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INNEN/465: Europäische Wach- und Schließgemeinschaft (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

Europäische Wach- und Schließgemeinschaft

Von Karl Kopp


Die Europäische Union hat am Internationalen Tag der Menschenrechte 2009 die Bauanleitung beschlossen, mit der sie in den nächsten fünf Jahren die Politikfelder Justiz und Inneres gestalten will. Das sogenannte Stockholmer Programm wird sehr konkret in den Bereichen Flüchtlingsabwehr, Stärkung der europäischen Grenzagentur FRONTEX und Einbindung von Transitstaaten als Türsteher Europas. Völlig unbestimmt bleibt es bei Fragen des Menschenrechtsschutzes an den Außengrenzen. Wie das "Europa des Asyls" oder der "gemeinsame Schutzraum für Flüchtlinge" von Schutzsuchenden überhaupt noch lebend erreicht werden kann, wird mit keiner Silbe erwähnt. Völkerrechtswidrige Zurückweisungen, willkürliche Inhaftierungen und der Tod von Flüchtlingen sind jedoch traurige Realität und Ausdruck einer völlig enthemmten Abwehrpolitik Europas. Das Stockholmer Programm knüpft nahtlos an diese an.


Traurige Realität

Die Menschenrechte und internationale Flüchtlingsschutzstandards werden an den EU-Außengrenzen täglich eklatant verletzt. Schutzsuchende werden in Transitländer wie Libyen, die Türkei, Mauretanien und die Ukraine zurücktransportiert - egal wie es dort um die Menschenrechte bestellt ist. Die Todesrate bei den Einreiseversuchen an der Seegrenze nach Europa ist unvermindert hoch. Über 500 Bootsflüchtlinge sind allein 2009 im Kanal von Sizilien ums Leben gekommen. Häufig schauen Mitgliedstaaten einfach nur zu, wie Bootsflüchtlinge verzweifelt um ihr nacktes Überleben kämpfen und streiten sich derweil über Zuständigkeitsfragen bei der Seenotrettung. Schiffscrews, die Flüchtlinge aus dem Wasser fischen, müssen befürchten, mit skandalösen Verfahren wegen Beihilfe zur "illegalen Einreise" überzogen zu werden.


Mit allen Mitteln und um jeden Preis

Entlang der europäischen Küsten und Landgrenzen entstehen immer mehr Haftlager für die neuankommenden Flüchtlinge. Potentiellen Schutzsuchenden auf der anderen Seite des Meeres soll vermittelt werden, dass an den europäischen Küsten nur die Inhaftierung, der Rücktransport oder der nasse Tod auf sie warten. Asylsuchende, die es auf EU-Territorium schaffen, sind zunehmend in der sogenannten Dublin-Falle gefangen. Der geographische Zufall und die Frage, welcher Fluchtweg überhaupt noch offen ist, bestimmen, welches EU-Land für das Asylverfahren zuständig ist.


Arbeitsteiliger Völkerrechtsbruch

Die italienische Küstenwache bringt seit Anfang Mai 2009 Flüchtlingsschiffe bereits in internationalen Gewässern auf und drängt sie nach Libyen zurück. Bis Dezember 2009 wurden etwa 1.400 Menschen in libysche Haftlager zurückgeschickt. Diesen Bootsflüchtlingen wurde jegliche Hilfe und jeder Schutz verweigert. Diese Aktionen verletzen internationales Flüchtlingsrecht und die Menschenrechte, aber ein nennenswerter Aufschrei in Europa oder gar Sanktionen bleiben aus. Mitte Juni 2009 wurden 74 Bootsflüchtlinge, darunter Frauen und Kinder, 110 Meilen südlich von Malta auf hoher See von der italienischen Küstenwache aufgebracht und dann einem libyschen Patrouillenboot übergeben. Beteiligt war auch eine bundesdeutsche Hubschraubereinheit. Die deutsche Regierung beteuert, die Aktion der italienischen Küstenwache sei keine Maßnahme im Rahmen einer FRONTEX-Operation gewesen. Die deutsche Hubschrauberbesatzung habe die Informationen über die Ortung eines Flüchtlingsboots "zuständigkeitshalber" an die Malteser weitergegeben. Diese wiederum gaben die Informationen an die italienischen Kollegen weiter und die verständigten die "libyschen Kollegen". Für die zurückverfrachteten Flüchtlinge ist die Frage des arbeitsteiligen Völkerrechtsbruches - ob im Rahmen von FRONTEX oder außerhalb - unerheblich, sie kämpfen um ihr bloßes Überleben in den libyschen Haftlagern.


Frontex: die verfolgte Unschuld

Die EU-Grenzagentur FRONTEX feiert die weitgehende Blockierung zweier wichtiger Fluchtrouten über das Meer im Jahr 2009 - von Libyen nach Italien bzw. Malta und von der westafrikanischen Küste auf die Kanarischen Inseln - als Erfolg der EU-Abwehrmaßnahmen und der effizienten Einbindung west- und nordafrikanischer Staaten bei der Fluchtverhinderung. An der Westafrika-Route zu den Kanaren sei es erstmals gelungen, mehr Bootsflüchtlinge an der Abfahrt zu hindern als auf den Kanarischen Inseln ankamen. Nur noch 2.242 Flüchtlinge erreichten die Inseln, 2006 waren es noch 31.600. Schaut man sich die "Erfolge" und vor allem wie sie zustande kamen genauer an, reagiert die FRONTEX-Zentrale in Warschau als verfolgte Unschuld.

Knapp 6.000 Bootsflüchtlinge wurden 2008 laut FRONTEX-Jahresbericht von der EU-Grenzagentur und den spanischen Behörden auf hoher See oder bereits in den Territorialgewässern westafrikanischer Staaten abgefangen und umgehend zurückgeschickt.


"Europa lässt euch nicht im Stich"

Die EU-Kommission setzt sich für eine Humanisierung der Asylsituation im Innern der EU ein, betreibt aber zeitgleich eine Politik der Einbindung der Transitstaaten wie Libyen und die Türkei, um Fluchtwege nach Europa zu blockieren. Der frühere Kommissar Jacques Barrot besuchte bei seinen Reisen in die EU-Frontstaaten Griechenland und Malta immer auch Lager, wo Flüchtlinge unter erbärmlichen Umständen inhaftiert sind. In Malta rief er im März 2009 den Flüchtlingen, die ihm die monatelange Haft und die rassistischen Anfeindungen schilderten, zu: "Europa lässt euch nicht im Stich." Zuvor hatte er im Landeanflug auf die Insel formuliert, wie er sich die Hilfe für künftige Bootsflüchtlinge vorstellt: Er forderte mehr Kooperation der nordafrikanischen Staaten, vor allem von Libyen, damit die Bootsflüchtlinge erst gar nicht in die EU kommen.

Nach einem ähnlichen Muster verliefen die Besuche an einem anderen "Hotspot" (FRONTEX-Jargon), der Außengrenze Griechenland/Türkei, ab. Auch hier zeigte sich Barrot erschrocken über die erbärmlichen Haftbedingungen und die Tatsache, dass selbst Minderjährige dort inhaftiert waren. Dann reiste er weiter in das Nachbarland Türkei und formulierte am 11. September 2009 folgende Ziele: Es solle zügig ein Arbeitsabkommen zwischen dem Beitrittsland und FRONTEX und ein Rückübernahmeabkommen mit der EU abgeschlossen werden, um Griechenland, das von "Migranten überschwemmt" werde, zu entlasten.

Die doppelzüngige europäische Menschenrechtspolitik ist mitverantwortlich dafür, dass abgedrängte Bootsflüchtlinge auf beschämende Art erneut Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen werden. Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen allen Polizei-Kooperationen mit menschenrechtsverletzenden Regierungen eine Absage erteilen. Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den europäischen Grenzen, auf hoher See oder gar in den Gewässern von Drittstaaten sind zu unterbinden. Die EU muss an den Außengrenzen abrüsten und endlich ein gemeinsames Asylrecht schaffen, basierend auf Solidarität und Humanität.

Wir müssen den politisch Verantwortlichen in Brüssel, Berlin und anderswo klarmachen, dass wir ihr Konzept einer "europäischen Wach- und Schließgemeinschaft" mit Tausenden Toten, dem Wegsperren und dem innereuropäischen Verschieben von Flüchtlingen weder tragen noch ertragen.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 40-41
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2010