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ITALIEN/120: 900 Aktenbände über Kriegsverbrechen unter der Besatzung Hitlerdeutschlands freigegeben (Gerhard Feldbauer)


Italien gibt 900 Aktenbände über Kriegsverbrechen unter Besatzung Hitlerdeutschlands frei

Parlamentspräsidentin Boldrini: Dokumente über 15.000 Opfer aus einem "Schrank der Schande"

Von Gerhard Feldbauer, 19. Februar 2016


Die italienische Abgeordnetenkammer hat ein Archiv mit Dokumenten aus Zeit der Besatzung Hitlerdeutschlands ins Internet gestellt. 900 Bände mit 30.000 Aktenseiten zeigen die Brutalität, mit der die Wehrmacht und die SS, unterstützt von italienischen Schwarzhemden, gegen Partisanen und die Zivilbevölkerung vorgegangen sind. Die Akten waren 1994 im Hauptquartier der Militärjustiz gefunden worden, nachdem sie jahrzehntelang versteckt in einem Panzerschrank gelegen hatten, dessen Türen zur Wand gedreht waren. Damit wurde die bereitwillige Kollaboration italienischer Faschisten und der Militärs des "Duce", die im kalten Krieg wieder gegen die Kommunisten in Stellung gebracht wurden, unter den Teppich gekehrt. Das fiel die meiste Zeit unter die Regierungen des faschistoiden Berlusconi, der sich offen zu einem "Bewunderer Hitlers" erklärte.

Die römische Zeitung La Repubblica zitierte die Parlamentspräsidentin Laura Boldrini, es sei ein "Aktenschrank der Schande". Die Dokumente zeigten das Schicksal von 15.000 Menschen. Sie sind eine Chronik über Geiselerschießungen, das Niederbrennen von Dörfern, Mord und Folter, wofür Beispiele stehen wie die Ardeatinischen Höhlen bei Rom (335 im März 1944 durch Genickschuss ermordete Geiseln), die Gemeinde Marzabotto (1.830 im September 1944 viehisch umgebrachte Bewohner) oder der Fall des SS-Henkers von Mailand, Hauptsturmführer Theodor Savaecke, in Italien verantwortlich unter anderem für die Ermordung von über 2.000 Juden und Widerstandskämpfern. Die Dokumente erinnern daran, dass die Kriegsverbrecher in der Bundesrepublik nie zur Verantwortung gezogen wurden und ihre Auslieferung nach Italien, wenn sie dort vor Gericht kamen, verweigert wurde. Dazu wurde 1949 bei Gründung der BRD auf persönliches Betreiben Adenauers der Artikel 16 in das Grundgesetz aufgenommen: "Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden".

Ein Beispiel ist besagter Henker Savecke, der 1999 in Turin angeklagt wurde und es öffentlich als "unverschämt" bezeichnen konnte, überhaupt vorgeladen zu werden. Der SS-Verbrecher, der später in Libyen an der Deportation von über 28.000 Juden beteiligt war und in Tunesien von den jüdischen Gemeinden 50 Millionen Francs und 43 Kilo Gold erpresste, konnte in der Bundesrepublik zum Leiter der Abteilung Hoch- und Landesverrat und schließlich zum stellvertretenden Chef der Sicherungsgruppe Bonn aufsteigen.

Bände der Chronik füllen die Aufzeichnungen über den Sturmbannführer und SS-Kommandanten von Rom, Herbert Kappler, der die Ermordung der 335 Geiseln in den Ardeatinischen Höhlen kommandierte und dabei mehrere Opfer persönlich erschoss. Im Sommer 1977 verhalfen deutsche Gesinnungskomplizen dem zu einer lebenslangen Haft verurteilten Verbrecher aus einem italienischen Gefängnis zur Flucht in die Bundesrepublik, wo er frenetisch gefeiert wurde. Auch diesmal verweigerte Bonn eine von Rom geforderte Auslieferung. Seit Adenauers Zeiten hatten führende Politiker der Bundesrepublik, darunter 232 Bundestagsabgeordnete und Mitglieder der Bundesregierung die Freilassung Kapplers gefordert.

Unter den 15.000 Opfern finden sich italienische Militärs und selbst Mitglieder der Königsfamilie, darunter die in den Ardeatinischen Höhlen ermordeten Generäle Simoni, Fenulli und Castaldi sowie Oberst Montezemolo, die antifaschistische Positionen bezogen hatten. Weiter Marfalda von Savoyen, die Tochter Vittorio Emanueles III. , der sich 1943 am Sturz Mussolinis beteiligt hatte. Auf Hitlers Befehl wurde sie in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, wo sie ums Leben kam. Seinen Schwiegersohn Graf Ciano, ebenfalls an seinem Sturz beteiligt, ließ Mussolini am 11. Januar 1944 hinrichten.

La Repubblica hebt das barbarische Verbrechen von Sant'Anna di Stazzema hervor, wo von der 16. Panzergrenadier-Division "Reichsführer SS" unter dem Kommando des Obersturmbannführers Walter Reder im Herbst 1944 560 Einwohner, alles Zivilisten, darunter 120 Kinder unter sechszehn Jahren und acht schwangere Frauen viehisch abgeschlachtet wurden. Bundespräsident Gauck, der 2013 die Gedenkstätte besuchte, hatte die Stirn zur Tolerierung dieser barbarischen Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz zu sagen, "im Fall des Massakers von Sant'Anna reichten die Instrumente des Rechtsstaates nicht aus, um Gerechtigkeit zu schaffen."

Ob die Zahl der Opfer vollständig erfasst wurde, bleibt offen. Der Militärhistoriker der Bundesrepublik Gerhard Schreiber schrieb in "Deutsche Kriegsverbrecher in Italien" (München 1996): "Im statistischen Mittel wurden in der Salo-Republik, ohne die gefallenen Partisanen und regulären Soldaten, täglich 165 Kinder, Frauen und Männer jeden Alters umgebracht."

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2016

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