Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → POLITIK


ITALIEN/147: Seit 2007 hat sich die Zahl der Ärmsten in Italien verdoppelt (Gerhard Feldbauer)


Seit 2007 hat sich die Zahl der Ärmsten in Italien verdoppelt

Der Sozialarbeiter Armando Semanasanta aus Neapel nennt das "eine Schande für Italien"

Von Gerhard Feldbauer, 11. Oktober 2016


In Italien wächst die Armut schockierend an. Wie ein Bericht der Caritas Italiana vom 7. Oktober feststellte, ist die Zahl der Ärmsten seit 2007 von 1,8 auf 4,6 Millionen angestiegen und hat sich damit in sieben Jahren fast verdoppelt. "Die Armut betrifft heute im Gegensatz zu früher die ganze Gesellschaft und nicht nur einzelne Gruppen" heißt es. Neu sei eine wachsende Armut auch in Nord-Ost-Italien, wie in Friuli, aber auch in der Lombardei und der Emilia Romagna, also in Regionen mit einer hohen produktiven Struktur. Wenn dort kleine und kleinste Betriebe schließen müssten, erhielten die Betroffenen keinerlei sozialen Beistand. Der Bericht hält fest, dass die von Premier Renzi eingeleiteten Maßnahmen - 500 Millionen im Haushalt für 2016 und eine Milliarde für nächstes Jahr - unzureichend sind und für 2017 auf wenigstens zwei Milliarden erhöht werden müssten. Vor allem werde ein neues Sozialsystem mit einer gesellschaftlichen Vernetzung benötigt.

Armando Semanasanta aus S. Sebastiano, einem Stadtteil von Neapel, der in einem Sozialzentrum arbeitet, vermerkt, dass es in Italien für die Betroffenen keine garantierte Sozialhilfe gibt. Alles in allem werden monatlich 600 Euro gezahlt, ohne Zusätze für Miete, Medikamente, für Kinder oder sonstige Ausgaben. Seit Ausbruch der weltweiten Wirtschaftskrise 2007 steige die Armut "in einem ständig wachsenden Tempo an. Es sind vor allem Familien mit drei und mehr Jugendlichen im Süden, aber es sind, wenn auch etwas weniger schlimm, in der überwiegenden Mehrzahl praktisch alle Familien der Ärmsten betroffen. Jugendliche über 18 Jahre, die noch nie eine Arbeit gefunden haben, erhalten keinerlei Unterstützung. Durch die zunehmende Finanzkrise können auch die Gemeinden diesen Menschen kaum noch helfen." Semanasanta schildert das Elend, mit dem er täglich konfrontiert ist: "Diese Menschen sind unterernährt, ihnen fehlt eine ärztliche Versorgung, ganz zu schweigen von der Misere im Gesundheitswesen, zu der gehört, dass in den Vororten oft keine Ärzte praktizieren. Sie leben in jämmerlichen Behausungen, oft ohne Strom und Heizung, viele haben gar keine Wohnung und sind obdachlos. Hier liegen Wurzeln für die Kriminalität, die wachsende Prostitution, weil Frauen sich verkaufen müssen, damit ihre Familien nicht verhungern".

Norma Mattarei, eine Italienerin, die in München bei der deutschen Caritas arbeitet, verweist darauf, dass viele Mittelschichtsfamilien die Studiengebühren für ihre Kinder nicht mehr aufbringen können. "Früher war das undenkbar. Heute gehen immer mehr Leute, die man einst zu den Wohlhabenden zählte, zu den Suppenküchen der Kirchen zum Essen. Ich sehe täglich, wie Duzende von Italienern hier ankommen und eine Arbeit suchen. Es sind qualifizierte Fachkräfte und Ungelernte, die keine Möglichkeit hatten, einen Beruf zu erlernen". Norma Mattarei nennt es einen Skandal, dass Italien sich an vielen Militäreinsätzen in der ganzen Welt beteiligt, die Rüstungsausgaben enorm sind, es aber seine sozialen Probleme nicht löst".

Armando Semanasanta verweist darauf, dass die Armut unzählige Italiener in die Fremde treibt. Gerade hat die Fondazione Migrantes gemeldet, dass 2015 107.529 Italiener ausgewandert sind, 10.000 mehr als im Vorjahr. Darunter waren 40.000 Jugendliche. Ende 2015 lebten 4.811.163 Italiener, einer von Zwölf Einwohnern, im Ausland. Die Hälfte stammt aus dem Süden. Dort gibt es Gemeinden wie Licate und Favara in Sizilien, wo 40 Prozent und mehr ausgewandert sind. Unter den Jugendlichen "wachse aber auch der Anteil von Akademikern, die nach ihrem Studienabschluss keine Arbeit finden. Ebenso steige die Zahl der qualifizierten Facharbeiter über 40, die arbeitslos geworden, kaum eine Chance haben, jemals wieder eine Arbeit zu finden". Semanasanta nennt das "eine Schande für Italien". La Repubblica meldet am Sonntag, dass seit 2007 die Arbeitslosenzahl um 5 Prozent gestiegen ist.

*

Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang