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GROSSBRITANNIEN/004: Die soziale Lage arbeitender Menschen (lunapark21)


lunapark 21, Heft 34 - Sommer 2016
zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie

Die soziale Lage arbeitender Menschen in Großbritannien

Von Christian Bunke


Ken Loach ist ein Filmemacher, dessen Filme es in seinem Heimatland Großbritannien immer schwer hatten. Zwar ist sein Werk vielfach preisgekrönt, doch im Vereinigten Königreich zeigen nur wenige Kinos seine Filme. Und wenn, dann oft nur für kurze Zeit. Das mag auch mit den von ihm behandelten Themen zu tun haben.

So zum Beispiel im Fall seines jüngsten - in Cannes mit der Palme d'Ors ausgezeichneten - Films "I, Daniel Blake." In diesem geht es um einen 50-jährigen Bauarbeiter aus Newcastle, der aufgrund einer Herzattacke arbeitsunfähig wird. Der Film zeichnet seine Irrfahrt durch ein soziales Netz nach, das in den vergangenen Jahrzehnten radikal ausgedünnt wurde. Eine Albtraumbürokratie, die Menschen kaputt macht, anstatt ihnen zu helfen.

Die Geschichte mag fiktiv sein, doch sie basiert hundertprozentig auf einer Realität, wie sie sich heutzutage für stetig wachsende Bevölkerungsschichten in Großbritannien darstellt. Das Team um Ken Loach hat aufwendig recherchiert, wie Drehbuchautor Paul Laverty auf einer Pressekonferenz in Cannes erläuterte: "Wir sind durch das ganze Land gereist - von Schottland aus den ganzen Weg hinunter nach England. Wir waren in Suppenküchen. Haben mit Aktivisten und Behindertenrechtsgruppen gesprochen. Und was wirklich erstaunlich war, ist, dass es die verwundbarsten Menschen sind, die von den schlimmsten Auswirkungen der Sozialkürzungen betroffen sind. Menschen mit Behinderungen leiden sechs Mal mehr unter Sozialabbau als alle anderen. Da gab es den bemerkenswerten Satz eines Beamten, der diese Menschen als 'tief hängende Früchte' bezeichnete. In anderen Worten: Es handelt sich um leichte Ziele. Es ist wirklich wichtig zu verstehen, dass das alles systematisch ist."

Ein Labor für permanente Austerität

Diese Systematik ist nicht vom Himmel gefallen. Sie ist Ergebnis einer von der Labour-Partei in den späten 1970er Jahren begonnen Politik, die in den 1980er Jahren von der konservativen Regierung unter Premierministerin Margaret Thatcher entscheidend radikalisiert und forciert wurde. Großbritannien ist das erste Land Westeuropas, das eine permanente Austeritätspolitik zur obersten Regierungsdoktrin erhoben hat.

Großbritannien war in gewisser Weise ein Versuchslabor für das, was im restlichen Europa noch geplant ist. Wenn die Lohnabhängigen und Jugendlichen Frankreichs vehement gegen das dort geplante Arbeitsgesetz protestieren und streiken, dann haben sie das Schicksal der britischen Bergleute vor Augen, die für die Durchsetzung des Thatcherismus das größte Hindernis waren, ihn aber - allein gelassen vom britischen Gewerkschaftsbund und den großen Einzelgewerkschaften - schlussendlich nicht verhindern konnten.

Fährt man heute durch die ländlichen Landstriche von Yorkshire und Wales, erinnert nichts mehr daran, dass hier noch vor wenigen Jahrzehnten große Bergbaugebiete waren. Nur noch grüne Hügel sind übrig. In den Großstädten des Nordens gibt es heute Lagerhallen, Parkplätze, Callcenter und für die meisten nicht bezahlbare Mietwohnungen dort, wo bis Ende der 1980er Jahre noch große Industrieanlagen standen. 40.000 Menschen haben in den 1970er Jahren allein bei Ford in Dagenham gearbeitet. Von dort ging ein Näherinnenstreik aus, der in Großbritannien das Konzept "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" durchsetzte. Nichts erinnert mehr daran. Bei Ford ist die Belegschaft auf weniger als ein Zehntel geschrumpft. Eine ganze Kultur wurde ausgelöscht.

Die Kinder jener Menschen, die in den 1970er und 1980er Jahren als qualifizierte Facharbeitskräfte ein recht gutes Auskommen hatten, arbeiten heute in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs für weitaus weniger Geld, als es ihre Eltern im selben Lebensabschnitt in den Taschen hatten. Für zwei Drittel aller lohnabhängig Beschäftigten Großbritanniens stagnieren seit Jahrzehnten die Löhne - wenn sie nicht sogar sinken. Das gilt vor allem für Berufe wie Gabelstaplerfahrer, Lagerhausarbeiter oder Beschäftigte in der Nahrungsmittelindustrie. Deren Durchschnittslöhne sind zwischen 1978 und 2008 um bis zu 5 Prozent gesunken. Im Vergleich dazu sind die Löhne der Chief Executives der größten britischen Konzerne, hier handelt es sich um die Gruppe der 0,1 Prozent, zwischen 2000 und 2010 um 343 Prozent gestiegen.

All dies war nur mit der Zerstörung der britischen Industrie möglich. Die Beschäftigten in der britischen Industrie stellten ein gewerkschaftlich gut organisiertes Milieu dar. Die Arbeit war deshalb in den 1970er Jahren noch lange kein Ponyhof. Wie in anderen Ländern gab es Kämpfe zur Verbesserung der teilweise äußert harten Arbeitsbedingungen. In vielen Branchen konnte zeitweise eine weit reichende gewerkschaftliche Autonomie in den Betrieben erkämpft werden.

Doch spätestens seit Mitte der 1970er Jahre geriet die britische Wirtschaft in eine Profitabilitätskrise. In ihre Fabriken konnten und wollten die Unternehmer nicht investieren. So wurde Großbritannien auch zum Paradebeispiel für einen verfaulenden Kapitalismus, der die Gesellschaft zerfallen lässt, weil die Alternativen zu wenig profitträchtig erscheinen. Zur Rettung und Ausdehnung der Profitmargen blieb nur die Initiierung des berühmten "Race to the bottom", ein Wettrennen im Sozialdumping, zu deren Durchsetzung die Zerschlagung der kämpferischsten Teile der Gewerkschaftsbewegung notwendig war.

Heute sind die daraus resultierenden niedrigen Löhne die Hauptursache für Armut in Großbritannien. 2015 lebten zwei Drittel aller in Armut lebenden Kinder in Familien mit arbeitenden Eltern. Sechs Millionen Menschen arbeiten in Beschäftigungsverhältnissen, in denen kein "living wage" - ein Lohn, von dem man passabel leben kann - gezahlt wird. Bereits 2009, zu Beginn der jüngsten Wirtschaftskrise, verdienten 5,3 Millionen Menschen weniger als 7,28 Pfund pro Stunde.

Systematische Prekarisierung aller Lebensbereiche

Damit ging eine massive Prekarisierung der Arbeitswelt einher. Diese äußert sich zum einen in millionenfacher Unterbeschäftigung. Seit 1992 sinkt die Zufriedenheit der britischen Lohnabhängigen mit ihren Jobs rapide. Es hat sich ein so genannter "Niedriglohn - kein Lohn - Kreislauf" etabliert. Das bedeutet, dass 40 Prozent aller Menschen, die aus der Erwerbslosenstatistik ausscheiden, sechs Monate später wieder in dieser auftauchen.

Immer mehr Menschen finden keine Jobs in den Bereichen, für die sie eigentlich qualifiziert sind. Ehemalige Facharbeitskräfte arbeiten in Autowaschanlagen. IT-Fachleute findet man als Gepäckträger am Flughafen. Und ein Drittel aller jungen Menschen mit Universitätsabschluss arbeitet dauerhaft in Jobs, für die kein Universitätsabschluss notwendig wäre. Dabei handelt es sich oft um Jobs im Fast Food Bereich oder im Callcenter.

Doch selbst unter jenen, die einen akademischen Job finden, sieht es nicht besser aus. Im vergangenen Mai streikte in England und Wales das Lehrpersonal an den Universitäten für bessere Arbeitsbedingungen. 75.000 von ihnen sind prekär beschäftigt. 21.000 haben so genannte "zero hours"-Verträge, müssen also ohne Lohngarantie jeden Tag auf Abruf und bei Androhung sofortiger Kündigung bereitstehen. Derweil verdienen die Universitätspräsidenten (und ein paar wenige Universitätspräsidentinnen) das Sechsfache des Lohns eines universitären Durchschnittsverdieners.

Wenn man die Industrie eines ganzen Landes zerstört, dann führt das zwangsläufig zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das mussten die Menschen in Ostdeutschland nach dem Ende der DDR genauso erfahren wie in den letzten Jahren zunehmend auch die Menschen im Ruhrgebiet. In Großbritannien gibt es ganze Landstriche, in denen die Mehrheit der Lokalbevölkerung seit Jahrzehnten keinen Job mehr gehabt hat. Hier sind regelrechte Elendsregionen entstanden.

In den Statistiken der vergangenen Jahrzehnte taucht dies aber nur unvollständig auf. Denn alle Regierungen seit Thatcher haben die Arbeitslosenstatistiken systematisch gefälscht. Das fing damit an, entlassene Fabrikarbeitskräfte oder ehemalige Bergleute als "arbeitsunfähig" und somit dauerhaft krank geschrieben zu deklarieren. Im Jahr 2009 fielen bereits 2,9 Millionen Menschen in diese Kategorie. 2011 wünschten sich 4,83 Millionen Menschen einen Job, doppelt so viele wie arbeitslos gemeldet waren.

Workfare als Zwillingsbruder des Billiglohns

Es sind diese Menschen, denen durch die konservativ geführten Krisenregierungen seit 2010 das Leben besonders schwer gemacht wird. Denn der britische Kapitalismus möchte sich die Kosten für die aufs Abstellgleis gestellten Menschen nicht mehr leisten. Bereits unter Thatcher wurden in den 1980er Jahren die ersten Workfare-Elemente eingeführt. 1996 kam mit Einführung der Job Seekers Allowance deren Institutionalisierung. In den Jahren 1997 bis 2010 setzen die New Labour-Regierungen unter Tony Blair und Gordon Brown diesen Kurs fort. Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe sind keine universellen Grundrechte mehr, sondern an Bedingungen geknüpft, die ihrerseits mit Strafsanktionen gegen Erwerbslose bei Zuwiderhandlung gegen die Bedingungen verbunden sind. "Wer nicht arbeiten will, soll auch keine staatliche Unterstützung bekommen." Das ist die Devise, nach der sich die Sozialpolitik der vergangenen Jahre zunehmend ausgerichtet hat.

Bei aller Wut auf die gegenwärtige konservative britische Regierung darf nicht vergessen werden, dass es die Labour-Partei war, die seit 1997 alle wesentlichen Grundsteine für das heute herrschende Austeritätsregime in Großbritannien legte. Labour - oder besser - New Labour konnte dies machen, weil es dem rechten, pro-kapitalistischen Flügel der Partei während der politischen Auseinandersetzungen der 1980er und 1990er Jahre gelungen war, alle wesentlichen antikapitalistischen, sozialistischen und marxistischen Parteiströmungen entweder hinauszuwerfen oder zu marginalisieren. New Labour ist somit als Zwillingsbruder des Thatcherismus zu charakterisieren. Thatcher selbst nannte Tony Blair ihren "größten Erfolg". Sowohl Blair als auch sein Nachfolger Gordon Brown luden Thatcher wiederholt in den Regierungssitz in Nr. 10 Downing Street ein, um so die Existenz einer ideologischen und politischen Kontinuität hervorzuheben.

Ab 2006 plante die Regierung Blair erste drastische Verschärfungen gegen Erwerbslose im Sozialsystem. Damit sollte der Grundstein für kommende massive Einsparungen gelegt werden. Plötzlich war in vielen Regierungsstatements von der "Armutsfalle Sozialstaatsabhängigkeit" die Rede. 2007 erschien ein von der Regierung in Auftrag gegebener Bericht mit dem Titel "Wohlfahrt zu Arbeit". 2008 wurde ein "Green Paper" veröffentlicht, das unter dem Titel "Wohlfahrt in Richtung Verantwortung reformieren" stand. Damit waren vor allem die Erwerbslosen gemeint. 2010 übernahm die neue konservativ-liberaldemokratische Koalitionsregierung die wesentlichen Empfehlungen dieser Dokumente. Von nun an hieß es: "Keiner soll durch Wohlfahrt mehr als durch Arbeit verdienen können." Eine zynische Auffassung, berücksichtigt man die bereits dargelegte Größe des britischen Niedriglohnsektors und dessen Entstehungsgeschichte.

Massive Preissteigerungen als Folge von Privatisierung

Als zusätzlicher Aspekt kommen die stetig steigenden Lebenshaltungskosten hinzu. Egal ob Miete, öffentlicher Nahverkehr, Kindereinrichtungen, Konsumgüter des täglichen Bedarfs oder Gas- und Stromversorgung: Während Löhne stagnieren oder gar sinken, steigen die Kosten. Auch für diese Entwicklung sind die politischen Entscheidungen seit den 1980er Jahren zu einem großen Teil mitverantwortlich. Denn unter Thatcher begann der systematische Verkauf öffentlichen Eigentums. Eisenbahnen, Busverbindungen, die Gas- und Stromversorgung, immer größere Teile des Gesundheits- und Bildungswesens befinden sich in privater Hand. Die britische Energieversorgung wird von einem Kartell aus sechs internationalen Großkonzernen beherrscht.

Diese engagieren sich nicht aus Nächstenliebe. Ihnen geht es ausschließlich um Profit. Und der entsteht durch die Auspressung der Bevölkerung. Die Kosten für Nahrungsmittel sind zwischen 2005 und 2013 um 43,5 Prozent gestiegen. Ein durchschnittlicher Haushalt gibt derzeit im Jahr über 1200 Pfund für Strom und Gas aus. 2004 waren das nur 793 Pfund. Das ist eine Preissteigerung von 168 Prozent. Pendler müssen durchschnittlich 14 Prozent ihres Jahreseinkommens für die öffentlichen Verkehrsmittel ausgeben. Ähnliche Zahlen ließen sich für die verschiedensten Lebensbereiche finden.

Eskalierende Schuldenkrise

Deshalb gibt es in Großbritannien ein eskalierendes Verschuldungsproblem. So haben inzwischen 7,8 Millionen Menschen Schwierigkeiten, ihre Miete zu bezahlen. 15 Millionen Menschen geben an, dass hohe Mieten in ihren Familien für Stress und Depressionen sorgen. Die Regierung Thatcher begann mit der Privatisierung kommunaler Wohnungen. Dies war mit dem Versprechen verbunden, dass alle Menschen in Bälde Hauseigentümer werden und somit der "Versklavung durch den Staat" entkommen würden.

Das Gegenteil ist der Fall. Immer mehr Menschen sehen sich mit befristeten und unsicheren Mietverhältnissen konfrontiert. Auch der Besitz eines Hauses bietet keine Rettung. Man geht davon aus, dass es zwischen 2015 und 2018 zu zwei Millionen Zwangsräumungen kommen wird, weil Hausbesitzer die Raten nicht mehr zahlen können. Es ist kein Wunder, dass 3,3 Millionen junge Erwachsene im Alter zwischen 20 und 34 Jahren weiterhin bei ihren Eltern leben.

In nordenglischen Städten wie Manchester und Liverpool sind mehr als 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung überschuldet. 58 Prozent dieser Menschen haben einen Job. 62 Prozent von ihnen sind Frauen. 75 Prozent aller Familien mit mittleren oder niedrigen Einkommen haben keine oder nur eine geringe, absolut unzureichende Alterssicherung. 8,8 Millionen Menschen sind bei ihren Ratenzahlungen mit mehr als drei Monaten im Rückstand.

Im Kapitalismus sind Schulden ein gutes Geschäft. Im vergangenen Jahrzehnt haben die "loan sharks" immer mehr an Bedeutung gewonnen. Dabei handelt es sich um Konzerne, die Darlehen anbieten, ohne Fragen zu stellen. Auf diese Darlehen werden dann saftige Zinsen verrechnet, die weit über denen normaler Banken liegen. Für Menschen, deren Geld vielleicht schon nach drei Wochen eines Monats komplett aufgebraucht ist, sind diese Firmen aber oft die letzte Rettung. Laut staatlichen britischen Statistiken hatte der Pay Day Loan-Sektor (Kreditgeschäft mit "Lohnvorauszahlung") im Jahr 2008 bereits einen Umfang von 900 Millionen Pfund. 2014 war diese Summe bereits auf 4,8 Milliarden Pfund angestiegen. (Siehe Kasten zur Verschuldung).

Das moderne Großbritannien ist eine Rentierökonomie. Ein Land, in dem aus Geld mehr Geld gemacht wird, und in dem Schulden immer weiter umgeschlagen und vergrößert werden. Dieser Zustand ist in sich krisenanfällig und wird nicht dauerhaft so weiter bestehen bleiben können. Für die Bevölkerung ist es bereits jetzt eine Katastrophe. Laut Food Bank-Betreiber Trussel Trust ist die Nutzung solcher Tafeln allein zwischen 2014 und 2015 um 163 Prozent angestiegen. 1,084 Millionen Menschen nahmen in diesem Zeitraum die auf drei Tage angelegten Nahrungsmittelpakete der Food Banks in Anspruch. Im aktuellen Jahr 2016 sind es gut 200.000 mehr.

Diese Lebensrealität zeigt Ken Loach in seinem neuen Film auf. Auf ihre Opfer bricht sie wie eine Naturkatastrophe herein. Doch sie ist menschengemacht. Und sie kann von Menschen verändert werden. Das wird auch zunehmend verstanden. So fordern heute fast 70 Prozent aller Briten die Verstaatlichung der großen Energiekonzerne. Junge Beschäftigte nehmen ihre schlechten Arbeitsbedingungen nicht länger kampflos hin. In den letzten Jahren kam es beispielsweise zu Streiks gegen Zero Hours-Verträge in der Nahrungsmittelindustrie. Hier liegt Potential für einen Widerstand, dessen Geschichte in den kommenden Jahren zu schreiben ist.

Verschuldung in Großbritannien

Die öffentlichen Schulden stiegen in Großbritannien von 1,2 Billionen britische Pfund im Jahr 2010 und aktuell mehr als 1,7 Billionen (oder 1.700 Milliarden Pfund, rund 2000 Milliarden Euro). Die Schuldenquote, also der Anteil der öffentlichen Schulden am britischen Bruttoinlandsprodukt, lag bis 2005 unter 50 Prozent. Inzwischen liegt diese Quote bei mehr als 92 Prozent. (Die italienische Quote liegt bei 130%, die französische bei knapp 100%, die deutsche bei 78%). Die britische Schuldenquote stieg auch in den letzten Jahren weiter an - trotz des im Artikel beschriebenen rigiden Austeritätskurses. Das heißt, dass einerseits die öffentlichen Ausgaben, die der durchschnittlichen Bevölkerung zu Gute kommen, zusammengestrichen werden. Andererseits gibt es nur eine sehr niedrige Besteuerung von Unternehmen und großen Vermögen, gepaart mit Steuergeschenken und Sonderförderungen für Banken und Konzerne.

Bedenklicher als die öffentlichen Schulden sind die privaten Schulden. Allein die Hypothekenschulden stiegen im Zeitraum 2000 bis 2016 von 600 Milliarden auf 1,3 Billionen britische Pfund. Hinzu kommen aktuell mehr als 200 Milliarden Pfund an privaten Konsumentenkrediten.

Ausgesprochen kritisch, wenn nicht explosiv, wird es, wenn man alle Schuldenkategorien zusammen nimmt und diese in Relation zum britischen Bruttoinlandsprodukt setzt. Die öffentlichen Schulden (= "Schuldenquote") machen, wie erwähnt, knapp 100 oder gut 90 Prozent des BIP aus. Die privaten Kredite bringen es auf weitere rund 100 Prozent des BIP. Die Bankschulden (Verschuldung des Finanzsektors) entsprechen 620 Prozent des BIP. Die übrige Wirtschaft ("non financial") hat Schulden, die nochmals 100 Prozent des BIP entsprechen. Alle Schuldenarten zusammengenommen bringen es auf 930 Prozent des BIP. Das ist Weltrekord.

Zum Vergleich: In den USA liegt diese Gesamtschuldenquote bei 320 Prozent. In der EU sind es 470 Prozent. In Japan - ein viel zitiertes Schuldenland - sind es 600 Prozent. Einsame Spitze ist dann Großbritannien, wo diese Quote bald bei 1000 Prozent liegen dürfte.

Alle Kommentatoren sagen, dass das "so nicht weitergehen kann". Doch alle Beteiligten und die Verantwortlichen lassen es so weiter laufen. Auch weil das Schuldenmachen und das Zinsgeschäft der wesentliche Motor ist, der die britische Ökonomie am Laufen hält.

Quellen: Haver Analytics + Morgan Stanley Research.


Christian Bunke ist freier Journalist, aus Marburg/L. stammend. Er lebte von 2000 bis 2010 in Manchester und war dort u.a. in der Journalistengewerkschaft NUJ aktiv und ist immer noch regelmäßiger Großbritannienreisender und Beobachter der sich stetig ausweitenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise auf der Insel.


VerwendeteQuellen:

Stewart Lansley, Britain's Livelihood Crisis, Hg.: TUC, 2011. Abrufbar unter:
https://www.tuc.org.uk/economic-issues/economic-analysis/touchstone-pamphlets/britains-livelihood-crisis

Michael Calderbank, The Cost of Living Crisis, Hg: TUCG, 2015. Abrufbar unter:
http://tucg.org.uk/publications/summary/5-public-services/67-cost-of-living-crisis

Christina Beatty und Andere, Benefit sanctions and homelessness: a scoping report, Hg: Crisis, 2015. Abrufbar unter:
http://www.crisis.org.uk/data/files/publications/Sanctions%20Report%202015_FINAL.pdf

Latests stats, Hg: The Trussell Trust, 2016. Abrufbar unter:
https://www.trusselltrust.org/news-and-blog/latest-stats/

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Inhaltsverzeichnis lunapark 21, Heft 34 - Sommer 2016

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Quelle:
Lunapark 21, Heft 34 - Sommer 2016, Seite 44 - 47
Herausgeber: Lunapark 21 GmbH, An den Bergen 112, 14552 Michendorf
Telefon: 030 42804040
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Internet: www.lunapark21.net
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. August 2016

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