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SOZIALES/153: Trübe Aussichten (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2013

Trübe Aussichten
Über die Festigkeit von Sozialstaatskonzepten in Zeiten der Krise

von Norman Wagner



Aufgrund der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2008 begann, kam es EU-weit zu einem starken Einbruch der Wirtschaftsleistung und der Beschäftigung. Durch die sozialen Sicherungssysteme konnten die Auswirkung der Krise zum Teil abgefedert werden, nicht ohne jedoch einen starken Anstieg der öffentlichen Verschuldung in Kauf zu nehmen. Die meisten EU-Staaten reagierten darauf mit dem Schnüren von Sparpaketen, die als letzte Konsequenz auch die Struktur der öffentlichen Einnahmen veränderten - mit teilweise erheblichen Folgen für die langfristige Finanzierbarkeit der sozialen Sicherung.


Der Wirtschaftseinbruch ab Herbst 2008 hatte zur Folge, dass es zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosenzahlen kam (EU-weit stieg die Arbeitslosigkeit zwischen 2008 und 2009 von 7,0 auf 8,9 %), der über die automatischen Stabilisatoren (steigende Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung) sowie zusätzliche Ausgaben (z.B. für Kurzarbeitsmaßnahmen) die sozialen Sicherungssysteme finanziell erheblich belastete. Gleichzeitig gingen die Sozial- und Steuerbeiträge von Arbeitnehmern wie auch Arbeitgebern deutlich zurück. 2009 lag der Rückgang der Sozialversicherungsbeiträge EU-weit bei 2,5 %. Die Einnahmen aus indirekten Steuern (vor allem der Mehrwertsteuer) gingen um etwa 7 % zurück, jene aus direkten Steuern (Lohn- und Einkommenssteuer) sogar um 12 %. Als Konsequenz wuchsen europaweit die Budgetdefizite und damit auch die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte.

Nach einer kurzen Phase der wirtschaftlichen Erholung in den Jahren 2010 und 2011, als vorübergehend ein moderates Wachstum zumindest in Teilen der EU einsetzte, das auch zur Entspannung auf den Arbeitsmärkten führte, wurde eine Phase strikter Konsolidierung der öffentlichen Haushalte eingeläutet. Das führte in vielen EU-Mitgliedsstaaten zu Änderungen der Steuer- bzw. Abgabensysteme. Die daraus resultierenden Auswirkungen auf die langfristige Finanzierung der sozialen Sicherung sind erheblich und haben dauerhafte Folgen.


Einflussfaktoren auf die Sozialstaatsfinanzierung

Eine Vielzahl von direkten und indirekten Faktoren hat Einfluss auf die Finanzierung der sozialen Sicherheit.

Als direkte Konsequenz der Senkung von Steuer- oder Sozialversicherungsbeiträgen kommt es in der Regel zu einem Einnahmenrückgang der öffentlichen Haushalte. Abhängig von der konkreten Vorgangsweise können sich daraus auch wachstumsfördernde Impulse auf Beschäftigung und privaten Konsum ergeben, die wiederum zu einem Anstieg der öffentlichen Einnahmen führen. Eine Abgabenerhöhung andererseits führt zwar kurzfristig meist zu einem Anstieg der Einnahmen, der potenziell folgende Anstieg von Preisen und Lohnkosten kann die positive Einnahmenentwicklung jedoch konterkarieren. Eine weitere Option um zusätzliche Einnahmen zu erzielen ist die Einführung neuer Abgaben, wie aktuell die Finanztransaktionssteuer. Die Ausweitung der für die Abgaben relevanten Bemessungsgrundlage ist eine weitere Möglichkeit. Der Allgemeine Sozialbeitrag (contribution sociale généralisée, CSG) in Frankreich stellt ein entsprechendes Beispiel dar.

Die Nachfrageelastizität und das Ziel der Besteuerung (z.B. Konsum, Arbeit) sind bei Veränderungen des Abgabensystems jedenfalls zu berücksichtigen. Daneben müssen auch etliche indirekte Effekte berücksichtigt werden. So wird sich eine Zunahme der Arbeitslosigkeit negativ auswirken, da die Zahl der Menschen, die Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, zurückgeht. Beschäftigungsstabilisierende Maßnahmen - wie die in Deutschland ab 2008 sehr aktiv genutzte Kurzarbeit - erlauben es Unternehmen die Lohnkosten zu reduzieren, ohne dass es zu einem Rückgang der Beschäftigung führt. So kann das Niveau der lohnabhängigen Abgaben stabil gehalten werden, die Ausgaben der öffentlichen Hand werden dadurch allerdings steigen. Für die Finanzierungsbasis der sozialen Sicherung sind auch die Ergebnisse der jährlichen Lohnverhandlungen von Bedeutung. Aufgrund der moderaten Lohnanstiege im Jahr 2009 bei gleichzeitigem starken BIP-Rückgang wurde auch der private Konsum der Arbeitnehmer gestärkt, was sich stabilisierend auf die Staatseinnahmen auswirkte.


Die Sozialmodelle reagieren unterschiedlich

Die Fähigkeit der sozialen Sicherungssysteme in der EU, den Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 standzuhalten, war sehr unterschiedlich. Länder, die zum korporatistischen Wohlfahrtssystem gezählt werden, wie Deutschland und Österreich, konnten ihr Beschäftigungsniveau annähernd halten (oder sogar erhöhen). Dadurch konnte ein kurzfristiger Einbruch der Staatseinnahmen verhindert werden. Langfristig besteht jedoch die Gefahr, dass die starke Abhängigkeit der Sozialstaatsfinanzierung von einem stabilen Beschäftigungsniveau problematisch wird. Denn die damit verbundenen hohen Lohn(neben)kosten könnten sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken.

In den Staaten mit universellen (auch sozialdemokratischen) Wohlfahrtssystemen, wie Schweden, stellt sich die Situation umgekehrt dar. Zwischen 2008 und 2009 kam es zu einem starken Rückgang der Beschäftigung und damit einhergehend der öffentlichen Einnahmen. Diese Entwicklung untermauert das Argument, dass sich ein stabiles Beschäftigungsniveau positiv auf die Finanzierung der sozialen Sicherheit auswirkt. Da es in Schweden ab 2010 jedoch zu einer bemerkenswert schnellen Erholung der Wirtschaft kam (+ 5,5% des BIP), ist eine Rückkehr zur "Vorkrisennormalität" wahrscheinlich, zumal Beschäftigung und öffentliche Finanzen robust erscheinen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorkrisenniveau könnte sich zur Achillesferse entwickeln.

Großbritannien, als Repräsentant des liberalen Wohlfahrtsstaatssystems, wurde aufgrund seiner starken Abhängigkeit von Wachstumsimpulsen des Finanzsektors und nur rudimentären sozialen Absicherung massiv von der Krise getroffen. Beschäftigung und privater Konsum sanken, die öffentlichen Einnahmen gingen stark zurück. Als Konsequenz wurde in Großbritannien ein umfangreiches Konsolidierungsprogramm mit tiefen Einschnitten in die soziale Sicherung beschlossen, das die Widerstandskraft des Landes gegenüber zukünftigen Krisen weiter verringern wird.

Ungarn, ein Beispiel eines postsozialistischen Wohlfahrtsstaates, führte ab 2010 umfangreiche Reformen im Steuer- und Abgabensystem durch. Diese werden aus heutiger Sicht die negativen Auswirkungen der Krise eher verstärken, anstatt sie zu bekämpfen. Gerade in diesem Fall sind aber die langfristigen Folgen nicht absehbar.

Tabelle: Veränderung des Anteils am Abgabenaufkommen zwischen 2007 und 2011, in Prozentpunkten.Quelle: Ameco Datenbank, eigene Berechnung



Die Grafik zeigt die Veränderungen im Abgabenaufkommen zwischen 2007 und 2011. Die Entwicklungen sind das Ergebnis der Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise, der auf sie folgenden Konjunkturprogramme und der Konsolidierungsmaßnahmen ab 2010. Der Anteil der direkten Steuern mit ihren tendenziell progressiven Verteilungseffekten ging in allen verglichenen Ländern und im Schnitt der EU 27 (- 2,3 Prozentpunkte) zurück. Dafür stieg der Anteil der indirekten Steuern, die Menschen mit niedrigen Einkommen verhältnismäßig stärker belasten als jene mit hohen. Besonders stark war diese Entwicklung in Schweden mit einem Plus von 5,6 Prozentpunkten. Der Beitrag der Sozialversicherungsbeiträge, die in unteren Einkommensbereichen eine proportionale Verteilungswirkung haben (hohe Einkommen jedoch entlasten), stieg ebenfalls in allen untersuchten Ländern, mit Ausnahme von Schweden. Im EU 27-Schnitt betrug der Anstieg 1,3 Prozentpunkte.


Konsequenzen aus Krise und Konsolidierung

Ein abschließender Befund der Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise ist allerdings noch nicht möglich. 2012 schrumpfte die Wirtschaftsleistung der Volkswirtschaften der EU um durchschnittlich 0,1 %, für 2013 sind die Aussichten nur wenig besser. Die rigiden Sparpakete, die in Europa vielerorts derzeit umgesetzt werden, verstärken die negativen Auswirkungen der aktuellen Krise auf die wirtschaftliche Entwicklung. Sie reduzieren durch ihre tiefen Einschnitte in die soziale Sicherung die Fähigkeit der Sozialstaaten, die Bürger vor den Krisenfolgen zu schützen. Die finanziellen Mittel, die der Aufgabe der sozialstaatlichen Umverteilung zur Verfügung stehen, werden "nach" der Krise erheblich geringer sein als bisher. Eine baldige Rückkehr zu den Verhältnissen vor 2008 ist daher nicht zu erwarten.

Doch nicht alle Entwicklungen sind negativ. Die in Ungarn als Antwort auf die Krise getroffenen Maßnahmen sind international diskreditiert, Schweden konnte nach einem kurzen Einbruch seine Wirtschaft stabilisieren und das Sozialleistungsniveau in Österreich ist nach wie vor hoch.

Andererseits scheint die deutsche Regierung mit den weitreichenden ausgabenseitigen Konsolidierungsmaßnahmen, die 2010 beschlossen wurden, über das Ziel hinauszuschießen. Das könnte sich mittelfristig durchaus als fatal erweisen, da die Möglichkeiten auf zukünftige Krisen mit antizyklischen Maßnahmen zu reagieren, stärker beschnitten wurden als notwendig war. Angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands für den Kontinent sind das keine erfreulichen Aussichten für Europa.


Norman Wagner (* 1977) ist seit 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der österreichischen Bundesarbeitskammer. Seine Forschungsschwerpunkte sind Armut, atypische Beschäftigung, Verteilung und Sozialstaatsfinanzierung.
norman.wagner@akwien.at

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2013, S. 34 - 37
herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter
Struck (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2013