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GEWERKSCHAFT/003: Gewerkschaften in Italien (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Gewerkschaften in Italien

Studie von Michaela Namuth
September 2012



Inhalt

1. Gewerkschaftslandschaft
    1.1 Wendepunkte italienischer Gewerkschaftspolitik
    1.2 Die wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen
    1.3 Mitgliederstruktur
    1.4 Probleme gewerkschaftlicher Organisation

2. Gewerkschaften und ihre Kernaufgaben
    2.1 Tarifverhandlungen und Tarifpolitik
    2.2 Sozialdialog und Arbeitsmarktreform

3. Gewerkschaften und ihr politisches Gewicht
    3.1 Politische Herausforderungen
    3.2 Die Strategie der Gewerkschaften

4. Perspektiven der nächsten Jahre
    4.1 Das wachsende Heer der prekär Beschäftigten
    4.2 Neue Formen der Arbeitnehmerbeteiligung

*

• Die drei großen italienischen Gewerkschaftsbünde CGIL, CISL und UIL zählen zusammen 12,5 Millionen Mitglieder, von denen jedoch fast die Hälfte Rentner sind. Der durchschnittliche Organisationsgrad liegt bei 30 Prozent. Am stärksten sind die Gewerkschaften in der Dienstleistungsbranche, wo 70 Prozent aller Arbeitnehmer beschäftigt sind.

• Die Bedingungen, unter denen die Gewerkschaften agieren, werden durch die traditionell hohe Anzahl von kleinen Unternehmen erschwert sowie durch die Vielzahl »atypischer Arbeitsverhältnisse«, die derzeit bis zu 80 Prozent der Neueinstellungen in der Privatwirtschaft ausmachen.

• Tarifverhandlungen finden in Italien auf zwei Ebenen statt: Branchen- und Betriebsebene, manchmal auch auf der Ebene lokaler Industriedistrikte. Mit dem trilateralen Abkommen von 2009, das die CGIL nicht unterzeichnete, wurde der Flächentarifvertrag für abweichende Betriebsvereinbarungen bzw. Hausverträge geöffnet.

• Der soziale Dialog zwischen Spitzenverbänden und Regierung wurde unter Berlusconi unter Ausschluss der CGIL geführt. Mit der Regierung Monti ist die CGIL-Vorsitzende Susanna Camusso jedoch wieder zu den Verhandlungen über Rentenund Arbeitsmarktreformen zurückgekehrt. Nachdem die Regierung im Juli 2012 allerdings weiteren Sozialabbau ankündigte, haben alle drei Dachverbände einen Generalstreik angedroht.

• Die italienischen Gewerkschaften profitieren von der andauernden Parteienverdrossenheit der Italiener. Ihre Vertrauensquote als Maß für die gesellschaftliche Akzeptanz hat bei Umfragen den Rekordwert von 34 Prozent erreicht.


1. Gewerkschaftslandschaft

Die italienische Gewerkschaftslandschaft ist geprägt durch die Präsenz der drei großen Richtungsgewerkschaften CGIL (Confederazione Italiana Generale del Lavoro), CISL (Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori) und UIL (Unione Italiena del Lavoro). Bis zum Beginn der 1990er Jahre stand jeder der Dachverbände einer Partei nahe: die CGIL der Kommunistischen Partei, die CISL dem sozialorientierten Flügel der Christdemokraten und die UIL den kleinen laizistischen Parteien (Sozialisten, Sozialdemokraten, Republikaner). Mit dem alten Parteiensystem löste sich in den letzten 20 Jahren aber auch die direkte Parteienbindung der Gewerkschaften. Allerdings sind sie ihren politischen Ausrichtungen tendenziell treu geblieben. Die CGIL orientiert sich mehrheitlich an der sozialdemokratischen Partito Democratico, eine kritische Minderheit auch an den linkeren Nachfolgeparteien der KPI; in der CISL unterstützt der gegenwärtige Vorsitzende das Projekt, die in verschiedenen Parteien verstreuten Christdemokraten wieder zu einer politischen Bewegung zu vereinen; und die UIL betont weiterhin ihre laizistisch-republikanische Tradition.

Derzeit sind in den drei großen Dachverbänden 12,5 Millionen Mitglieder eingeschrieben.(1) Diese vergleichsweise starke Präsenz ist zum einen dem hohen Rentneranteil von fast 50 Prozent geschuldet, zum anderen konnten CGIL und UIL im Jahr 2011 aber auch einen reellen Mitgliederzuwachs verzeichnen. Alle drei Bünde sind im öffentlichen Dienst am stärksten vertreten. In der Industrie hatte die CGIL bisher die meisten Mitglieder, deren Zahl durch die starke Schrumpfung der Branche aber zurückgegangen ist.


1.1 Wendepunkte italienischer Gewerkschaftspolitik

In der jüngeren Geschichte der italienischen Gewerkschaften sind vier Zäsuren von Bedeutung:

In den 1960er und 1970er Jahren konnten die drei Bünde zwar nicht die damals noch angestrebte Einheitsgewerkschaft erreichen, dafür aber andere wichtige Ziele: den Anstieg der Mitgliederbasis um 80 Prozent und des Organisationsgrades auf über 50 Prozent, die Anpassung der Löhne an die Inflation (scala mobile) und 1970 die Verabschiedung des Arbeitnehmerstatuts, das bis heute die wichtigste gesetzliche Grundlage für die Arbeitnehmerrechte darstellt.

Das Jahr 1980 bedeutet eine Wende in den Industriebeziehungen Italiens. Damals verloren die Metallgewerkschaften aufgrund der Entsolidarisierung des betrieblichen Mittelbaus (Ingenieure, Meister und Vorarbeiter) eine Kraftprobe mit dem Fiat-Konzern, dem bis heute größten privaten Arbeitgeber Italiens. Die Folge war ein genereller Machtverlust der Gewerkschaften. Dieser verlief parallel zu den Dezentralisierungsmaßnahmen der Unternehmen in den 1980er Jahren, die größere Betriebe in kleinere Produktionseinheiten (oft Zulieferbetriebe) aufteilten und somit die gewerkschaftliche Vertretung unterliefen, die im Arbeitnehmerstatut ab 16 Beschäftigten vorgesehen ist.

Eine weitere Zäsur war das Abkommen von 1993 zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierung, das im Ansatz die erste konzertierte Aktion darstellte. Es sah u. a. die Abschaffung der scala mobile, die Einführung eines neuen betrieblichen Vertretungssystems, des sogenannten RSU (Rappresentanza Sindacale Unitaria), sowie die Möglichkeit des Abschlusses von Betriebsvereinbarungen vor.

Mit dem Abkommen von 2009 wurde das gesamte Tarifverhandlungssystem revidiert. Die Branchentarifverträge können jetzt auf Unternehmensebene angepasst werden. Das Abkommen wurde von CISL, UIL und der rechtsorientierten UGL, nicht aber von der CGIL unterzeichnet. Das erklärte Ziel der Berlusconi-Regierung, die Spaltung der gewerkschaftlichen Handlungseinheit, war erreicht - zumindest auf zentraler Ebene.

Seit den 1990er Jahren sind im privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich aber auch neue, konkurrierende Organisationen entstanden: spontan agierende Basisgewerkschaften und Vereinigungen von prekär Beschäftigen, die sich von den Gewerkschaften und ihrer traditionell auf den Lohnkonflikt konzentrierten Strategie nicht vertreten fühlen.


1.2 Die wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen

Der Organisationsgrad beträgt heute - nach Angaben der ICTWSS-Datenbank - rund 35 Prozent (unter Abzug des Rentneranteils).

Tabelle 1: Die wichtigsten Organisationen (mit Mitgliedszahlen nach eigenen Angaben)


Politische
Orientierung
 Mitglieder 2011

Differenz 2010/2011
Vorsitzender

CGIL
(mit 11 Branchenverbänden und
einer Rentnerorganisation)
ehemals Kommunistische
und Sozialistische
Partei
 5,8 Mio. (davon 3 Mio.
 Rentnerorganisation SPI)
 SPI)
+ 27.700


Susanna Camusso


CISL
(mit 18 Branchenverbänden und
einer Rentnerorganisation)
ehemals Christdemo-
kratische Partei

 4,5 Mio. (davon 2,2 Mio.
 Rentnerorganisation FNP)

- 56.971


Raffaele
Bonanni

UIL
(mit 14 Branchenverbänden und
einer Rentnerorganisation)
ehemals Republika-
nische und Liberale
Parteien
 2,2 Mio. (davon 0,6 Mio.
 Rentner)

+ 11.531


Luigi Angeletti



Weitere größere Organisationen sind: CISAL und CONFSAL (beides Dachverbände von autonomen Gewerkschaften), COBAS (Dachverband der lokal agierenden Basiskomitees) und UGL (Gewerkschaft der rechten Alleanza Nazionale, ehemals CISNAL). Außer den COBAS, die keine konkreten Angaben machen, behauptet jeder dieser Verbände knapp 2 Millionen Mitglieder zu haben. Diese Zahlen gelten als eher unwahrscheinlich und die Debatte um gefälschte Mitgliedszahlen, vor allem bei der UGL, flammt immer wieder auf. Auch innerhalb der großen Gewerkschaften sind nicht alle Mitglieder, die als Arbeitnehmer und nicht als Arbeitslose gelten, tatsächlich beschäftigt. Stattdessen wird eine in der Krise ständig wachsende Zahl von Arbeitnehmern und Mitgliedern von der Kurzarbeitskasse CIG (Cassa Integrazione Guagagni) bezahlt, die somit als beschäftigt gelten, während sie de facto arbeitslos sind.

Die Gewerkschaften sind vor allem in der Energie- und Metallbranche sowie dem öffentlichen Dienst am stärksten vertreten. Insbesondere im Energiesektor existieren nach wie vor große, ehemalige Staatskonzerne wie ENEL und ENI, in denen die gewerkschaftlichen Strukturen traditionell stark ausgeprägt sind.(2) Im Metallsektor hat der Austritt des Autokonzerns Fiat aus dem Arbeitgeberverband, die daraus folgende Kündigung des geltenden Branchentarifvertrags sowie der rechtswidrige Ausschluss von Mitgliedern der CGIL-FIOM aus der Niederlassung Pomigliano eine schwierige und konfliktgeladene Situation geschaffen. Im öffentlichen Dienst haben sich die Gewerkschaftsstrukturen zunehmend fragmentiert. Nach Berechnungen der staatlichen Agentur ARAN gehören hier 80 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder den drei großen Verbänden an, der Rest verteilt sich auf gut 700 verschiedene Organisationen. Die COBAS sind in Verwaltung, Schulen und Krankenhäusern besonders stark vertreten. Generell besitzen alle Gewerkschaften in der Dienstleistungsbranche, in der 70 Prozent aller Beschäftigten tätig sind, die meisten Mitglieder.


1.3 Mitgliederstruktur

Die Mitgliederstruktur der beiden großen Bünde und ihrer Branchenorganisationen hat sich in den vergangenen Jahren zugunsten eines höheren Frauenanteils verändert. Dieser betrug 2011 bei CGIL und CISL 48 Prozent. Innerhalb der CGIL sind auch 50 Prozent der Führungsposten des Dachverbandes mit Frauen besetzt, die CISL hat eine Quote von 30 Prozent. Das deutlichste Zeichen für diesen Wandel ist, dass mit Susanna Camussa als CGIL-Chefin zum ersten Mal eine Frau an der Spitze einer italienischen Gewerkschaft steht. Der Anteil der unter 35-jährigen an den aktiven Mitgliedern beträgt bei allen drei Bünden weniger als ein Viertel. Der Anteil der Immigranten an der Gesamtsumme der Mitglieder (inklusive Rentner) betrug 2010 bei der CGIL 8,4 Prozent, bei der CISL 6,6 Prozent und bei der UIL 9,5 Prozent.

Bei den Immigranten liegt der Organisationsgrad mit 35 Prozent höher als bei den italienischen Arbeitnehmern. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen sind ihre Arbeits- und Lebensbedingungen deutlich schlechter, und sie bekommen in der Regel keine Stelle im öffentlichen Dienst. Zum anderen sind schätzungsweise 500.000 Einwanderer schwarz beschäftigt und fallen somit aus jeder Statistik. Tausende von ihnen arbeiten bei der Tomatenernte im Süden in einem Tagelöhnersystem, bei dem die Aufseher rund ein Drittel des Lohns einbehalten, der ohnehin kaum über 30 Euro am Tag hinausgeht. Ein großer Erfolg für die Gewerkschaften war 2011 die Verabschiedung eines Gesetzes, das das caporalato für illegal erklärt.


1.4 Probleme gewerkschaftlicher Organisation

Eines der Hauptprobleme der gewerkschaftlichen Vertretung ist die fragmentierte Wirtschaftsstruktur. Dies gilt einerseits für die Dimension der Unternehmen, von denen knapp 90 Prozent weniger als 16 Arbeitnehmer beschäftigen und somit das Arbeitnehmerstatut umgehen, andererseits fordert aber auch das Nord-Süd-Gefälle flexible und unterschiedliche Strategien. Im industrialisierten Norden herrscht trotz steigender prekärer Beschäftigung die Tradition einer betrieblichen Gewerkschaftskultur, im strukturschwachen Süden sind hingegen vor allem politische Ziele wie die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und Mafia von Bedeutung. In den vergangenen Jahren sind mehrere Gewerkschafter in Süditalien von der Mafia ermordet worden.

In Italien existiert kein Arbeitsgesetzbuch wie der französische code du travail und auch kein ausformuliertes Betriebsverfassungsgesetz. Die Materie wird von einer unübersichtlichen Anzahl von Tarifverträgen, Abkommen, Betriebsvereinbarungen und Regierungsgesetzen geregelt. Das wichtigste Gesetz ist das Arbeitnehmerstatut, das die Gewerkschaftsrechte und Arbeitsplatzsicherheit garantiert. Der Artikel 18 des Statuts, der den Kündigungsschutz regelt, ist seit Jahren Gegenstand heftiger politischer Auseinandersetzungen. Unter Regierungschef Mario Monti wurde er 2012 verändert, um Entlassungen zu erleichtern. Die Tarifgesetzgebung wurde in den letzten Jahren mehrmals durch Abkommen der Spitzenverbände reformiert. Diese haben in Italien eine große praktische Bedeutung, ähnlich wie in Deutschland ein Tarifvertrags- oder ein Betriebsverfassungsgesetz.


2. Gewerkschaften und ihre Kernaufgaben
2.1 Tarifverhandlungen und Tarifpolitik

Das Abkommen von 2009, das dem Druck des Arbeitgeberverbands nachgab, den Flächentarifvertrag zugunsten von abweichenden Unternehmensabkommen zu öffnen, war Ausdruck einer der schwersten Krisen der italienischen Gewerkschaftseinheit, die zumindest auf Verhandlungsebene meist Bestand hatte. Im Gegensatz zu CISL und UIL erkannte die CGIL das neue, flexiblere Verhandlungssystem nicht an. Sie kritisierte, dass die neuen Regelungen die Vereinbarungen auf Branchenebene unterlaufen würden und die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen auf die Steigerung der Produktivität und damit auf die Senkung der Realeinkommen abziele.(3) Bei einer Mitgliederabstimmung votierten 3,4 von 3,6 Millionen wählenden CGIL-Mitgliedern gegen das Abkommen. Trotz der Kritik an dem Rahmenabkommen unterzeichneten die Branchenverbände der CGIL, gemeinsam mit CISL und UIL, in der Folge die meisten Verträge in ihrem Bereich.

Die Tarifverhandlungen finden in Italien vor allem auf zwei Ebenen statt: Branchen- und Betriebsebene, manchmal auch auf der Ebene lokaler Industriedistrikte, die aus einem Netz kleinerer Unternehmen bestehen. Auf der Branchenebene geht es um Lohnerhöhungen und die Anpassung der Löhne an die zu erwartende Preisentwicklung. Hier werden aber auch Fragen der Arbeitszeit, Arbeitsorganisation und Informationsrechte verhandelt. Das Abkommen von 2009 sieht vor, dass sich Lohnerhöhungen nicht mehr an Inflationsprognosen, sondern an dem Europäischen Verbraucherpreisindex für Italien orientieren.

Über den Deckungsgrad der Tarifverhandlungen existieren keine amtlichen Statistiken. Nach EIRO-Schätzungen (European Industrial Relations Observatory) lag er 2009 bei über 80 Prozent. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass viele Kleinunternehmen, die weder Steuern noch Sozialabgaben bezahlen, bei solchen Schätzungen nicht erfasst werden.

Auf Betriebsebene verhandeln die RSU-Arbeitnehmerorgane, bei denen es sich im Wesentlichen um Gewerkschaftsvertretungen handelt, auch wenn sie in der Regel von der gesamten Belegschaft gewählt werden. Die RSU haben bei Themen wie Arbeitsbedingungen und Entlassungen ein Informations- und Anhörungsrecht. Betriebsvereinbarungen sind in Italien bislang aber eher ein Ausnahmefall. Nach Schätzungen der Gewerkschaften sind 30 bis 40 Prozent der italienischen Arbeitnehmer von solch einer Abmachung betroffen. Die 2009 eingeführten Lohnverhandlungen auf Betriebsebene sollen betriebsspezifische Situationen berücksichtigen, wie z. B. Produktivitätssteigerungen und drohenden Arbeitsplatzabbau. Diese neuen Hausverträge können Branchentarifverträge - oder Teile davon - außer Kraft setzen.

Mit dem letzten Abkommen vom 28. Juni 2011, das als Art. 8 des Dekretes 138/2011 gesetzlich verankert wurde, einigten sich die drei großen Gewerkschaften wieder auf eine gemeinsame Position und vereinbarten mit dem Arbeitgeberverband Confindustria neue Regelungen, welche die Vereinbarung von 2009 über die Dezentralisierung der Tarifverhandlungen zwar nicht revidieren, jedoch eine stärkere Kontrolle der Gewerkschaften über Betriebsverträge garantieren:

Die wichtigsten Punkte dieser Vereinbarung sind:

Öffnung von Flächentarifverträgen: In Krisensituationen kann die RSU innerbetriebliche Sonderregelungen mit dem Arbeitgeber treffen und von Branchentarifen abweichen. Diese Abweichungen bedürfen jedoch der Zustimmung der übergeordneten Gewerkschaftsinstanzen. Damit soll die Aufstellung von Gewerkschaften, die in Wirklichkeit von der Geschäftsleitung kontrolliert werden, verhindert werden.

Rechtsverbindlichkeit der Hausverträge: Diese sind künftig auch für Minderheitsgewerkschaften rechtlich bindend, die sich gegen den Tarifvertrag ausgesprochen haben - außer die Hälfte der Belegschaft stimmt gegen den Vertrag. Von der RSU geschlossene Tarifverträge gelten wie eine deutsche Betriebsvereinbarung für alle Arbeitnehmer des Betriebes.

Tariffähigkeit einer Gewerkschaft: Diese gilt, sobald eine Gewerkschaft mehr als fünf Prozent der Arbeitnehmer einer Branche organisiert. Die Messung wird von öffentlichen Institutionen durchgeführt und am Ende amtlich bestätigt. Nur repräsentative Gewerkschaften dürfen Kandidaten für die RSU aufstellen und Hausverträge abschließen.


2.2 Sozialdialog und Arbeitsmarktreform

Der Sozialdialog hat in Italien immer auch als politischer Tausch funktioniert. Eines der wichtigsten Symbole dieser Politik ist die Kurzarbeitskasse CIG, die bei Unternehmenskrisen einspringt und zum Teil vom Staat finanziert wird. Sie garantiert dem Staat sozialen Frieden, den Arbeitgebern den flexiblen Einsatz von Arbeitskräften und den Gewerkschaften ein höheres Reservoir an Mitgliedern. Die CIG fungierte bislang als Ersatz für eine allgemeine Arbeitslosenunterstützung. Sie gewährt ein soziales Netz, allerdings nur für die Arbeitnehmer in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten. Auch einzelne Vereinbarungen - wie das trilaterale Anti-Krisen-Abkommen von 1993 unter der Übergangsregierung von Carlo Azeglio Ciampi - waren Ausdruck eines funktionierenden Sozialdialogs und einer Politik der Konzertierung.

Unter der Regierung Berlusconi ist aus diesem Dialog ein direkter Konflikt mit der CGIL geworden. Der damalige Arbeitsminister Maurizio Sacconi schloss die größte Gewerkschaft des Landes von den meisten bilateralen Gesprächen aus. Hingegen plädierte CISL-Generalsekretär Raffaele Bonanni damals wie heute für eine konzertierte Aktion mit der Regierung - auch ohne CGIL. Die Spaltungspolitik der Regierung gipfelte im Abkommen von 2009, das die Tarifmacht der Gewerkschaften schwächte. Allerdings stärkte diese Konfliktsituation die Position der CGIL als politischer Akteur. 2002 rief der damalige Generalsekretär Sergio Cofferati zu einer Demonstration auf, um gegen die geplante Änderung des Kündigungsschutzes und die unsoziale Politik der Berlusconi-Regierung zu protestieren. Drei Millionen Menschen folgten dem Aufruf. Die Demonstration gilt heute als eine der bedeutendsten Protestaktionen der Nachkriegsgeschichte Italiens.

Die Regierung Monti signalisierte zu Beginn ihrer Amtszeit die Bereitschaft zu einem Dialog mit allen drei Dachverbänden. Die Verhandlungen um die Reform der Renten und des Arbeitsmarktes gestalteten sich allerdings zäh und langwierig. Am Ende entschied das Kabinett in beiden Fällen ohne den offiziellen Konsens der Sozialparteien. Sowohl die Gewerkschaften als auch Confindustria kritisierten einen Teil der Maßnahmen. Die Rentenreform sieht eine Anhebung des Pensionsalters für Männer und Frauen bis 2018 auf 67 Jahre vor. Nach der Verabschiedung gab Arbeits- und Sozialministerin Elsa Fornero zu, dass ihr ein Rechenfehler unterlaufen war, der zur Folge hat, dass sich nach Regierungsangaben 130.000 Arbeitnehmer (die Sozialversicherungsanstalt INPS spricht von 390.000) in einem Schattenbereich wiederfinden, in dem sie weder das Recht auf einen Arbeitsplatz noch auf Rentenbezüge haben. Daraufhin präsentierte Fornero einen Vorschlag, der das Problem aber nur für einen Teil der Betroffenen und lediglich für zwei Jahre, nicht aber für die Folgezeit löst.

Die drei großen Gewerkschaften hielten sich bei Protesten gegen die Rentenreform zurück, weil sie bezüglich der Arbeitsmarktreform auf einen Dialog setzten. Tatsächlich konnten sie letztlich die Aufhebung der Formel erreichen, die eine Wiedereingliederung eines ungerechtfertigt gekündigten Arbeitnehmers durch eine Abfindung ersetzen sollte. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass die Unterstützung der CIG zugunsten einer allgemeinen Arbeitslosenunterstützung abgebaut werden solle. Diese greift allerdings nur bei Arbeitsplatzverlust. Jugendliche auf der Suche nach einem ersten Job und prekär Beschäftigte bleiben wie bisher ohne soziale Absicherung.

Die Abschaffung der CIG, die einerseits die Beschäftigung in der Industrie auf einem statistisch höherem, aber nicht realen Niveau hält und anderseits bislang ungeschützte Massenarbeitslosigkeit verhindert hat, steht für das Ende einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen den Sozialparteien. Die Kritik der CGIL richtet sich daher auch nicht vorrangig gegen die Abschaffung dieses Instruments, das in der Tat einen Dualismus zwischen älteren Arbeitsplatzbesitzern und jüngeren Arbeitslosen geschaffen hat, sondern gegen das Fehlen eines gleichwertigen oder besseren Ersatzes zur sozialen Abfederung.

Im Juli 2012 bezeichnete der Ministerpräsident Mario Monti bei einer Rede vor dem Bankenverband ABI die Konzertierung als »Ursache jener Übel, die wir heute bekämpfen«, wofür er von allen Gewerkschaftbünden kritisiert wurde. Ein neues Einverständnis scheint sich hingegen zwischen den Gewerkschaften und dem neuen Vorsitzenden des Arbeitgeberverbandes, Giorgio Squinzi, zu entwickeln. Bei einem Treffen mit der CGIL-Chefin Susanna Camusso kündigte der Präsident der Confindustria im März 2012 an, dass er für mehr Konzertierung und weniger Konflikt plädiere und warnte vor einem »sozialen Kahlschlag«.

Die Regierung Monti hat auch die personelle Ausdünnung des Nationalen Rats für Wirtschaft und Arbeit (CNEL) beschlossen, einem klassischen Instrument konzertierten Handelns. Die bestehende Zusammensetzung wird dabei proportional erhalten. Künftig sitzen in dem Gremium zehn Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsexperten, 22 Arbeitnehmervertreter (statt 44), neun Vertreter von Selbständigen (statt 18) und 17 Arbeitgebervertreter (statt 37).


3. Gewerkschaften und ihr politisches Gewicht
3.1 Politische Herausforderungen

Die größte politische Herausforderung für die italienischen Gewerkschaften liegt aktuell in der neoliberalen Anti-Krisenpolitik der Regierung Monti. Deren erklärtes Ziel ist es, den Staatshaushalt vor dem Bankrott zu retten und Italien vor dem Ausschluss aus der Eurozone zu bewahren. In diesem Sinne sollen alle Maßnahmen starke Signale an die Finanzmärkte darstellen, was vor allem Kürzungen der Sozialabgaben bedeutet. Bislang hat die Regierung keinen Investitionsplan für eine Wachstumspolitik vorgelegt, obwohl sich die Lage kontinuierlich verschlechtert. Die Industrieproduktion ist seit 2008 um 25 Prozent gesunken, die Arbeitslosenquote der unter 25-jährigen liegt bei 36,2 Prozent (Mai 2012) und erreicht in manchen Südregionen 50 bis 60 Prozent. Nach den jüngsten Daten des statistischen Landesamtes ISTAT leben elf Prozent der italienischen Haushalte in relativer und 5,2 Prozent in absoluter Armut. Dazu kommen die traditionellen Strukturprobleme: Nord-Süd-Gefälle, mangelnde Infrastrukturen, Bürokratie, Korruption, Schattenwirtschaft und Steuerhinterziehung. Ein großes Strukturproblem stellt auch die mangelnde Innovationsfähigkeit der Unternehmen dar, die kaum Kredite von den Banken erhalten. Zudem liegen die Investitionen Italiens in Forschung und Entwicklung bei nur rund einem Prozent, im EU-Durchschnitt sind es drei Prozent.

Die Hauptkritik der drei großen Gewerkschaftsbünde richtet sich vor allem gegen fehlende Investitionen in eine Wachstumspolitik. Stattdessen verabschiede die Regierung Monti nur Sparmaßnahmen, die den sozialen Frieden bedrohen würden. Nach der Renten- und Arbeitsmarktreform hat die Regierung im Juli eine Revision des Staatshaushaltes angekündigt, die weitere Kürzungen im Gesundheitswesen, im Öffentlichen Dienst und im Justizapparat von bis zu neun Milliarden Euro vorsieht. Auf diese Ankündigung haben diesmal nicht nur die CGIL, sondern auch die weniger konfliktorientierten Führungsspitzen von CISL und UIL mit der Androhung eines Generalstreiks reagiert. Beide Organisationen sind im öffentlichen Dienst stärker vertreten als in der verarbeitenden Industrie.


3.2 Die Strategie der Gewerkschaften

Diese einheitlichen Positionen sind in den vergangenen Jahren allerdings selten geworden. Die politischen Vorschläge und Strategien der drei Bünde variieren stark. Die CGIL verfügt als einzige der drei Organisationen über die nötige Stärke für eine Massenmobilisierung. Zudem findet sie bei Demonstrationen meist auch Unterstützung aus den Reihen der gemäßigten linken Partito Democratico sowie den kleineren Linksparteien. Diese Stärke hat sie in den vergangenen Jahren zum Protest gegen Berlusconi genutzt und als Druckmittel gegen die Sparpolitik der Monti-Regierung eingesetzt. Nach Meinung der Vorsitzenden Susanna Camusso haben vor allem die massiven Proteste dazu geführt, dass die Regierung bezüglich des Kündigungsschutzes einlenkt. In der am 27. Juni 2012 verabschiedeten Reform heißt es nun, dass ein Arbeitnehmer bei einer Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen, die das Arbeitsgericht als unbegründet beurteilt, auf seinen Arbeitsplatz zurückkehren kann und sich nicht - wie in der ersten Gesetzesfassung vorgesehen - mit einer Abfindung begnügen muss. Die Kritik der CGIL an der Arbeitsmarktreform gilt aber nicht vorrangig dem neuen Kündigungsschutz,(4) sondern vielmehr den mangelhaften Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigung und dem fehlenden Ansatz zur Lösung der strukturellen Probleme in der italienischen Wirtschaft.

Trotz der Kritik des linken Gewerkschaftsflügels und der Metallerorganisation FIOM hat Camusso der Übergangsregierung von Anfang an Kooperationsbereitschaft signalisiert. Nach der Erklärung von Ministerpräsident Monti, dass seine Regierung die Sozialparteien zwar anhöre, letztlich aber allein entscheide, kühlte sich das Klima jedoch merklich ab. Die CGIL fordert von der Regierung die Einführung einer Vermögenssteuer und die härtere Bestrafung der Steuerhinterziehung als Alternative zu den Sozialkürzungen. Auch Stefano Fassina, der Verantwortliche für Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partito Democratico, fordert eine Vermögenssteuer, trifft damit beim rechten Flügel seiner Partei allerdings auf Widerspruch.

Raffaele Bonanni, Vorsitzender der CISL, ist ein überzeugter Verfechter der Politik des Runden Tisches. Seiner Meinung nach »wiegt ein gutes Abkommen mehr als der Protest auf der Piazza«. Während der Berlusconiregierung wurde er von der eigenen Basis für seine guten Kontakte zum damaligen Arbeitsminister Sacconi kritisiert. Gegenüber Monti ist seine Haltung kritischer, die Forderung der CGIL nach einer erneuten Änderung der Arbeitsmarktreform lehnt er allerdings ab. Bonanni macht keinen Hehl daraus, dass er für eine neue christdemokratische Sammlungsbewegung plädiert, die das Zweiparteiensystem aus Berlusconis rechtspopulistischer Partito della Libertà und der sozialdemokratischen Partito Democratico überwinden will. Für dieses Projekt wollte Bonanni auch Luigi Angeletti, Vorsitzender der UIL, gewinnen. Doch die UIL mit ihrer liberal-laizistischen Tradition ist für das Revival einer christdemokratischen Partei kaum zu gewinnen. Angeletti fordert von der Regierung hingegen die Senkung der hohen Sozialabgaben, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Auch er hat sich gegen eine erneute Diskussion über die Arbeitsmarktreform ausgesprochen, um den erreichten Kompromiss nicht zu gefährden.

Hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz profitieren die Gewerkschaften deutlich von der andauernden Parteienverdrossenheit der Italiener, aber auch von den zahlreichen politischen Protestaktionen der letzten Jahre, durch die sie ein hohes Mobilisierungspotenzial bewiesen und eine größere Medienpräsenz erlangt haben. In der öffentlichen Meinung stehen die Gewerkschaften derzeit deutlich besser da als die Parteien. Dies ist zumindest das Ergebnis einer Umfrage des Marktforschungsinstituts IPR vom Mai 2012, wonach das Vertrauen der Italiener in die Gewerkschaften derzeit bei 34 Prozent liege, in die Parteien hingegen nur bei acht Prozent. Bis vor zehn Jahren war dieses Verhältnis noch umgekehrt.

Auf internationaler, vor allem aber auf europäischer Ebene sind die italienischen Gewerkschaften gut vernetzt. Sie sind überzeugte Europäer, die sich für ein europäisches Tarifverhandlungssystem einsetzen. Die drei großen Dachverbände und ihre Branchenorganisationen sind Mitglieder im Internationalen Gewerkschaftsbund und in allen gewerkschaftlichen Institutionen auf EU-Ebene. Auch hier hat sich in den letzten zehn Jahren viel geändert. Während früher eher ein Desinteresse an Gremien und Themen zu beobachten war, die nicht unmittelbar mit der nationalen Lohnpolitik zusammenhingen, gehören die italienischen Gewerkschafter heute zu den aktivsten auf europäischer Ebene. Dies zeigt auch die Besetzung der Spitze der neuen europäischen Industriegewerkschaft IndustriALL - European Trade Union, zu der sich der Europäische Metallgewerkschaftsbund (EMB), die Europäische Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF) sowie der Europäische Gewerkschaftsverband Textil, Bekleidung, Leder (EGV:TBL) zusammengeschlossen haben. Vizepräsidentin ist die Italienerin Valeria Fedeli von der CGIL Filctem, die ebenfalls ein Zusammenschluss mehrerer Branchengewerkschaften ist.

Auch auf Unternehmensebene besteht heute mehr Interesse an Europa. Derzeit existieren 69 Europäische Betriebsräte in italienischen Unternehmen, die zwar meist nicht zu den fortschrittlichsten, aber in einigen Fällen - wie bei Ferrero und Pirelli - zu den stabilsten im europäischen Vergleich gehören.


4. Perspektiven der nächsten Jahre
4.1 Das wachsende Heer der prekär Beschäftigten

Wie in allen OECD-Ländern wird auch in Italien die Zukunft der Gewerkschaften davon abhängen, wie sie neue Arbeitsrealitäten - sprich prekäre und atypische Beschäftigung - in ihre Organisationen integrieren. Bei 70 bis 80 Prozent der Neueinstellungen in der Privatwirtschaft handelt es sich derzeit um atypische Arbeitsverhältnisse. Andere Formen wie Scheinselbstständigkeit oder Schwarzarbeit sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Nach Schätzungen des statistischen Landesamtes ISTAT sind in Italien derzeit rund vier Millionen Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt, das sind 17,2 Prozent aller Beschäftigten. Der Großteil von ihnen ist unter 35 Jahre alt.

Bei den großen Gewerkschaften ist diese Gruppe allerdings kaum vertreten. Dies liegt vor allem daran, dass die Lohnverhandlungen für Mitglieder immer im Zentrum ihrer Strategie stand und weniger die Öffnung für neue Gruppen. Mittlerweile haben aber alle drei Dachverbände Branchenorganisationen für atypische Beschäftigte eingerichtet, die Rekrutierung funktioniert bisher allerdings nur schleppend.

Vor allem die CGIL hat sich in den vergangenen Jahren um neue Mitgliedergruppen bemüht. Sie ist eine der wenigen europäischen Gewerkschaften, die für Transgender eine eigene Organisation anbietet. Seit ca. zehn Jahren existiert auch die CGIL-Nidil, die für »neue Arbeitsidentitäten« zuständig ist. Sie hat ihren Sitz in Rom, wo sich 15 hauptamtliche Gewerkschafter um 53.000 in Nidil organisierte prekär Beschäftigte - meist aus dem Gesundheits- und Schulwesen - kümmern. Diese stellen allerdings weniger als zwei Prozent der aktiven Mitglieder.

Auch die CISL hat eine ähnliche Struktur für atypisch Beschäftigte und Zeitarbeiter aufgebaut, die sich ALAI nennt. Die CISL wirbt vor allem mit der Verbesserung ihrer Serviceleistungen, wie Beratung und Vergünstigungen. Hingegen sind bei der UIL temp 43.000 prekär Beschäftigte eingeschrieben, die vor allem aus dem Schul- und Gesundheitswesen kommen - im Vergleich zur CGIL ein hoher Anteil. Die UIL temp organisiert Demonstrationen und Streiks und konnte damit schon mehrere Erfolge erringen, vor allem Lohnfortzahlungen, Urlaubsvergütungen und Vertragsänderungen.

Nach Erfahrung der Gewerkschafter stellt sich die Rekrutierung dieser neuen Beschäftigtengruppen aber schwierig dar, da sie wenig Vertrauen in Gewerkschaften besitzen. Zudem haben sie in den vergangenen Jahren eigene, neue Netzwerke gegründet. Aus den Mailänder Chain Workers, einer Gruppe junger Leute, die politische Proteste wie die May Day Parade am 1. Mai organisierte, ist heute das Netzwerk San Precario geworden. Die Gruppen, die es inzwischen in allen italienischen Großstädten gibt, organisieren Protestaktionen und kostenlose Rechtsberatung. Zu den Anhängern von San Precario - einem fiktiven Schutzheiligen im Outfit eines Kurierfahrers - gehören Praktikanten, Verkäuferinnen, Flughafenpersonal, Mitarbeiter von Discount-Märkten, Callcentern und Universitäten. Die Stärke des Netzwerks ist eine Kommunikation in Form des sogenannten Guerilla-Marketings und die schnelle und flexible Organisation von Protestaktionen. San Precario versteht sich nicht als Gewerkschaft, ist aber de facto zu einer Vertretung jener Arbeitnehmer geworden, um die sich die Gewerkschaften bislang zu wenig gekümmert haben.


4.2 Neue Formen der Arbeitnehmerbeteiligung

Die Öffnung der Flächentarifverträge und die daraus resultierende Aufwertung der Betriebsvereinbarungen bzw. Hausverträge hat eine Diskussion um neue Beteiligungsmodelle auf Unternehmensebene entfacht. Während die CISL schon länger für eine Beteiligung nach dem Modell der deutschen Mitbestimmung plädiert,(5) hat die traditionell eher konfliktorientierte CGIL diese Form der betrieblichen Beteiligung bisher abgelehnt. Mit Susanna Camusso als Generalsekretärin ist dieses Thema kein Tabu mehr. Dazu haben auch die Erfahrungen vieler italienischer Gewerkschafter in Europäischen Betriebsräten von Konzernen mit Aufsichtsrat beigetragen (z. B. Banca Unicredit, Pirelli). Im Rahmen des Seminars »Deutschland, Italien, Europa: Antworten auf die Krise«, das 2010 vom Forschungsinstitut IRES der CGIL, der Universität Bologna und der FES organisiert worden war, äußerte sich Valeria Fedeli, Vizepräsidentin der CGIL Filctem und stellvertretende Vorsitzende der neuen europäischen Gewerkschaft IndustriAll, folgendermaßen zu dem Thema: »Fiat-Chef Sergio Marchionne nutzt die Krise, um den Beschäftigten neue Verträge und Produktionskonzepte aufzuzwingen. Um solch einem Angriff Konzepte der Arbeitnehmerseite entgegenzusetzen oder ihm sogar zuvorzukommen, brauchen wir mehr und schnellere Informationen von den Unternehmen. Deshalb könnte die deutsche Mitbestimmung ein Modell für mehr Beteiligung an Unternehmensentscheidungen sein.«

Trotz der schweren Krise der italienischen Wirtschaft ist es den Gewerkschaften gelungen, einige Vereinbarungen auf der Unternehmensebene abzuschließen, die derzeit als zukunftsweisende Modelle gelten. Bei dem Brillenkonzern Luxottica wurde eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, ohne den Tarifvertrag zu ändern, die Produktion flexibilisiert und im Gegenzug eine Beteiligung der Arbeitnehmervertretung bei Sozialvereinbarungen festlegt. Damit ist Luxottica eines der wenigen Unternehmen in Italien, das eine Verbindung zwischen der Qualität des Produkts und der Qualität der Produktion, sprich den Arbeitsbedingungen, herstellt.(6)

Noch innovativer ist in dieser Hinsicht das Produktionsmodell des Modekonzerns Gucci, der seine Lederwaren ausschließlich in der Toskana fertigt. Gucci schließt mit keinem Zulieferbetrieb Verträge ab, der nicht soziale Standards - sprich Tarifverträge - einhält, um eine einheitliche Qualität der hochwertigen Produkte zu garantieren. Die gesamte Zulieferkette ist so durch gewerkschaftliche Verträge abgesichert.(7) Durch diese Vereinbarung sind auch die Sozialstandards bei anderen Zulieferunternehmen des Bezirks gestiegen. Dieses Vertragsmodell, das nicht nur ein Unternehmen, sondern einen Industriedistrikt betrifft, ist nicht nur für die italienischen Gewerkschaften, sondern generell zukunftsweisend, da der Distrikt der kleinen Zulieferbetriebe ein Wirtschaftsmodell der Globalisierung ist, das die tendenziell großen Produktionsstrukturen mit starker Arbeitgebervertretung auflöst. Für Italien stellt Gucci ein wichtiges Beispiel dar, da sich das Land zur Erhaltung seiner Industrie vor allem auf das Know-how und die hochwertige Produktion mittelständischer Unternehmen konzentrieren muss - und die Gewerkschaften ihrerseits auf neue Verhandlungsformen.


Anmerkungen

(1) Angaben der Organisationen.

(2) Die CGIL hat unlängst ihre Branchenverbände aus Chemie, Energie und Textil zu der Organisation FILCTEM zusammengeschlossen.

(3) Der durchschnittliche Bruttolohn in Italien ist ohnehin sehr niedrig und lag 2009 nach Eurostat bei 23.400 Euro jährlich, in Deutschland waren es 41.100 Euro.

(4) Der italienische Kündigungsschutz entspricht nun in etwa der deutschen Gesetzgebung und wurde auf alle Betriebe, auch Kleinunternehmen mit weniger als 16 Beschäftigten, ausgedehnt.

(5) Vgl. verschiedene Publikationen von Guido Baglioni von der CISL.

(6) Vgl. Die Mitbestimmung 1+2/2012.

(7) Vgl. brandeins 6/2011.


Über die Autorin

Michaela Namuth ist freie Korrespondentin und Politologin in Rom.


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Friedrich-Ebert-Stiftung | Referat Mittel- und Osteuropa
Hiroshimastr. 28 | 10785 Berlin | Deutschland
Verantwortlich: Jörg Bergstermann, Koordinator der
Gewerkschaftsprogramme Europa und Nordamerika
Tel.: ++49-30-269-35-7744 | Fax: ++49-30-269-35-9249
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Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

ISBN 978-3-86498-293-4

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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2012