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SOZIALES/143: Mitarbeit möglich - Koordinierungsverfahren als Chance für die Zivilgesellschaft (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 130/Dezember 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Mitarbeit möglich

Europäische Koordinierungsverfahren als Chance für die Zivilgesellschaft

Von Marlon Barbehön


In der Europäischen Union spielen jene Steuerungsmodi eine immer größere Rolle, die nicht nach dem Prinzip sanktionsbewehrter Brüsseler Vorgaben funktionieren, sondern auf einer unverbindlichen Koordinierung nationaler Politiken basieren. Das Beispiel der Offenen Methode der Koordinierung zur Armutsbekämpfung zeigt, dass solche Strategien eine Chance für die Zivilgesellschaft sind, stärker in die nationale Entscheidungsfindung eingebunden zu werden. Eine solche freiwillige Europäisierung erfordert allerdings, dass nichtstaatliche Akteure das Verfahren auch als politische Gestaltungsmöglichkeit begreifen.


Lange Zeit interessierte die Forschung zur Europäisierung vor allem zwei Fragen: Wie setzen die EU-Mitgliedstaaten Vorgaben aus Brüssel um, und wie verändert dies die Inhalte und die Prozesse nationaler Politikgestaltung? Dahinter stand die Annahme, die Implementation von EU-Richtlinien folge einer hierarchischen Logik: Die Nationalstaaten führen unter Androhung von Sanktionen aus, was Brüssel ihnen vorschreibt. Diese Sicht hat sich jedoch als zu kurz erwiesen. Sie missachtet den Umstand, dass auch Akteure in den Nationalstaaten europäische Entscheidungen mitgestalten. Die jüngere Forschung nimmt daher stärker das Wechselspiel zwischen supranationaler und nationaler Ebene in den Blick. Genau dieses Wechselspiel aber verläuft in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich und führt so zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Diese Neuorientierung der Europäisierungsforschung ist besonders mit Blick auf jene Strategien europäischen Regierens von Bedeutung, die nicht durch verbindliche Vorgaben in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollen, sondern auf Freiwilligkeit beruhen. Vor allem im vergangenen Jahrzehnt wurden diese Steuerungsinstrumente, die in der Forschung unter dem Schlagwort Neue Governance-Modi diskutiert werden, im Mehrebenensystem der EU verstärkt berücksichtigt. Angewandt werden diese Modi hauptsächlich in Politikfeldern, die im nahezu exklusiven Kompetenzbereich der Nationalstaaten verblieben sind. Europäisches Regieren bedeutet hier vor allem eine unverbindliche Abstimmung politischer Maßnahmen zwischen den Mitgliedstaaten.

Die Offene Methode der Koordinierung stellt einen solchen Modus dar. Sie wird beispielsweise in der Beschäftigungs-, der Armuts- oder der Rentenpolitik angewandt und verläuft in separaten Arbeitsschritten: Auf europäischer Ebene werden gemeinsame Ziele definiert, während die Mitgliedstaaten entscheiden, welche Instrumente und Maßnahmen sie einsetzen, um diese Ziele zu erreichen. Die national getroffenen Entscheidungen werden als Strategieberichte an die Europäische Kommission übermittelt, die auf dieser Basis Evaluationen veröffentlicht und Empfehlungen ausspricht. Darauf folgt - mit eventuell umformulierten Zielen - die nächste Runde nationaler Strategieberichte. Die Offene Methode der Koordinierung arbeitet dabei ohne Sanktionen: Allein durch die öffentliche Diskussion nationaler Strategien sollen mitgliedstaatliche Regierungen grundlegende Ideen und einzelne Maßnahmen austauschen und auf diese Weise Lernprozesse auslösen.

Ein Leitprinzip der Offenen Methode der Koordinierung ist es, zivilgesellschaftliche Akteure an den nationalen Strategieberichten mitwirken zu lassen. Hieran sollen sich jene Organisationen systematisch beteiligen, die im jeweiligen Politikfeld aktiv und somit von den national zu entwickelnden Strategien betroffen sind - wie etwa die Sozialpartner in der Beschäftigungspolitik oder die Wohlfahrtsverbände beim Kampf gegen Armut. Eine solche Zusammenarbeit kann jedoch aufgrund der Unverbindlichkeit der Offenen Methode nur empfohlen und nicht vorgeschrieben werden. In Mitgliedstaaten, in denen zivilgesellschaftliche Akteure traditionell nicht an der Sozialpolitik mitwirken, liegt nun ein Konflikt vor zwischen europäischer Vorgabe und den nationalen Traditionen der Politikgestaltung. Die klassische Perspektive der Europäisierungsforschung würde annehmen, dass der betreffende Mitgliedstaat auf seiner bisherigen Praxis beharrt, die Akteure der Zivilgesellschaft also nicht in die Entscheidungsfindung mit einbezieht.

Die neuere empirische Forschung hat jedoch herausgearbeitet, dass dies nicht immer der Fall sein muss. Ein Beispiel ist die Offene Methode der Koordinierung in der Armutsbekämpfung, die seit 2001 angewandt wird. Hier ist ein signifikanter Ausbau der zivilgesellschaftlichen Beteiligung in einigen Mitgliedstaaten zu beobachten, die zuvor den Wohlfahrtsverbänden keine formalen Mitspracherechte eingeräumt haben.

Eine solche Entwicklung vollzieht sich beispielsweise in Großbritannien. Dort entstand zum Start der Offenen Methode eine informelle Arbeitsgruppe, die lokale Sozialdienstleister und Großorganisationen wie Oxfam oder ATD Fourth World einschließt. Sie verfolgt das Ziel, die britische Umsetzung der Offenen Methode der Koordinierung zu beeinflussen. Dazu organisierte die Gruppe Seminare, um Meinungen zur europäischen Armutsbekämpfung von betroffenen Bürgern einzuholen. Zudem veröffentlichte sie Positionspapiere, in denen die zivilgesellschaftlichen Organisationen ihre Erwartungen an die britische Regierung formulierten. Diese Aktivitäten stärkten die Rolle der Wohlfahrtsverbände im nationalen politischen Spiel und etablierten die Organisationen zunehmend als relevante Teilnehmer in der armutspolitischen Entscheidungsfindung. So erklärte sich das für die Strategieberichte verantwortliche Arbeits- und Rentenministerium bereit, die gesammelten Beiträge von in Armut Lebenden als eigene Abschnitte den offiziellen Berichten beizufügen. Auch nahmen immer mehr Mitarbeiter von ebenfalls mit dem Thema befassten Ministerien an Workshops teil und kamen somit in direkten Kontakt mit Betroffenen. Daneben fanden regelmäßige informelle Treffen zwischen Regierungsvertretern und der Arbeitsgruppe statt, die Ende 2006 in ein formelles Gremium mündeten. Dieses wird seitdem kontinuierlich an den britischen Strategieberichten beteiligt.

Den Entwicklungen in Großbritannien steht die Umsetzung der Offenen Methode in Italien diametral gegenüber. Auch hier hatten zivilgesellschaftliche Gruppen ursprünglich keine formalisierte Teilhabe an der sozialpolitischen Entscheidungsfindung - doch auch im Zuge der Offenen Methode bildeten sich diese Strukturen hier nicht heraus. Vor allem die beiden zwischen 2001 und 2006 amtierenden Regierungen von Ministerpräsident Silvio Berlusconi zeigten wenig Interesse an einem europäischen Kampf gegen Armut. Vielmehr wurden die sozialpolitischen Kompetenzen per Verfassungsreform im Oktober 2001 auf die Ebene der Regionen verlagert. Damit ging ein nahezu vollständiger politischer Bedeutungsverlust der zentralstaatlich ausgerichteten Offenen Methode einher. Das Sozialministerium betrachtet die nationalen Strategieberichte zur Armutsbekämpfung seither als bürokratische Bürde; zu einer effektiven Beteiligung nichtstaatlicher Organisationen kommt es nicht. Die Organisationen pochen ihrerseits aber auch nicht darauf, stärker eingebunden zu werden. Vielmehr konzentrieren sie sich auf die Arbeit in den Regionen, wo sie mit den staatlichen Institutionen ein kooperatives Verhältnis bei der Bereitstellung sozialer Dienstleistungen aufbauen konnten. Die zivilgesellschaftlichen Akteure nutzen derzeit die Offene Methode lediglich dazu, die zentralstaatliche Sozialpolitik harsch zu kritisieren. Als Möglichkeit, ein kooperatives Verhältnis zu den politischen Entscheidungsträgern aufzubauen, betrachten die Akteure die Offene Methode nicht.

Das Beispiel Großbritannien zeigt, dass die Offene Methode trotz ihrer Unverbindlichkeit und der lediglich empfohlenen, nicht jedoch verbindlichen Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure durchaus einen Wandlungsprozess in den Mitgliedstaaten in Gang setzen kann. Eine freiwillige Europäisierung, verstanden als Abkehr von traditionellen Mustern der nationalen Willensbildung und Entscheidungsfindung, ist demnach möglich. Dieser Befund stellt den klassischen Ansatz der Europäisierungsforschung in Frage, der für einen nationalen Wandel einen verbindlichmateriellen Anpassungsdruck als notwendig erachtet. Demgegenüber stellt die Offene Methode mit ihrem Leitprinzip der Beteiligung lediglich immaterielle Argumente für die Zivilgesellschaft bereit. Jedoch können auch diese die Kräfteverhältnisse innerhalb eines nationalen Politikfelds verschieben und neue legitime Mitspieler auf den Plan rufen.

Der Fall Italien macht auf der Gegenseite aber auch deutlich, dass nur dann eine freiwillige Europäisierung in Gang gesetzt werden kann, wenn die nichtstaatlichen Organisationen selbst die Offene Methode der Koordinierung als politisch relevantes Gestaltungsinstrument annehmen.

Ist dies der Fall, so kann es auch in einem Mitgliedstaat wie Großbritannien, der traditionell kaum korporatistische Formen der Interessenvermittlung kennt, zu einer formalisierten Beteiligung nichtstaatlicher Akteure bei der Entscheidungsfindung kommen.

Bleibt hingegen eine Mobilisierung aus, weil die Maßnahme in ihrer politischen Bedeutung gering geschätzt wird, so kommt es - wie etwa in Italien mit seiner dezentralisierten Sozialpolitik - nicht zu einem Wandel nationaler Strukturen. Dies ist im Übrigen auch in Deutschland zu beobachten, wo die Organisationen der freien Wohlfahrtspflege traditionell eine Schlüsselfunktion in der sozialpolitischen Entscheidungsfindung einnehmen. Hier führte die Offene Methode der Koordinierung nicht zu verstärkter Beteiligung, da die Methode nicht als relevantes Gestaltungsinstrument begriffen wurde. Dafür existieren in Deutschland zum Beispiel mit dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung andere politische Instrumente, auf die sowohl die staatlichen Akteure als auch die Wohlfahrtsverbände als Interessenvertretung ihre Tätigkeiten fokussieren.

Die Frage, ob und wie stark sich die Mitgliedstaaten europäisieren, entscheidet sich demnach nicht primär auf supranationaler Ebene mit dem Grad der Verbindlichkeit der EU-Vorgabe. Ausschlaggebend ist vielmehr der nationale Kontext. Somit kann auch ein unverbindlicher Politikmodus zu einer freiwilligen Europäisierung führen - wenn die Zivilgesellschaft ihn als politische Chance begreift.


Marlon Barbehön studiert Politikwissenschaft und Germanistik an der Technischen Universität Darmstadt. Von März bis Juni 2010 war er Praktikant bei der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa.
m.barbehoen@stud.tudarmstadt.de


Literatur

Armstrong, Kenneth A.: "Inclusive Governance? Civil Society and the Open Method of Coordination". In: Stijn Smismans (Ed.): Civil Society and Legitimate European Governance. Cheltenham, UK/Northampton: Edward Elgar Publishing 2006, S. 4267.

Börzel, Tanja A./Risse, Thomas: "Conceptualizing the Domestic Impact of Europe". In: Kevin Featherstone/Claudio M. Radaelli (Eds.): The Politics of Europeanization. Oxford: Oxford University Press 2003, S. 5780.

de la Porte, Caroline/Pochet, Philippe: "Participation in the Open Method of Coordination. The Cases of Employment and Social Inclusion". In: Jonathan Zeitlin/Philippe Pochet (Eds.): The Open Method of Coordination in Action. The European Employment and Social Inclusion Strategies. Brussels: P.I.E.Peter Lang 2005, S. 353389.

Heidenreich, Martin/Zeitlin, Jonathan (Eds.): Changing European Employment and Welfare Regimes. The Influence of the Open Method of Coordination on National Reforms. London/New York: Routledge 2009.

Kohler-Koch, Beate/Rittberger, Berthold: "The 'Governance Turn' in EU Studies". In: Journal of Common Market Studies 44 (Annual Review), 2006, S. 2749.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 130, Dezember 2010, Seite 11-13
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2011