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SOZIALES/152: Bildung und materielle Ungleichheiten - Was bringt der investive Sozialstaat? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 138/Dezember 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Bildung und materielle Ungleichheiten
Was bringt der investive Sozialstaat?

von Heike Solga



Kurz gefasst: Wird ein Mehr an Bildung und ein Abbau von Bildungsungleichheit tatsächlich das Ausmaß an Armut und Einkommensungleichheiten in fortgeschrittenen Gesellschaften verringern? Die Ergebnisse eines Ländervergleichs legen nahe, dass Bildung als "Gleichheitsmacher" nicht überschätzt werden darf.


Bildung gilt als einer der wichtigsten Faktoren für Produktivität, wirtschaftliches Wachstum und gesellschaftlichen Wohlstand und wird als Lösung für viele gesellschaftliche Probleme angesehen. In zahlreichen Parteiprogrammen und öffentlichen Verlautbarungen wird Bildung heute als das entscheidende Mittel zur Armutsbekämpfung und Schaffung sozialer Gleichheit dargestellt. So heißt es im Strategiepapier "Konsultation über die zukünftige EU-Strategie bis 2020" der Europäischen Kommission von 2009: "Durch die Stärkung des Bildungswesens lassen sich Ungleichheit und Armut am effektivsten bekämpfen."

Vor diesem Hintergrund findet seit Anfang der 2000er Jahre in Europa eine Umorientierung in der Ausrichtung von Sozialpolitik statt: weg von einem versorgenden Sozialstaat (der Umverteilung), hin zu einem sogenannten vorsorgenden und aktivierenden Sozialstaat. Einen wichtigen Impuls gab der britische Soziologe Anthony Giddens, der in seinem 1999 erschienenen Buch "Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie" den Begriff der "investiven Sozialstaatspolitik" prägte. Bildung spielt bei dieser "Vorsorge" eine zentrale Rolle.

Der Stellenwert von Bildung in der Sozialpolitik wurde empirisch noch nie systematisch untersucht, da die meisten Sozialstaatsmodelle Bildung außen vor lassen und sich auf andere Indikatoren konzentrieren. Es ist also zu fragen: Verringern ein Mehr an Bildung und ein Abbau von Bildungsungleichheit tatsächlich das Ausmaß materieller Armut und materieller Ungleichheiten in fortgeschrittenen Gesellschaften? Muss der Staat dann tatsächlich weniger umverteilend lenken, etwa durch Steuern oder Transferleistungen? Die Ergebnisse unserer Analysen zum Zusammenhang zwischen Bildungs- und Einkommensungleichheit in fortgeschrittenen Gesellschaften stärkt Zweifel an der These von Bildung als "Gleichheitsmacher".

Untersucht wurden 20 wohlhabende Länder in den 1990er und 2000er Jahren. Die Höhe und Verteilung von Bildung in diesen Ländern wurde über die erreichten kognitiven Kompetenzen und Fähigkeiten gemessen, genauer über die Lesekompetenz. Genutzt wurden Kompetenzmessungen am Ende der Pflichtschulzeit (PISA-Studien der OECD) und im Erwachsenenalter, also nach weitgehender Beendigung der Bildungsbiografie. Hierfür wurden Daten des International Adult Literacy Survey (IALS) der OECD zwischen 1994 und 1998 herangezogen. Für PISA liegen Kompetenzmessungen für 20 wohlhabende Länder vor, der IALS liefert Daten für 16 dieser 20 Länder. Die Höhe des Einkommens und die Einkommensungleichheit werden mit den Armutsquoten (definiert als ein Einkommen von weniger als 60 Prozent des landesdurchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens) und durch Gini- Koeffizienten berechnet - und dies jeweils vor und nach Steuer und Transferleistungen. Der Gini-Koeffizient ist ein Maß für die Verteilung von Einkommen. Hätten alle das gleiche Einkommen, würde der Koeffizient einen Wert von 0 anzeigen, hat eine Person das gesamte Einkommen eines Landes, aber alle anderen kein Einkommen, dann wäre der Maximalwert von 1 erreicht.

In unseren Analysen stellen wir fest, dass die Höhe der Bildungsarmut am Ende der Sekundarstufe I mit der Armutsquote oder der Einkommensungleichheit in einem Land nicht zusammenhängt. Anders sieht es für die Bildung im Erwachsenenalter aus: Je niedriger der Anteil der Bildungsarmut von Erwachsenen, desto niedriger ist auch der Gini-Koeffizient und damit die Einkommensungleichheit. Eine Ursache dafür ist, dass ein geringer Anteil von Bildungsarmut mit einem höheren Beschäftigungsniveau und damit auch geringeren Einkommensungleichheiten einhergeht.

Auch die umgekehrte Wirkungsrichtung gilt: Bei einer geringen Armutsquote in der Elterngeneration (Mitte der 1990er Jahre) ist das Ausmaß an Bildungsarmut im Jahr 2009 geringer. Reduziert man also die materielle Ungleichheit in der Elterngeneration, führt dies zu einem Abbau von Bildungsarmut der Generation ihrer Kinder. Der Grad an Chancenungleichheit im Bildungserwerb (also der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg) wird hingegen weder durch das Ausmaß an Einkommensunterschieden noch durch die Armutsquote in der Elterngeneration beeinflusst.

Diese Befunde sprechen durchaus für eine Strategie eines investiven Sozialstaats - und zwar in doppelter Weise: zum einen mit einer Bildungspolitik, die auf den Abbau von Bildungsarmut in der Kindergeneration ausgerichtet ist. Zum anderen mit einer Arbeitsmarkt- und Umverteilungspolitik, die die Armut in der Elterngeneration zu verringern hilft und damit zu einer Verbesserung der familialen Lernumwelten der Kinder und Jugendlichen beiträgt.

Gleichwohl bleibt für das Verhältnis von vor- und nachsorgender Sozialpolitik zu fragen, inwieweit Bildung als indirekte Maßnahme einen zusätzlichen Beitrag zu direkten Maßnahmen der sozialpolitischen Umverteilung leisten und damit materielle Ungleichheit verringern kann. Hier zeigte die Analyse, dass weder eine Reduzierung von Bildungsarmut noch eine Verringerung des Zusammenhangs von Bildung und sozialer Herkunft zusätzlich das Ausmaß an materiellen Ungleichheiten (wie Einkommensungleichheiten und Armutsquoten) beeinflusst.

Es ist vielmehr die Art des Wohlfahrtsstaats - mit seinem je spezifischen Bündel an Umverteilungsmechanismen -, die das Ausmaß an materieller Ungleichheit prägt. So haben sozialdemokratische Wohlfahrtsstaaten in der Regel nicht nur geringere Ungleichheiten in den Arbeitsmarkteinkommen, sondern zusätzlich noch eine vergleichsweise hohe sozialstaatliche Umverteilung durch Steuern und Transferleistungen.

Gleichwohl ist mit Blick auf das Ausmaß an Bildungsarmut festzustellen, dass sich die sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten durch eine gleichermaßen erfolgreiche Bildungs- und Sozialpolitik auszeichnen. Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden hatten (neben Deutschland) einen deutlich geringeren Anteil an kompetenzarmen Erwachsenen. Dabei ist wohl von einem sich verstärkenden Wechselspiel zwischen egalitären Strukturen auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem auszugehen, sodass Bildungsprozesse und -politik weniger durch Konkurrenz als durch Solidarität geprägt werden.

Die Befunde der Studie legen insgesamt nahe, dass die Rolle von Bildung und der Abbau von Bildungsungleichheiten als Mittel der Armutsbekämpfung und Ungleichheitsreduzierung nicht überschätzt werden dürfen. Direkte Maßnahmen der sozialstaatlichen Umverteilung sind weit wirkungsvoller als indirekte Maßnahmen, die das Bildungssystem betreffen. Dafür spricht auch der Befund, dass ein Abbau von Armut in der Elterngeneration helfen kann, Bildungsarmut in der Kindergeneration zu verringern.

Eine verengte Orientierung auf Bildung und Chancengleichheit - oder "Chancengerechtigkeit" - ist nicht nur weniger wirkungsvoll als erwartet, sondern kann zudem den Wettbewerbsgedanken verstärken und dadurch eine Bildungspolitik zum Abbau von Bildungsarmut behindern. Für Letzteres wäre nicht Wettbewerb, sondern eine Stärkung gesellschaftlicher Solidarität erforderlich, da eine solche Bildungspolitik den Wählerinteressen, den Wünschen der Sozialstaatsklientel, widersprechen und Verteilungskonflikte auslösen könnte. Mit einer auf Bildung verengten sozialpolitischen Orientierung besteht darüber hinaus die Gefahr, dass andere, effektivere Problemlösungsstrategien (wie Umverteilung, existenzsichernde Löhne oder der Ausbau von Beschäftigung zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit) für soziale und ökonomische Probleme aus dem Blick geraten. Daher ist eine gute Balance zwischen Bildung und einer sozialen Absicherung von sozialen Risiken oder ein Wohlfahrtsstaat "auf zwei Beinen" - wie in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten - gefragt.

Auch wenn nun die sozialpolitische Wirkung von Bildung geringer ist als von vielen erwartet, so soll damit keinesfalls die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung von Bildung infrage gestellt werden. Ein Mehr an Bildung ist ein Wert an sich und kann gesellschaftlich viele positive Effekte haben. Dazu gehören kulturelle und zivilgesellschaftliche, Gesundheits- sowie motivationale Aspekte bis hin zu Fragen des subjektiven Wohlbefindens und der Lebensgestaltung. Doch auch hier ist Bildung nicht der alleinige Faktor für positive Entwicklungen in diesen Bereichen.


Literatur
Solga, Heike: "Bildung und materielle Ungleichheiten - Der investive Sozialstaat auf dem Prüfstand". In: Rolf Becker/Heike Solga (Hg.): Soziologische Bildungsforschung. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 52. Wiesbaden: Springer VS Verlag, S. 459-487.


Heike Solga ist Direktorin der Abteilung Ausbildung und Arbeit sowie Professorin für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Soeben ist das von ihr gemeinsam mit Rolf Becker herausgegebene Sonderheft "Soziologische Bildungsforschung" der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienen.
heike.solga@wzb.eu


Das Kolleg für interdisziplinäre Bildungsforschung

Bildungswege sind komplex und geprägt von vielen Einflüssen wie der Herkunft, dem Schulsystem oder ökonomischen Voraussetzungen. Um Bildungsprozesse besser zu erforschen, braucht es die Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtungen, was aber noch zu selten passiert. Diese Lücke will das neu gegründete Kolleg für interdisziplinäre Bildungsforschung schließen, das unter Federführung des WZB jetzt seine Arbeit aufgenommen hat. Es richtet sich an Postdocs aus der Soziologie, Ökonomie, Psychologie und den Erziehungswissenschaften, die empirische Bildungsforschung betreiben und dabei die Grenzen der eigenen Disziplin überschreiten wollen. Im März 2013 öffnet das Kolleg für 30 Fellows: Sie werden von erfahrenen Forscherinnen und Forschern bei der Entwicklung ihrer Projekte unterstützt und finden Austausch in regelmäßigen Workshops.

Gefördert werden neben Untersuchungen zur Kompetenzentwicklung und den Bildungserträgen Arbeiten, die der Frage nachgehen, wie Bildungserfolg trotz widriger Umstände gelingen kann. Das Kolleg wird zunächst für dreieinhalb Jahre von der Jacobs Foundation und dem Bundesministerium für Bildung und Forschungen finanziert. Neben dem WZB sind fünf weitere Leibniz-Institute beteiligt: das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, IPN - Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik sowie das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).

Weitere Informationen: www.ciderweb.org

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 138, Dezember 2012, Seite 6-8
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2013