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INFRASTRUKTUR/073: EU-Liberalisierung im Personenschienenverkehr (guernica)


guernica Nr. 4/2009
Zeitung für Frieden & Solidarität, Neutralität und EU-Opposition

EU-Liberalisierung/Personenschienenverkehr
"Wir werden uns nicht nach den faulen Äpfel bücken"

Von Gerald Oberansmayr


Ab 2010 gilt das sogenannte "3 Eisenbahnpaket" der EU, d.h. der grenzüberschreitende Personenverkehr auf der Schiene muss für den Wettbewerb geöffnet werden. Diese Liberalisierung im Personenverkehr ermöglicht es vor allem den ganz Großen, die kleineren Bahnunternehmen auf den profitablen Hauptstrecken niederzukonkurrieren. Der ÖBB könnte damit bald das Schicksal einer "AUA auf Rädern" drohen.


Lex Deutsche Bahn

Man könnte diese EU-Liberalisierungsrichtlinie daher auch als eine "Lex Deutsche Bahn" bezeichnen, denn die Deutsche Bahn (DB) ist das mit Abstand größte Bahnunternehmen; insbesondere im Personenverkehr (mit über 52% der EU-weiten Schienenpersonenkm), allenfalls gefolgt von der französischen Bahn SNCF (20%)


Rosige Zeiten...

Jens Röder, Leiter des Internationalen Fernverkehrs bei der DB, sieht rosige Zeiten für die Expansion der Deutschen Bahn:

"Es gibt in jedem Land immer eine Art Netzlogik. Daher kostet es enorm viel Ressourcen und Geld, ein komplettes Netzgeschäft anzugreifen. Eigentlich haben derzeit nur zwei europäische Bahnen die Ausgangsbedingungen, das Know-how und die finanzielle Kraft für eine europaweite Expansion: die SNCF und die Deutsche Bahn. Und beide wollen die Nummer eins werden.

Nachsatz:

"Die Deutschen scheinen da im Vorteil. Immerhin hat die DB AG trotz Krise und Problemen im Güterverkehr im ersten Halbjahr schwarze Zahlen geschrieben." (Die Welt, 31.10.09).

Diese Prognose hat sich mittlerweile bestätigt: Selbst im Krisenjahr 2009 erzielte die DB einen Gewinn von 1,32 Mrd. Euro.


... nicht für Passagiere und Beschäftigte

Weniger rosige Zeiten erleben seit geraumer Zeit die KundInnen und die Beschäftigten der DB. Denn diese müssen die Zeche für den enormen Renditedruck im Unternehmen zahlen. Die Berliner S-Bahnen, eine DB-Tochter, baute 40% des Werkstatt-Personals ab; infolge von Sicherheitsmängeln fielen zwischen Jänner und August 2009 55.000 Zugfahrten im Berliner Nahverkehr aus. Bis zu drei Viertel der Garnituren konnten wochenlang nicht ausfahren. Der Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg Hans-Werner Franz:

"Die S-Bahn ist aufgrund der Renditevorgaben des Mutterkonzerns innerhalb weniger Jahre vom Vorzeigeunternehmen zum Sanierungsfall herabgewirtschaftet worden." (jw, 17.9.2009).

Kaum ein Bahnunternehmen in der EU hat so massiven Personalabbau betrieben wie die DB. Seit 1990 wurden über 50% der Beschäftigten und 74% der Lehrstellen gestrichen. Seit der Bahnreform 2004 wurde das Schienennetz um fast 14.000 km gekürzt (minus 17,7%), die privaten Gleisanschlüsse für den Güterverkehr gingen um über 65% zurück. Für die Zeit nach dem Börsengang empfiehlt die Unternehmensberatungsfirma Booz Allen Hamilton den Aktionären weitere 5.000 km Schienennetz stillzulegen, um die Profitabilität zu steigern. Das zeigt deutlich, dass der Börsengang nicht dazu dient, Kapital für Investitionen in den Netzausbau hereinzubekommen, sondern dazu, die Kriegskasse aufzufetten, um die durch die EU-Liberalisierung geschaffenen Möglichkeiten zu nutzen, kleinere Bahnunternehmen niederzukonkurrieren bzw. aufzukaufen.


Eisenbahngewerkschafter fordern Aussetzen der EU-Liberalisierung

Unter den Bedingungen der EU-Liberalisierung könnte bald der Druck der Deutschen Bahn in Richtung ÖBB übermächtig werden, entweder zu weichen oder sich unterzuordnen. Schon im Frühjahr warnte der Chef der Eisenbahngewerkschaft Haberzettel, dass bei Fortsetzung des derzeitigen Kurses der ÖBB das Schicksal einer "AUA auf Rädern" (Standard, 2.3.09) drohen könnte. Die Gewerkschaft vida fordert daher

"ein Moratorium bestehender Liberalisierungsbeschlüsse und einen Stopp weiterer Liberalisierungsmaßnahmen, sprich weiterer diesbezüglicher EU-Richtlinien. Der Eisenbahnsektor darf nicht weiter aufgesplittert werden. Das heißt, wir wollen keine Trennung von Infrastruktur und Betrieb sowie keine Politik, die Auslagerung und Privatisierung von eisenbahnbezogenen Dienstleistungen den Weg ebnet."
(vida, 17.12.2009)

In dieselbe Richtung zielt die Petition der Werkstatt Frieden & Solidarität "Höchste Eisenbahn - Für eine Verkehrswende!" (sh. unten)


Ein Drittel vor dem Aus?

Ein französischer Bahnmanager, der ebenfalls bereits Ausschau nach lukrativen Bahnverbindungen in anderen EU-Staaten hält, bringt die Stoßrichtung der Bahnliberalisierung auf den Punkt: "Sie glauben doch nicht, dass wir uns nach den faulen Äpfeln bücken" (Manager der SNCF-Tochter Keolis, in: Die Welt, 31.10.2009) D.h. volle Konzentration auf die profitablen Hauptstrecken, der unlukrative Flächenverkehr muss dann entweder teuer staatlich finanziert oder stillgelegt werden. Die Vorteile eines kooperativen Eisenbahnsystems - Verlustausgleich zwischen profitablen und nicht-profitablen Verbindungen, Integration von Hauptstrecken und Flächenverkehr, gemeinsame Fahrpläne, Fahrkarten, Info-Systeme, usw. - gehen verloren. Deshalb ist es kein Zufall, dass im Vorfeld der Bahnliberalisierung umfassende Streckenstilllegungspläne der ÖBB an die Öffentlichkeit gedrungen sind, die von der Unternehmensberatungsfirma Roland Berger ausgearbeitet wurden. Diese umfassen 56 sog. "Nebenbahnen" mit rd. 1.600 Kilometer Schienennetz, d.h. fast ein Drittel des derzeitigen österreichischen Schienennetzes steht vor dem Aus. Bemerkenswerterweise umfassen diese Kahlschlagspläne auch eben sanierte Strecken: etwa jene von Neusiedl am See nach Wulkaprodersdorf, die derzeit um 40 Mio. Euro ausgebaut wird. Außerdem die Strecke Deutschkreutz-Neckenmarkt, deren Ausbau mit fünf Millionen im Rahmenplan steht, die Kamptalbahn, nach dem Hochwasser 2002 mit Millionenaufwand wiedererrichtet, oder die Verbindung Spielfeld-Straß-Bad Radkersburg, die eben erst aufwendig ins Grazer S-Bahn-Netz integriert wurde.


Öffi-Vorbild Schweiz

Während Kanzler und Umweltminister auf internationalen Konferenzen salbungsvolle Reden über die Notwendigkeit des Klimaschutzes halten, wird im Inland die Axt an den öffentlichen Verkehr gelegt. Absurd, vor allem wenn man bedenkt, dass der Autoverkehr pro Personen-Km im Vergleich zur Schiene das 18-Fache des klimaschädlichen Kohlendioxids ausstößt. Gerade angesichts der Klima- und Umweltkatastrophe brauchen wir nicht Streckenstilllegungen, sondern den zügigen Ausbau des Schienennetzes und viel dichtere Taktverbindungen. Vorbild dafür kann die Schweiz sein, wo zwischen allen regionalen Zentren ein Halbstundentakt existiert. Ein solcher dichtmaschiger Öffentlicher Verkehr mit seinen fein abgestimmten Verbindungen zwischen regionalem und überregionalem Verkehr ist freilich unvereinbar mit dem EU-Liberalisierungsregime im Personenschienenverkehr. Selbst die großbürgerliche Neue Züricher Zeitung hält das 3. Eisenbahnpaket der EU daher für "undenkbar ... in einem Gesamtsystem Personenverkehr, wie es für die Schweiz charakteristisch ist". Die Schweiz hat diese Freiheit noch, wir müssen sie uns wieder zurückholen.


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"Höchste Eisenbahn - Für eine Verkehrswende!"

PETITION AN DEN NATIONALRAT

Die Zukunft des Öffentlichen Verkehrs steht auf dem Spiel. Wird die EU-Liberalisierung umgesetzt, drohen weitreichende Streckenstilllegungen, Personalabbau und Privatisierung - mit all den negativen Folgen für Mensch und Umwelt. Wir fordern daher eine ökologische, soziale und demokratische Verkehrswende:

Sofortiger Stopp der Bahnliberalisierung und der Pläne zur Streckenstilllegung!
Ausweitung des öffentlichen Verkehrsnetzes und Taktfahrplan nach dem Muster der Schweiz!
Umstellung der Finanzierung von teuren Fahrpreisen auf einen solidarischen Mobilitätsbeitrag für alle, der sich an der Wertschöpfung bemisst!
Volksabstimmung über einen zukunftsfähigen Öffentlichen Verkehr statt Bahnliberalisierung!

Auf Wunsch schicken wir gerne Unterschriftslisten für diese Petition zu; sie kann aber auch per online unterstützt werden über:
http://www.werkstatt.or.at/Forum/PetitionEisenbahn.php


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Quelle:
guernica Nr. 4/2009, Seite 11
Herausgeberin und Redaktion: Werkstatt Frieden & Solidarität
Waltherstr. 15, A-4020 Linz
Tel. 0043-(0)732/77 10 94, Fax 0043-(0)732/79 73 91
E-Mail: office@werkstatt.or.at
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Mai 2010