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SOZIALES/154: Doppelpack gegen Sozialstaat und Demokratie (SOLIDAR WERKSTATT)


SOLIDAR WERKSTATT für ein solidarisches, neutrales und weltoffenes ÖSTERREICH
WERKSTATT-Blatt Nr. 4/2012

Doppelpack gegen Sozialstaat und Demokratie

von Gerald Oberansmayr



Hinter den Kulissen werden derzeit zwei neue EU-Verordnungen debattiert - das sog. Two Pack: Budgetpläne sollen in Hinkunft der EU-Kommission vorab vorgelegt werden; die Nicht-Befolgung ihrer Forderungen kann noch rascher in neoliberale Diktate münden.


Die Wirtschaftskrise wird von den EU-Eliten benutzt, um im Eilzugstempo Demokratie und Sozialstaat auszuhebeln: Europäisches Semester, Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und Verfahren bei"makroönomischem Ungleichgewicht" (Six Pack), Euro-Plus-Pakt und schließlich im heurigen Jahr EU-Fiskalpakt und ESM. Doch damit nicht genug. Nach dem Motto "speed kills" soll noch in diesem Jahr der nächste EU-Hammer zur Entmündigung der nationalen Parlamente ausgepackt werden. Es handelt sich um zwei Verordnungen, die von der EU-Kommission bereits Ende vorigen Jahres klammheimlich vorgelegt wurden und nun im Verfahren mit dem EU-Parlament finalisiert werden sollen. Die etwas sperrigen Namen dieser Verordnungsentwürfe:

  • Verordnung über die gemeinsame Bestimmungen für die Überwachung und Bewertung der Übersichten über die gesamtstaatliche Haushaltsplanung und für die Gewährleistung der Korrektur übermäßiger Defizite der Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet.

- Verordnung über den Ausbau der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung von Mitgliedstaaten, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität im Euro-Währungsgebiet betroffen oder bedroht sind.

Die einprägsame Kurzbezeichnung für diese beiden Verordnungen: Two-Pack.

Was sind die Kerninhalte dieses Two-Packs?


Vorab-Budgetkontrolle durch EU-Kommission - mit
Damoklesschwert

Das sog. "Europäische Semester", das bislang darin besteht, über Vorgaben von EU-Kommission und Rat die Mitgliedsstaaten im 1. Halbjahr budgetpolitisch zu gängeln, soll auf das 2. Halbjahr ausgedehnt werden. Nun muss eine "Übersicht über die gesamtstaatliche Haushaltsplanung für das kommende Jahr" (1) bis 15. Oktober der EU-Kommission vorab - also noch bevor ihn die Parlamentarier zu Gesicht bekommen - zur Begutachtung vorgelegt werden. Ist die EU-Kommission nicht einverstanden, "fordert sie den betreffenden Mitgliedstaat innerhalb von zwei Wochen nach Vorlage der Übersicht über die gesamtstaatliche Haushaltsplanung auf, eine überarbeitete solche Übersicht vorzulegen." (2) Dabei macht die Kommission "Vorgaben bezüglich des Inhalts" der gesamtstaatlichen Haushaltsplanung. Erst ganz zum Schluss bekommen auch die Parlamentarier den zurecht geschliffenen Budgetentwurf vorgelegt; bis spätestens 31. Dezember dürfen sie ihn dann abnicken.

Sollten sich Regierung bzw. Parlament nicht gefügig gegenüber den Vorgaben der EU-Kommission erweisen, schwebt über ihnen das Damoklesschwert des Defizitverfahrens. In EU-Beamtenprosa heißt das: "In welchem Maße die Stellungnahme (der Kommission, Anm. GO) berücksichtigt wurde, sollte mit einfließen in die Bewertung, ob bzw. wann die Voraussetzungen für einen Beschluss über die Einleitung eines Defizitverfahrens für den betreffenden Mitgliedstaat gegeben sind, wobei die Nichtberücksichtigung der von der Kommission in einem frühen Stadium gegebenen Ratschläge als erschwerender Umstand gelten sollte." (3)


Diktieren von neoliberalen "Strukturreformen"

Damit kommt die neoliberale Diktatur der EU-Technokratie ein weiteres Stück voran. Denn mit dem EU-Fiskalpakt kann die Einleitung eines Defizitverfahrens nahezu automatisch erfolgen. Der Antrag der Kommission gilt als angenommen, falls nicht innerhalb von 10 Tagen eine qualifizierte Mehrheit dagegen votiert. In Folge können nicht nur hohe Geldstrafen bis zu 0,5% des BIP verhängt werden, die Staaten können auch zu "wirtschaftlichen Partnerschaftsabkommen" vergattert werden, in denen Kommission und Rat "detaillierte Strukturreformen" (4) diktieren können. Worum es dabei geht, erleben wir derzeit in den südeuropäischen Ländern: Lohn- und Pensionskürzungen, Aufweichen von Kollektivverträgen, Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen, usw.

Unterstützt werden soll die Kommission dabei in Hinkunft durch einen "unabhängigen Rat für Finanzpolitik", der von den Nationalstaaten einzurichten ist. Dieses im Two-Pack vorgeschriebene Technokratengremium soll sich vor allem durch eines auszeichnen: Unabhängigkeit von jeder demokratischen Kontrolle. Denn seine Aufgabe ist es, "die Umsetzung der nationalen Haushaltsregeln zu überwachen" (5), welche wiederum hinsichtlich "Art, Umfang und Zeitrahmen der zu ergreifenden Korrekturmaßnahmen" (6) von der EU-Kommission festgelegt werden. Ein Rad greift ins andere.


Über die Bande der Finanzmärkte

Diese technokratische Kontrolle über die Wirtschafts- und Budgetpolitik der einzelnen Staaten soll auch durch die zweite Verordnung des "Two-Packs" intensiviert werden. Diese sieht vor, dass die EU-Kommission alleine eine "verstärkte Überwachung" eines EU-Staates vornehmen kann, wenn sie bei diesem "gravierende Schwierigkeiten in Bezug auf die Finanzstabilität" (7) verortet. Sind schon die Kriterien in Bezug auf das öffentliche Defizit (das sog. "strukturelles Defizit" von max. 0,5%) ausgesprochen vage und damit in hohem Maß beliebig definierbar, so werden hinsichtlich dieser "gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf die Finanzstabilität" von vornherein jegliche Konkretisierungen vermieden. Der Willkür der Technokratie sind damit kaum noch Grenzen gesetzt, ob, wann und wie solche Verfahren eingeleitet werden.

Die Einleitung eines solchen "Überwachungsverfahrens" gleicht einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Denn wer auf diese Art und Weise von der Kommission als "finanzinstabil" öffentlich vorgeführt wird, der wird an den Finanzmärkten wohl erst recht kein Geld mehr bzw. nur mehr zu exorbitanten Zinsen erhalten, sodass der Staat weiter in eine prekäre finanzielle Situation driftet. Sollte das alles noch nicht reichen, um den Staat für neoliberale "Strukturreformen" gefügig zu machen, kann der EU-Rat auf Antrag der Kommission dem beargwöhnten Staat "empfehlen, sich um Finanzhilfe zu bemühen"(8), sprich Gelder des ESM oder anderer "Rettungsfonds" in Anspruch zu nehmen. Ab diesem Zeitpunkt wird der Staat an den Finanzmärkten wohl endgültig unten durch sein, d.h. der Staat wird sich "retten" lassen müssen.

Währungskommissar Olli Rehn hat den Zweck der Übung unverblümt beim Namen genannt: "Die jüngsten Erfahrungen haben gezeigt, dass jedes Mitgliedsland solche Hilfen bis zum letzten Moment verweigern will. .... Es gibt keine Freiwilligen für EU-IWF-Programme." (9). Es ist wenig verwunderlich, warum es keine Freiwilligen gibt: Länder, denen solcherart "geholfen" wird, rutschen in den Status eines Koloniallandes ab und müssen sich neoliberale Schockprogramme aufoktroyieren lassen. "Makroökonomische Anpassungsprogramme" heißen diese Diktate der sozialen Barbarei in der EU-Verordnung des Two-Packs.


Doppelmühle

Wieder einmal zeigt sich eine fatale Doppelmühle. Über die EU-Verträge werden die Märkte liberalisiert und dereguliert. Diejenigen, die in dem dadurch entfesselten Wirtschaftskrieg unterliegen, werden über die Bande der entfesselten Finanzmärkte in jene Verschuldungsfalle hineingetrieben, die schließlich den EU-Eliten das Tor für die Demontage von Demokratie und Sozialstaat öffnet. Mit Fiskalpakt, Six-Pack, Two-Pack, usw. geht es nicht um stabile Finanzen, es geht um eine neue Form neoliberaler Herrschaft. Die deutsche Kanzlerin Merkel hat erst vor kurzem darauf hingewiesen, dass Berlin ein "föderales Europa" wolle, um den direkten Durchgriff auf Arbeitsmarkt-, Lohn- und Steuerpolitik der Staaten zu gewährleisten(10). Dem dient auch die Idee eines sog. "Super-Kommissars", die der deutsche Finanzminister Schäuble beim letzten EU-Gipfel anmahnte. Ein solcher "Super-Kommissars", der alleine über die Genehmigung von Haushalten entscheidet, wird auch vom Chef der Europäischen Zentralbank Mario Draghi "ausdrücklich unterstützt". Draghis im Frühjahr ausgeplaudertes Ziel: den "europäischen Sozialstaat zu einem Auslaufmodell" (11) zu machen.

Die neoliberalen Machteliten wissen: Je mehr Macht auf EU-Ebene akkumuliert wird, desto wehrloser stehen die arbeitenden Menschen, die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen der Demontage ihrer sozialen und demokratischen Errungenschaften gegenüber. Das Two-Pack ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Es ist bemerkenswert, dass gerade jene politischen Kräfte, die sonst gerne von einer "sozialen und demokratischen EU" schwadronieren, es nicht einmal der Mühe wert finden, über diesen nächsten Großangriff auf Demokratie und Sozialstaat auch nur zu informieren. Nach dem Bauchfleck bei Fiskalpakt bzw. ESM legt man bei den Führungen von SPÖ, ÖGB und Grünen offensichtlich keinen Wert darauf, bei der nächsten Bruchlandung unter öffentlicher Beobachtung zu stehen.


"Produktive Blutbäder"

Die neoliberale EU-Wirtschaftsdiktatur nimmt immer konkretere Züge an. Soziale und demokratische Errungenschaften sind eng mit den jeweiligen Nationalstaaten verbunden. Um diese Errungenschaften zu beseitigen, soll die Souveränität der Einzelstaaten nun auch im Bereich der Budget-, Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik gebrochen werden, nachdem sie bei Außenwirtschafts-, Geld-, Industrie- und Währungspolitik durch die EU-Verträge bereits ausgehebelt worden ist. Die Phrasen von der "europäischer Solidarität" vernebeln die enorme Machtverschiebung, die damit verbunden ist - hin zu neoliberalen EU-Technokratien und den nationalen Macht- und Wirtschaftseliten der größten EU-Staaten, allen voran Deutschlands. Die Europäische Union hat nicht das Geringste mit europäischer Solidarität zu tun. Ihre Verträge und Institutionen dienen dazu, einen brutalen Wirtschaftskrieg zwischen den EU-Staaten zu entfachen, um den "Siegern" eine imperiale Neuordnung des Kontinents zu ermöglichen. Die deutsche Wirtschaftspresse schreibt in diesem Zusammenhang bereits ungeniert von "Produktionsschlachten", die in ein "produktives Blutbad" (12) münden.

Auf der Strecke bleiben dabei vor allen die arbeitenden Menschen - in den Zentren wie an den Rändern. In Deutschland ist die Zahl der unter der Armutsschwelle Lebenden seit Einführung der Währungsunion um 40% gestiegen, in Österreich ist die reale Kaufkraft der Pensionen und der unteren Lohngruppen im letzten Jahrzehnt eingebrochen, in Griechenland breiten sich bereits wieder Krankheiten wie Tuberkulose und Malaria aus, weil das Gesundheitswesen durch den EU-Sparzwang vor dem Kollaps steht; in südeuropäischen Ländern schnellt die Selbstmordrate in die Höhe, weil immer mehr Menschen keinen Ausweg mehr aus ihrer sozialen Misere sehen.

Die Verteidigung bzw. die Rückgewinnung der staatlichen Souveränität erfordert den Austritt aus der neoliberalen Zwangsjacke EU. Nur so kann der Sozialstaat verteidigt, Raum für demokratische Alternativen gewonnen und die Voraussetzung für den Aufbau solidarischer internationale Beziehungen geschaffen werden. Wir wollen in keiner Hinsicht mehr Blutbäder sehen.


Quellen:

(1) EU-Verordnungsentwurf 2011/0385 (COD), Art. 5, Abs 1
(2) Ebda, Art. 5, Abs 5
(3) Ebda, Präambel, Abs 10
(4) Fiskalpakt, Art. 5
(5) EU-Kommission, Verordnungsentwurf 2011/0385 (COD), Art. 2, Abs 1
(6) Fiskalpakt, Art. 3 Abs. 2
(7) EU-Kommission, Verordnungsentwurf 2011/0386 (COD), Art. 2, Abs 1
(8) Ebda., Artikel 3, Abs 5
(9) EU-Observer, 30.11.2011
(10) EU-Observer, 7.11.2012
(11) Wallstreet-Journal, 23.2.2012
(12) Wirtschaftswoche, 3.11.2012

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Quelle:
WERKSTATT-Blatt (guernica) 4/2012, Seite 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2013