalb der EU beträgt das durchschnittliche Immobilienvermögen Null Euro. Allerdings verfügt auch in dieser Gruppe das oberste Zehntel über das größte Vermögen - wie bei dem Rest der Franzosen (319.600 Euro gegenüber 387.000 Euro)

Das Geldvermögen im unteren Zehntel der Gesellschaft reicht noch nicht einmal zum Kauf eines Gebrauchtwagens (1.000 Euro hat man hier im Schnitt auf der hohen Kante), während das oberste Zehntel mit rund 47.000 Euro pro Kopf hantieren kann. Bei nicht-migrantischen Haushalten liegt das Geldvermögen im obersten Zehntel bei rund 108.000 Euro. Interessanterweise liegen die Haushalte mit gemischter Zusammensetzung in allen Kategorien noch höher; Frankreich ist eben immer auch das Exilland für allerhand Kolonialeliten und abgesetzte Potentaten. Auch nach Gegenrechnung der Verschuldungssummen bleiben die Abstände in etwa erhalten, mit dem Unterschied, dass die Verschuldung des ärmsten Zehntels vor allem der europäischen Einwanderer (außerhalb der EU-27) die Ersparnisse deutlich überwiegt.

Kein Wunder also, dass fast jeder zweite verschuldete Haushalt Zahlungsschwierigkeiten hat, fast ein Drittel wegen der Hypothek. Bei den MigrantInnen liegt die Zahl hingegen nur bei einem Fünftel.

Wenn man aber weiß, wo die MigrantInnen wohnen, kann man einschätzen, warum sie sich so nach Wohneigentum strecken. 13% der MigrantInnen und 10% der Nachfahren, aber nur 6% der Franzosen leben in Gemeinden, die bezogen auf die Steuerkraft als die 10% ärmsten betrachtet werden müssen. Jeder Zweite wohnt, auch in der nachgerückten Generation, in den 10% der Viertel, wo der Anteil der Sozialwohnungen am höchsten ist. Und das sind die 10% aller Viertel, in denen besonders viele Arbeitslose wohnen. Aber nicht Zuschnitt, Wohnfläche, Zustand der Bausubstanz, Nähe zu Verkehrsschlagadern usw. werden bei den ZUS (»sensiblen urbanen Zonen«) zum gesellschaftlichen Problem gemacht, sondern ihre Einwohner. Dass ein Drittel aller MigrantInnen und ein gutes Viertel aller Nachfahren von MigrantInnen in einer Sozialwohnung (HLM) wohnt, aber nur 14% der Ursprungsfranzosen, spiegelt ja nur die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung. Besonders bei den 18-25jährigen ist mehr als jede/r Zweite gezwungen, noch bei den Eltern zu wohnen; dies ist besonders - quer durch alle Altersgruppen - bei den Nachfahren von Zuwanderern aus dem Maghreb und dem übrigen Afrika der Fall. Die Konsequenzen aus dem Aufeinanderprallen von Normen traditioneller Lebensweisen und den Bedürfnissen nach ruhiger Lernatmosphäre, Autonomie und Individualitätsansprüchen, die sich gerade in diesen Gruppen der Nachkommen von Einwanderern entwickelt haben, mag sich jeder ausmalen. Demgegenüber leben 60% der 18-50jährigen Franzosen im Eigenheim.


Bewertung

Auf den ersten Blick könnte man sagen, dass in den Betrieben, vor allem im öffentlichen Sektor, die Integration - mit Abstrichen - besser funktioniert als in der Gesellschaft (Bildung und Zugang zum Arbeitsmarkt). Doch blendet man dabei die zeitliche Dimension aus.

Die Auflösung des Lohnarbeitsstatuts vollzieht sich über den Generationswechsel. Während auch für ältere Lohnabhängige die Sicherungsmechanismen noch greifen (wenn auch für die Eingewanderten in asymmetrischer, schlechterer Weise), gibt es für die Nachrückenden nur noch bedingten Schutz, worunter die Bevölkerungsteile mit ausländischen Wurzeln am meisten zu leiden haben. Arbeitslosigkeit, schlechtbezahlte Jobs und Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse sind also nicht vom Migrantenstatus her definiert, sondern vom Zerfall fordistischer Regulierungen des Arbeitsmarktes, der allerdings die MigrantInnen härter trifft.

Festzustellen ist, dass Menschen mit Migrationshintergrund von Beschäftigungsverhältnissen, die ein höheres Qualifikationsprofil erfordern, mehr Arbeitsplatzsicherheit und besseres Einkommen versprechen, eher ferngehalten werden. Auch das Gros der französischen StaatsbürgerInnen mit ausländischen Wurzeln bleibt auf die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse beschränkt. Angesichts der Tatsache, dass es in Frankreich ein eher betriebsbezogenes Tarifsystem gibt, fehlen gewerkschaftliche Schutzmechanismen gerade im Bereich der unqualifizierten Dienstleistungsarbeit. Der Abbau des Sozialstaates hat darum in diesen Bevölkerungsteilen ungleich drastischere Wirkungen. Dieser Status macht sie umgekehrt wiederum anfällig für ein Maß an Ausbeutung, mit dem in der Konkurrenz auch andere Gruppen auf dem Arbeitsmarkt erpresst werden können, auch wenn es in Frankreich seit Jahrzehnten einen Mindestlohn gibt.

Es gibt Stimmen, die den INSEE-Bericht dahingehend interpretieren, »dass die Eingliederung von Einwanderern und somit die Lebensverhältnisse ihrer Nachfahren auf französischem Boden stark von ihrem Herkunftsland beziehungsweise von ihrem Kulturraum abhängt« (FAZ vom 13.10.2012). Eine solche kulturalistische Debatte über die »Integrationsfähigkeit« bestimmter Gruppen ignoriert, dass die verschiedenen Einwanderungswellen zu unterschiedlichen Phasen der französischen Wirtschaftsentwicklung eintrafen und die Einwanderer daher unterschiedliche Chancen vorfanden. Integration fällt in den Zeiten des Wirtschaftswunders (»Les Trente Glorieuses«) ungleich leichter, in denen Arbeitskräfte - auch geringer qualifizierte - gesucht waren, als in Zeiten der Überakkumulation, in denen ganze Bevölkerungsteile aus dem Arbeitsmarkt dauerhaft ausgeschlossen werden und noch nicht einmal die Rolle einer industriellen Reservearmee spielen. Es heißt also Ursache und Wirkung zu verkehren, wenn man behauptet, der Bericht lege nahe, »ohne dies auszuformulieren, dass ein Teil der Integrationsschwierigkeiten auf die Einwanderer selbst und nicht auf gesellschaftliches Versagen zurückzuführen ist« (FAZ vom 13.10.2012).

Besonders deutlich wird dies an der Gruppe der türkischen MigrantInnen, die aufgrund ihrer Lage als Minderheit in der Minderheit offenbar auf noch mehr Hindernisse bei der Integration stoßen: geringste Quote Frauenerwerbstätigkeit (31%), höchste Arbeitslosenquote (über 25%), höchste Quote an geringqualifizierter Beschäftigung (29%). Im Gegensatz zu anderen mehrheitlich islamischen Einwanderergruppen aus Afrika verfügen sie nicht über die Sprachkenntnisse und haben nicht Schulsysteme durchlaufen, die stark von der Kolonialmacht geprägt sind.

Am Freizeitverhalten lässt sich kaum ein Selbstausschluss aus der Gesellschaft feststellen. Neun von zehn Befragten haben in den letzten 14 Tagen einen Freund besucht. In der untersuchten Gruppe der 18 bis 50-Jährigen gaben jeweils nur Minderheiten der Einwanderer (28%) oder ihrer Nachfahren (21%) bei der Befragung an, in der letzten Zeit Freunde ausschließlich derselben Herkunft getroffen zu haben. Bei den Ursprungsfranzosen blieben hingegen 66% unter sich. Es fällt allerdings auf, dass gleichmäßig in allen drei Gruppen der Besuch besonders Freunden galt, die etwa das gleiche Bildungsniveau haben. Man habe freundschaftlichen Umgang mit Arbeitskollegen, sagt etwa jeder Zweite in den drei Gruppen (bei den Franzosen sind es mit 56% etwas mehr als bei den MigrantInnen mit 47%, was aber wohl eher auf die Art der Beschäftigungsverhältnisse zurückgeführt werden kann).

Am klassischen organisierten Vereinsleben beteiligen sich nur Minderheiten in allen Bevölkerungsgruppen, wobei im Engagement für Kultur, Stadtteil, Gemeinnützigkeit und Jugend fast gar kein Unterschied registriert werden kann - mit Ausnahme der Sportvereine, an denen jeder fünfte Franzose zu finden ist, aber nur jeder zehnte Einwanderer. Und gerade der Sport gilt seit der Weltmeisterschaft der Mulitkulti-Fußball-Nationalmannschaft als Vorbild für die Integration.

Nur jede/r zehnte MigrantIn äußert den Wunsch, ins Land der Geburt zurückzukehren - am ehesten noch Menschen aus den unmittelbaren Nachbarländern Spanien und Portugal (wobei die Zuspitzung der Finanzkrise diesen Wunsch wohl relativieren wird).

Auch das republikanische Bewusstsein ist bei MigrantInnen und ihren Nachfahren kaum weniger stark ausgeprägt als bei den Ursprungsfranzosen. So äußert zwar nur jeder Zweite Vertrauen in den öffentlichen Dienst und die Arbeitsvermittlung - unter den Ursprungsfranzosen ist der Anteil allerdings genauso bescheiden. Die Schule genießt entschieden mehr Vertrauen bei neun von zehn Menschen. Dazwischen liegen Polizei und Justiz, die insbesondere nur noch von Zweidrittel der Nachfahren von Einwanderern - aufgrund von diskriminierenden Erfahrungen - geschätzt werden, während die Einwanderergeneration selbst noch zu Dreiviertel auf diese Institutionen vertraut. Ursprungsfranzosen haben ebenfalls nicht mehr soviel Vertrauen in diese Apparate, unterscheiden allerdings zwischen Justiz und Polizei, die offenbar bei mehr Leuten Vertrauen genießt.

Die Beteiligung an Kommunal- und Präsidentschaftswahlen ist nach dieser Untersuchung mit durchschnittlich 85% derjenigen, die sich in die Listen eingetragen haben, gleichmäßig hoch. Allerdings kann diese Zahl kaum stimmen, da die faktisch registrierte Wahlenthaltung höher (teilweise bei 40%) lag. Und bezogen auf die jeweilige gesamte Bevölkerungsgruppe zeigen sich dann auch Unterschiede zwischen den Inhabern eines französischen Passes: Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2007 (späterer Sieger Sarkozy) gingen 69% der MigrantInnen, 75% der Nachfahren von MigrantInnen und 81% der Ursprungsfranzosen zur Urne. Ähnliche Niveau-Stufen findet man bei den Kommunalwahlen. Die schlechteste Wahlbeteiligung weisen europäische Einwanderer außerhalb der EU-27 auf (57%).

Ein Viertel der Einwanderer hat in den zurückliegenden fünf Jahren die Erfahrung einer Ungleichbehandlung oder Diskriminierung gemacht (immerhin auch jeder zehnte Ursprungsfranzose), jeder zehnte die ungerechtfertigte Verweigerung einer Arbeit und noch etwas mehr die Verweigerung einer Wohnung.

Zwei Drittel führen dies auf ihre Nationalität zurück - auch jeder Fünfte, der nicht von MigrantInnen abstammt. Jeweils halb so viele in jeder Gruppe verweisen auf die Hautfarbe. Eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes vermuten ein Viertel der Ursprungsfranzosen, aber nur 5% der MigrantInnen. Unter den Nachfahren von MigrantInnen ragen die empfundenen Diskriminierungsgründe Religion und Wohnviertel mit deutlich über 10% besonders gegenüber den anderen beiden Bevölkerungsgruppen heraus. Ob es sich um eine besondere Sensibilität auf Seiten der Betroffenen handelt, sei dahingestellt. Jedenfalls wird deutlich, dass bei jenen, die in Frankreich aufgewachsen sind, die Ungleichbehandlung offenbar Alltag und Lebensqualität beeinflusst.

Angesichts des Stresses, der sich aus beengten Wohnverhältnissen, Sorge um den täglichen Konsum, Unsicherheit des Arbeitsplatzes sowie aus der verbreiteten Diskriminierung ergibt, wäre eine Statistik der Lebenserwartung aufschlussreich gewesen. Sie fehlt. Man kann sich angesichts solcher Lebensumstände nur wundern, wie weit verbreitet der Wunsch, dazu zu gehören, immer noch ist.

Ändern lassen sich die Zustände nur über einen längeren Zeitraum. Beispielsweise fehlen laut aktuellen Presseberichten bis zu einer Mio. Sozialwohnungen. Fehlende Schulabschlüsse können nur über einen gewissen Zeitraum durch Weiterbildungsmaßnahmen aufgearbeitet werden und Arbeitsplätze lassen sich nur durch ein mehrjähriges Investitionsprogramm schaffen.

Weder die regierende PS noch die Linke der Linken haben bisher eine Reaktion auf den Bericht gezeigt. Eine Förderung der migrantischen Bevölkerung und ihrer Nachkommen läuft in der Selbstwahrnehmung der republikanischen Linken vermutlich auf eine Ungleichbehandlung unter den StaatsbürgerInnen hinaus. Angesichts des Einflusses des organisierten Rechtspopulismus scheut man zudem vor einer langwierigen Auseinandersetzung zurück. Untätigkeit schafft allerdings weitere Probleme: Selbstausschluss und Kommunitarismus, Gewalt vom Ghettoaufstand bis zu Selbstradikalisierungsprozessen in religiösen Kleinstgruppen, Erscheinungen also, die dem organisierten Rechtspopulismus in die Hände spielen. Da die Sozialdemokraten dieses Potenzial, das ihnen einen Vertrauensvorschuss mitgab, nicht aufgegriffen haben, könnte sich die Linke der Linken bemühen, Gestaltungsvorschläge für den Sozialstaat zu unterbreiten, die es den migrantischen BürgerInnen ermöglichen, ihre Lebensperspektiven zu verbessern.


Bernhard Sander ist Redakteur von Sozialismus. Er schrieb zuletzt in Heft 10/2012 den Beitrag »Hollande verliert an Boden«.


Anmerkung:

(1) Die im Folgenden verwandten Begriffe »autochthon« und »Ursprungsfranzosen« sind politisch sicherlich problematisch; in einem Artikel jedoch, der die Lage von MigrantInnen vor allem empirisch behandelt, sollen sie diejenigen bezeichnen, die keine MigrantInnen sind.

*

Quelle:
Sozialismus Heft 2/2013, Seite 37 - 43
Redaktion Sozialismus
Postfach 10 61 27, 20042 Hamburg
St. Georgs Kirchhof 6, 20099 Hamburg
Tel.: 040/28 09 52 77-40, Fax: 040/28 09 52 77-50
E-Mail: redaktion@sozialismus.de
Internet: www.sozialismus.de
Die Zeitschrift ist ein Forum für die politische
Debatte der Linken. Manuskripte und Zuschriften
sind daher ausdrücklich erwünscht.
 
Sozialismus erscheint 11 x jährlich.
Einzelheft: 6,20 Euro,
Jahresabonnement: 62,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juni 2013