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GROSSBRITANNIEN/009: Wie Corbyn das Unmögliche möglich machte (spw)


spw - Ausgabe 3/2017 - Heft 220
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Meinung
Wie Corbyn das Unmögliche möglich machte

von Mohammed Afridi


Innerhalb von nur acht Wochen hat die britische Labour-Partei unter Jeremy Corbyn eines der spektakulärsten Comebacks in der Geschichte der britischen Politik hingelegt. Dies sollte der neuen Linken in ganz Europa als Zeichen der Hoffnung dienen.

In Folge des Schock-Ergebnisses des 'Brexit'-Referendums im letzten Jahr, als 52 Prozent des Landes dafür stimmten, die EU zu verlassen, stürzte die britische Politik ins Chaos. Auf Seiten der politischen Rechten wurde Premierminister David Cameron - der das Referendum aus taktischen Beweggründen ausgerufen hatte, um die UKIP(1) und den rechten Flügel seiner eigenen Partei in Schach zu halten - gedemütigt und sah für sich keine andere Option als zurückzutreten. Auf der Linken witterten jene innerhalb der Labour-Partei, die den revoltenhaften Aufstieg Jeremy Corbyns und seine Spielart des Sozialismus abgelehnt und bekämpft hatten, eine Chance, ihn für das Ergebnis verantwortlich zu machen und lancierten innerhalb weniger Stunden einen koordinierten Coup, in dessen Folge Corbyn von 80 Prozent der Abgeordneten seiner eigenen Fraktion das Misstrauen ausgesprochen wurde.

Im Gegensatz zu Cameron weigerte sich Corbyn jedoch zurückzutreten und stellte sich stattdessen einer erbittert umkämpften Wahl um den Parteivorsitz. Das ganze Land schaute dabei zu, wie sich die Linke selbst zerfleischte, während die Rechte still und leise taktierte. Interne Machtkämpfe sorgten dafür, dass sich Theresa Mays innerparteiliche Gegner selbst aus dem Rennen nahmen und sie ersetzte David Cameron sowohl als Vorsitzenden der Konservativen Partei als auch als Premierminister.

Während eine gespaltene Labour-Partei in den Umfragen abstürzte, legten die Konservativen zu. May wurde schnell zu einer der beliebtesten PremierministerInnen in der modernen britischen Politik und ihr Vorsprung gegenüber Corbyn wuchs auf über 25 Prozentpunkte an.

Im Februar hatten die Konservativen das Land fest im Griff und Mays Popularität wuchs weiter. Obwohl sie dem Land versichert hatte, dass sie genau das nicht tun würde, rief Theresa May im April vorgezogene Neuwahlen aus. Öffentlich erklärte sie, die knappe Mehrheit von 14 Sitzen, über die ihre Regierung im Parlament verfügte, sei kein ausreichendes Mandat, um ihren Brexit-Kurs durchzudrücken. Im Stillen wusste sie, dass dies ihre Chance sein würde, ihre politischen Gegner zu dezimieren. Wenn man den ExpertInnen Glauben schenken konnte, steuerten die Konservativen auf eine Mehrheit von 100 Sitzen zu.

Für Corbyn war die Wahl gleichbedeutend mit einem Referendum über seine Parteiführung. Falls die ExpertInnen Recht behalten sollten und die Konservativen es schaffen würden, Labour auf eine Handvoll Abgeordnete im Parlament zu reduzieren, wäre dies das Ende des Corbyn-Projektes und das Ende des Sozialismus in der britischen Politik gewesen.

Zwei Jahre lang hatte sich Corbyn im Dauer-Wahlkampf befunden, um seine linke Politik zu verteidigen. Er hatte es entgegen aller Erwartungen geschafft, zum Vorsitzenden der Labour-Partei gewählt zu werden; im Vorfeld der Brexit-Abstimmung hatte er an mehr Pro-EU-Demonstrationen teilgenommen als jedes andere Mitglied seiner Partei. Als er sich zum zweiten Mal um den Vorsitz bewarb überstand er boshafte Attacken aus den Reihen seiner eigenen Partei. Nun war er bereit, den Kampf mit den Konservativen aufzunehmen.

Corbyn beugte sich dem Druck aus der eigenen Partei nicht und weigerte sich, in Richtung der politischen Mitte zurückzuweichen. Er machte sozialistische Positionen zum Eckpfeiler seiner Politik. Er veröffentlichte ein mutiges Wahlprogramm und forderte ein Ende der Austeritätspolitik, die Renationalisierung angeschlagener Industrien und massive staatliche Investitionen in die Wirtschaft. Seine KritikerInnen bezeichneten das Wahlprogramm als politischen Abschiedsbrief. Die Öffentlichkeit jedoch erkannte - nachdem ihr jahrzehntelang eingeredet worden war, Verzicht und Kürzungen seien der einzige Weg nach vorne -, was das Programm tatsächlich war: die Chance auf eine bessere Zukunft.

Die Konservativen, die sich hinter Theresa May versammelt hatten, starteten eine Wahlkampagne mit an Fokusgruppen getesteten Parolen. Sie verpassten der Partei unter dem Titel 'Team Theresa' ein neues Image, in der Hoffnung, aus ihrer Popularität Kapital zu schlagen. In Anlehnung an das "Make America Great Again" der Trump-Kampagne, wiederholten sie die immer gleichen Standardphrasen, um Mays Führungsqualitäten hervorzuheben und beschrieben sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit als "Strong and Stable" (stark und standhaft). Sie betrieben Wahlkampf mit einem einzigen Thema - dem Brexit. Ihre Argumentation war einfach: Es sei Corbyn nicht zuzutrauen, Europa die Stirn zu bieten und einen echten Brexit zu liefern.

Zunächst schien die Taktik der Konservativen aufzugehen. Aber im Laufe der Wochen begann Mays Unfähigkeit, ein Thema zu diskutieren, ohne dabei in hohle Phrasen zu verfallen, die Menschen zu desillusionieren. Mays Berater versteckten sie vor der Öffentlichkeit, sie weigerte sich, die Fragen von JournalistInnen zu beantworten und ihr Ruf als besonnene, bedachte Politikerin wandelte sich schnell in das Bild eines Roboters, der nicht sprechen kann, ohne sich dabei auf Schlagworte zu stützen.

Als die Konservativen ihr Wahlprogramm veröffentlichten, schien dies allein darauf ausgerichtet zu sein, die Basis des rechten Parteiflügels zu beschwichtigen. In Mays Programm war die Rede davon, die Fuchsjagd wieder zu erlauben, kostenlose Mahlzeiten für Schulkinder zu streichen und SeniorInnen das Eigenheim wegzunehmen, um für ihre Betreuung und Pflege im Alter zu zahlen. Das Wahlprogramm war weitgehend frei von Kostenkalkulationen und dort, wo es zur Untermauerung der vorgeschlagenen Maßnahmen Zahlen enthielt, erwies sich ein Großteil der Rechnungen als fehlerhaft.

Das öffentliche Misstrauen gegenüber May wuchs und auf einmal wirkte Corbyn mehr und mehr staatsmännisch. Während May sich vor der Öffentlichkeit versteckte, trat Corbyn bei Massenkundgebungen auf, die derartige Menschenmengen anzogen, dass sie eher an Musikfestivals erinnerten als an politische Veranstaltungen.

Dann, inmitten des Wahlkampfes, ereignete sich eine nationale Tragödie. Ein verblendeter, niederträchtiger kleiner Wicht attackierte ein Popkonzert in Manchester und griff gezielt Frauen und Kinder an. Alle politischen Parteien setzten den Wahlkampf aus und betrauerten geschlossen den sinnlosen Verlust von Menschenleben.

Nach dem Angriff richtete May ihre Aufmerksamkeit auf die muslimische Minderheit und verlangte von dieser, mehr zu tun, um dem Terror etwas entgegenzusetzen. Sie benutzte die Attacke, um weitere staatliche Eingriffe in die Privatsphäre zu rechtfertigen und eine Regulierung des Internets zu fordern.

Corbyn hingegen machte seine Grundüberzeugungen unmissverständlich klar und lenkte den Fokus der Debatte auf die Innen- und Außenpolitik. Er fragte, wie die Regierung behaupten könne, die Menschen zu beschützen, während sie doch im Namen der Sparpolitik zehntausende Stellen bei der Polizei gekürzt hatte. Er forderte einen Wandel in der Außenpolitik und stellte klar, dass wir nicht weiter Länder bombardieren können, ohne zu wissen, wie wir ihnen dann beim Wiederaufbau helfen können. Seine Botschaft war klar: Der Krieg gegen den Terror funktioniert nicht, und die Austeritätspolitik macht Großbritannien verwundbar und anfällig für Angriffe.

Als Details über den Angreifer die Öffentlichkeit erreichten, wurde deutlich, dass Mays Argumentation nicht aufrecht zu erhalten war. Die muslimische Gemeinschaft, in der der Angreifer gelebt hatte, hatte ihn fünf Mal der Polizei gemeldet. Als das Land abermals attackiert wurde, nun in London, offenbarten Gutachten, dass einer der Angreifer nicht nur der Polizei bekannt war, sondern zudem in einer Fernsehdokumentation über angehende Jihadisten einen Auftritt gehabt hatte.

Mays Argumentationslinie fiel zunehmend in sich zusammen und Corbyn erschien einmal mehr als logische, vernünftige Alternative zum rechten Rand. Dort, wo May sich der alten Politik der Spaltung bediente, bot Corbyn echte Lösungen an.

Corbyn führte den Wahlkampf auf der Grundlage seiner sozialistischen Politikansätze, die er der Öffentlichkeit bei jeder Gelegenheit vortrug und erklärte. Unterstützt wurde er von der Momentum-Organisation,(2) die moderne Technologien, Soziale Medien und einen neuen Ansatz für den Wahlkampf vor Ort einsetzte, den sie von der Bernie Sanders-Kampagne in Amerika übernommen hatte, um zehntausende Menschen zu mobilisieren und mit ihrer Hilfe an Millionen von Türen zu klopfen. Videos, die Momentum in den Sozialen Medien veröffentlichte, erreichten fast ein Drittel der NutzerInnen Sozialer Medien im Vereinigten Königreich. Die Botschaft war hoffnungsvoll, aufrichtig und erinnerte die Menschen daran, dass es richtig ist, nach einer besseren Zukunft zu streben. Corbyn begeisterte Millionen von Menschen mit einer echten Alternative zur Austeritätspolitik, die die britische Politik ein Jahrzehnt lang dominiert hat.

Trotz seiner phänomenalen Kampagne, trotz der von Momentum gestützten sozialen Bewegung in seinem Rücken, trotz des rapiden Anstiegs der Registrierung junger Menschen zur Wahl und ungeachtet seines Aufstiegs in den Umfragen, glaubten immer noch viele, die Wahl sei bereits entschieden, ein aussichtsloser Fall. In der Wahlnacht warteten die Leute darauf zu erfahren, ob Corbyn den Niedergang der Linken aufhalten könnte. Die Frage war, ob er zehn oder 110 Sitze im Parlament verlieren würde.

Aber als die Ergebnisse verkündet wurden, war klar, dass Corbyn, Labour und Momentum erreicht hatten, was viele für unmöglich gehalten hatten. Die Labour-Partei erlebte den größten Zuwachs an Sitzen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten konnte Labour Mandate hinzugewinnen. Die Mehrheit der Regierung im Parlament fiel in sich zusammen. Die Labour-Partei erhielt nicht nur viele der Sitze zurück, die sie während ihres Schwenks in die Mitte verloren hatte, sondern sie gewann auch neue hinzu. Kensington und Chelsea, einer der reichsten Bezirke des Landes, färbte sich zum ersten Mal in seiner Geschichte rot. Traditionelle Hochburgen der Konservativen wie Canterbury schwenkten um zu Labour. Die Jungen strömten in Rekordzahlen in die Wahllokale, um zum ersten Mal ihre Stimme abzugeben. Viele der WählerInnen, die Labour an die UKIP verloren hatte, kehrten zur Partei zurück. Überall im Land war der Umschwung zu Labour bemerkenswert. Insgesamt gewann die Partei 30 Sitze hinzu und die Regierungspartei, die gehofft hatte, 100 Sitze hinzuzugewinnen, verlor 13. May müht sich nun ab, eine Allianz mit der stramm rechten christlichen DUP(3) aus Nordirland zu formen, die Abtreibungen und LGBT-Rechte ablehnt und deren Wahlprogramm sich am besten als eine Art Bibel mit wöchentlicher Müllabholung umschreiben lässt.

Corbyn hat seinen KritikerInnen getrotzt, er hat allgemein anerkannten Auffassungen getrotzt, und er hat die ExpertInnen sprachlos zurückgelassen. Er hat eine Kampagne auf Basis seiner Grundüberzeugungen geführt und den Gedanken wiederbelebt, dass die Regierung ein Vehikel für einen positiven Wandel sein kann. Er hat für eine sozialistische Politik gekämpft - für den Grundgedanken, dass die Interessen der Vielen über den Interessen weniger Reicher stehen sollten.

Labour und Corbyn mögen diese Wahl verloren haben, aber die Wiederauferstehung der Partei ist ein Sieg für sich, und wenn heute eine weitere Wahl ausgerufen würde, könnte Labour zuversichtlich sein, diese zu gewinnen. Für Corbyn und die Linke bedeutet das Wahlergebnis Rehabilitierung. Für seine KritikerInnen - insbesondere für die verlorenen Söhne und Töchter, die Blairs Drittem Weg anhängen - bedeutet es, dass die Idee, dass man mit einem tatsächlich sozialistischen Programm eine nationale Wahl gewinnen kann, nicht länger abgetan werden kann - der demokratische Prozess hat das zur neuen allgemein anerkannten Auffassung werden lassen.


Mohammed Afridi ist Momentum-Aktivist und ehemaliger Leiter des Fundraisings für Jeremy Corbyn.


Anmerkungen

(1) UK Independence Party
(2) Momentum setzt sich für Jeremy Corbyn ein und unterstützt seine politischen Positionen innerhalb von Labour.
(3) Democratic Unionist Party

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 3/2017, Heft 220, Seite 5-7
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2017

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