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SOZIALES/159: Gretchenfrage der Integration (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 142/Dezember 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Gretchenfrage der Integration

Religiöse Praxis prägt das Zusammenleben stärker als angenommen

von Sarah Carol, Marc Helbling und Ines Michalowski



Kurz gefasst: In zwei Umfragen am WZB wurden über die letzten Jahre Muslime und Nicht-Muslime zu ihren Einstellungen gegenüber der jeweils anderen Gruppe wie auch zu religiösen Symbolen befragt. Es zeigt sich, dass klare Unterschiede zwischen den Muslimen als Gruppe und religiösen Praktiken wie dem Tragen des Kopftuchs gemacht werden. Diese Unterschiede können teilweise durch Werte, Religiosität, Geschlecht und Einstellungen zu Geschlechterunterschieden der Befragten erklärt werden. Eine wichtige Rolle spielt die traditionelle Beziehung zwischen Staat und Kirchen.


Wer heutzutage in Westeuropa von Migranten spricht, meint oft Einwanderer aus muslimischen Ländern. In den meisten westeuropäischen Ländern machen sie einen Großteil der Einwanderungsbevölkerung aus. Die heftigsten Debatten über Zuwanderer und deren Integration drehten sich in den letzten zwei Jahrzehnten denn auch um muslimische religiöse Praktiken wie das Tragen des Kopftuchs oder um sakrale Bauten wie Moscheen und besonders deren Minarette. Die säkularen Gesellschaften Westeuropas sehen sich vor völlig neue Herausforderungen gestellt: Welche religiösen Praktiken können toleriert werden, wie verhalten sie sich zu liberalen Werten?

Angesichts dieser dringenden Fragen ist es überraschend, wie wenig wir darüber wissen, wie Westeuropäer über diese Herausforderungen denken und welche religiösen Rechte Muslime selbst als bedeutsam einstufen. Die meisten bisherigen Studien legten den Schwerpunkt auf politische Debatten zum Islam und auf die Integration von Muslimen. Trotz vieler Umfragen zu Migration wurden Einstellungen zu muslimischen Migranten und deren religiösen Praktiken kaum untersucht.

Um diese Forschungslücke zu schließen, wurden im WZB-Schwerpunkt Migration und Diversität über die letzten Jahre zwei eigene Umfragen zu diesem Thema in mehreren westeuropäischen Ländern durchgeführt. In diesen Umfragen ging es vor allem um die Einstellungen von Einheimischen wie von muslimischen Migranten gegenüber Migrations- und Integrationsthemen:

Die EURISLAM-Telefon-Umfrage befragte rund 7.000 Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in sechs europäischen Ländern (Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und der Schweiz). Bei Personen mit Migrationshintergrund handelt es sich um solche mit muslimischen Wurzeln und ex-jugoslawischer, marokkanischer, türkischer und pakistanischer Herkunft. Im Rahmen dieser Studie wurde im internationalen Vergleich untersucht, welche Einstellungen Muslime und Nicht-Muslime gegenüber religiösen Symbolen wie Nonnenhabit und muslimischem Kopftuch sowie Religionsunterricht haben.

Mit Hilfe der Umfrage "Six Country Immigrant Integration Comparative Survey" (SCIICS) wurden Einstellungen von jeweils etwa 500 Einheimischen in Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Schweden gegenüber Muslimen allgemein sowie gegenüber dem Tragen des Kopftuchs in der Schule im Besonderen verglichen. Ziel dieser Untersuchung war es, herauszufinden, inwiefern ein Unterschied zwischen der Gruppe an sich und deren religiösen Praktiken gemacht wird.

Es zeigte sich, dass Einstellungen gegenüber Muslimen meist relativ tolerant sind. Hingegen lehnt eine Mehrheit das Tragen des Kopftuchs durch Schülerinnen ab. In einem zweiten Schritt ging es darum zu untersuchen, wie dieser Unterschied erklärt werden kann. Dabei wurde ersichtlich, dass sich das Verhalten gegenüber Muslimen und dem Kopftuch je nach liberalen Werten und religiöser Bindung der Befragten unterscheidet.

Menschen mit liberalen Werten stehen Muslimen positiver gegenüber als Menschen mit konservativen Werten. Dieses Resultat bestätigt eine Vielzahl von Studien, die bereits gezeigt haben, dass liberale Werte zu mehr Offenheit gegenüber Immigranten führen. Umstritten ist aber, ob Personen mit liberalen Werten allem Fremden gegenüber tolerant sind oder nur gegenüber den Dingen, die nicht den eigenen liberalen Werten widersprechen. Für einige steht bereits Religion an sich im Konflikt mit dem liberalen Staat. Noch häufiger gilt das muslimische Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung der Frau. Es hat sich denn auch gezeigt, dass Personen mit liberalen Werten dem Kopftuch eher skeptisch gegenüberstehen.

Unsere Analysen zeigen ebenfalls, dass die Bewertung religiöser Symbole mit der Einstellung zu Geschlechtergleichheit zusammenhängt. Interessanterweise haben Nicht-Muslime, die Geschlechtergleichheit befürworten, eine höhere Wahrscheinlichkeit, das Kopftuch, aber nicht den Habit, abzulehnen, während Muslime, die Geschlechtergleichheit befürworten, umgekehrt den Habit, aber nicht das Kopftuch ablehnen. Offensichtlich messen Individuen die Rechte der eigenen und der fremden Gruppe mit zweierlei Maß.

Es kann aber auch sein, dass die Bedeutung des Kopftuchs im Hinblick auf diese Frage zweideutig ist: Im Sinne der Geschlechtergleichheit kann man das Tragen des Kopftuch ablehnen - was auch als religiöse Diskriminierung bewertet werden kann. Im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit kann man aber auch das Tragen des Kopftuchs legitimieren - was aber als Unterstützung illiberaler Praktiken gewertet werden kann.

Es fällt auf, dass vornehmlich Männer ohne Migrationshintergrund und nicht Frauen, die unmittelbar von Geschlechterungleichheit betroffen wären, Verschleierung ablehnen. Dieses Ergebnis ergänzt die aktuelle Forschung, die zeigt, dass Männer mehr Ressentiments gegenüber Muslimen hegen.

Bei diesen Ergebnissen ist jedoch zu betonen, dass die Ablehnung des Kopftuchs nicht als Ablehnung von Muslimen per se zu interpretieren ist. Vergleichen wir die Einstellungen zu Verschleierung mit Einstellungen zu religiösem Unterricht, sehen wir, dass Nicht-Muslime wie auch Muslime religiösen Unterricht in stärkerem Maß als Verschleierung unterstützen. Es ist also vor allem das muslimische Kopftuch in öffentlichen Einrichtungen, das zu Kontroversen führt - übrigens auch unter muslimischen Migranten. Analysen der öffentlichen Debatte zeigen allerdings, dass für die muslimische Bevölkerung gerade das Kopftuch von zentraler Bedeutung ist, wichtiger als Fragen des Religionsunterrichts.

Beide Studien zeigen, dass Religiosität eine maßgebliche Rolle für Einstellungen gegenüber Muslimen spielt: Personen, die oft in die Kirche gehen, lehnen Muslime stärker ab als solche, die nicht religiös sind. Dies kann unter anderem damit erklärt werden, dass solche Personen oft konservative Werte vertreten und daher Migranten im Allgemeinen negativer gegenüberstehen. Interessant aber ist die Feststellung, dass dieser negative Effekt verschwindet, wenn es spezieller um religiöse Praktiken von Muslimen geht. Es kann vermutet werden, dass religiöse Praktiken anderer Gemeinschaften nicht abgelehnt werden, da man sich vielmehr solidarisch ihnen gegenüber zeigt. In säkularen Gesellschaften sehen religiöse Christen praktizierende Muslime eher als Verbündete und weniger als Bedrohung.

Allerdings sind muslimische Migranten, die im Durchschnitt religiöser sind als die christlich geprägte Aufnahmegesellschaft, sowohl den Rechten für ihre eigene Gruppe als auch den Rechten für Christen gegenüber toleranter eingestellt, während Nicht-Muslime christlichen Rechten eindeutig mehr Gewicht verleihen und Assimilation zu präferieren scheinen. Insbesondere die im Durchschnitt religiöseren ethnischen Gruppen wie marokkanische und pakistanische Muslime erweisen sich als toleranter in dieser Hinsicht. Dies hat bedeutsame Implikationen für die Integration.

Wie wichtig Religion ist, wenn es um muslimische Migration geht, wird auch deutlich, wenn wir verschiedene Länder vergleichen: Die Rolle der Kirche in einer Gesellschaft hat einen Einfluss darauf, wie Bürger eines Landes religiösen Minderheiten gegenüberstehen. Je enger die Bindung zwischen Staat und Kirche, desto toleranter sind die Menschen eines Landes gegenüber dem Kopftuch. In einem Land wie Schweden, das bis zum Jahr 2000 eine Staatskirche hatte, wird das Kopftuch nur von einer Minderheit abgelehnt. Im laizistischen Frankreich hingegen, wo der Staat im Jahr 1905 klar von der Kirche getrennt wurde, stößt das Kopftuch überwiegend auf Ablehnung.

Wie unsere Daten zeigen, findet sich dieser Unterschied in den Einstellungen nicht nur unter Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft, sondern auch unter den jeweiligen Zuwanderern; in Frankreich sind auch Muslime in Hinsicht auf das Kopftuch ablehnender eingestellt als in anderen Ländern. Bei Einstellungen zu religiösem Unterricht zeigt sich in Frankreich jedoch ein sehr deutlicher Meinungsunterschied zwischen Muslimen und Nicht- Muslimen, der auffallend größer ist als in anderen Ländern. Hierfür ist nicht etwa eine besonders große Zustimmung seitens der Muslime zum Islamunterricht verantwortlich, sondern die vehemente Ablehnung auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft.

Insgesamt konnten die beiden Studien eine Reihe von wichtigen Erklärungsfaktoren ausfindig machen. Der vergleichende Ansatz hat es zudem möglich gemacht, Unterschiede zwischen Ländern im Blick auf die Einstellungen gegenüber Muslimen und ihren religiösen Praktiken zu untersuchen. Damit kann ein wichtiger Beitrag zu den Einstellungen gegenüber einer der wichtigsten Immigrantengruppen in Westeuropa geleistet werden.


Marc Helbling leitet seit 2011 die Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe Einwanderungspolitik im Vergleich. Der Politikwissenschaftler forscht zu Immigrations- und Staatsbürgerschaftspolitik, zu Islamophobie und Nationalismus.
marc.helbling@wzb.eu

Ines Michalowski ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung. Ihre Schwerpunkte sind Militär und religiöse Minderheiten, Integrationspolitik und Citizenship.
ines.michalowski@wzb.eu

Sarah Carol ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung.
sarah.carol@wzb.eu


Literatur
Carol, Sarah und Ruud Koopmans (2013): Dynamic contestation over Islamic religious rights in Western Europe. Ethnicities 13(2): 165-190.

Ersanilli, Evelyn and Ruud Koopmans (2013): The Six Country Immigrant Integration Comparative Survey (SCIICS) - Technical Report, WZB Discussion Paper SP IV 2013-102. Berlin: WZB.

Helbling, Marc (2014): Opposing Muslims and the Muslim Headscarf in Western Europe. European Sociological Review (im Erscheinen).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 142, Dezember 2013, Seite 18 - 20
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2014