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WIRTSCHAFT/094: Der Euro, Griechenland und die zweite Phase der großen Krise (Sozialismus)


Sozialismus Heft 6/2010

Der Euro, Griechenland und die zweite Phase der großen Krise

Von Joachim Bischoff


Für die politische Führung des bürgerlichen Lagers in Deutschlands waren die Schulden-, Griechenland- und Euro-Krise ein politisches Fiasko. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition unter der Führung von Bundeskanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble wurde in aller Öffentlichkeit zu einem von den internationalen Finanzmärkten getriebenen Faktor herabgesetzt. Nachdem das Parlament in einer Schnellaktion den deutschen Anteil am internationalen Rettungspaket für Griechenland von bis zu 22,4 Mrd. Euro beschlossen hatte, musste bereits zwei Wochen später unter anhaltendem Zeitdruck ein Anteil von bis zu 148 Mrd. Euro am EU-IWF-Rettungsschirm für den Euro bewilligt werden.

Über Wochen hinweg hatte die politische Elite der Bundesrepublik eine Unterstützungsaktion für Griechenland verzögert. Offenkundig hatten die Regierenden in Berlin nicht nur politische Vorbehalte, sondern waren auch schlecht informiert: Denn die hohe Verschuldung Griechenlands stellte in Kombination mit dem geringen Sparvolumen und der hohen Auslandsabhängigkeit bei der Umschuldung ohne Zweifel eine Zeitbombe dar, deren Zünder längst tickte. Zunächst hatte die Regierung bei den Notstandskrediten taktiert, was unter der kräftigen Mitwirkung der Boulevardpresse in Ressentiments gegenüber »den Griechen« mündete. Nachdem in einigen Segmenten der Finanzmärkte dann auch der Handel nichtgriechischer Staatsanleihen ins Stocken geriet, ließ sich die schwarz-gelbe Koalition von der französischen Regierung in eine Aktion einspannen, die auf einen 750-Milliarden-Euro-Schutzschirm hinauslief.

In der weiteren Konsequenz vollzog die politische Führung einen weiteren abrupten Kurswechsel, indem sie plötzlich Steuerungsinstrumente für die Finanzmärkte anpries, die sie zusammen mit ihrem Koalitionspartner, den Liberalen, noch kurze Zeit zuvor abgelehnt hatte. So bekräftigte die Bundeskanzlerin, sich auf internationaler Ebene für eine Finanztransaktionssteuer stark zu machen und sich dafür einzusetzen, dass Europa beim Treffen der wichtigsten Wirtschaftsnationen (G-20) einheitlich auftritt. Zugleich wird aber davon ausgegangen, das die USA, Kanada und Großbritannien sich einer solchen Regulation widersetzen werden. Wenn keine Einigung über eine internationale Steuer erzielt wird, will die Bundesregierung sich für eine entsprechende Regulierung in Europa einsetzen.

Der Versuch, Stärke gegenüber den Finanzmärkten zu demonstrieren, blieb wenig überzeugend. Über den Alleingang beim Verbot von ungedeckten Leerverkäufen sind nicht nur die Akteure auf den Finanzmärkten verstört, sondern auch der Großteil der befreundeten Regierungen.

Auch die BürgerInnen haben wenig Verständnis für die hektische Geschäftigkeit. Die Regierungsparteien sackten in aktuellen Umfragen auf deutlich unter 40% Zustimmung ab. Viele WählerInnen wünschen sich die schwarz-rote Koalition zurück. Einer Umfrage zufolge sind 63% der Befragten der Meinung, dass die Kanzlerin ihre Regierung nicht mehr im Griff habe. Die Liberalen schneiden dabei noch schlechter ab. Auch sie scheinen nun dem Druck der Umfragen nachzugeben und handeln populistisch. Ihre heilige Kuh Steuererleichterungen haben sie bereits opfern müssen.

Nicht nur der Euro steckt also in einer »Vertrauenskrise«, sondern auch die politische Klasse. In den Worten von Finanzminister Schäuble: »Sicher ist, dass wir ohne den geplanten Rettungsschirm den Euro nicht verteidigen können. Die nächste Krise wäre dann nicht mehr nur eine Krise des Finanz- und Wirtschaftssystems, sondern auch eine Krise des politischen Systems.« Gleichzeitig wäscht die Regierung ihre Hände in Unschuld, als ob sie nie im großen Stil die Finanzmärkte dereguliert und die öffentlichen Haushalte durch massive Steuersenkungen auf den Hund gebracht hätte, und fabuliert - angetrieben von der Massenpresse - von »verantwortungslosen Spekulanten«.

Allerdings gibt es triftige Gründe dafür, dass mit dem Rettungsschirm für den Euro und dem Rettungspaket für Griechenland der Grund für die krisenhafte Entwicklung noch nicht berührt ist.


Griechenland vor dem Staatsbankrott

Rund 110 Mrd. Euro werden in den kommenden drei Jahren benötigt, um Zeit zu gewinnen, den griechischen Staatsbankrott abzuwenden. Mit diesem Geld soll der griechische Staat alle fälligen Rückzahlungen und Zinsen bis 2013 leisten können, ohne bei privaten Investoren neues Geld zu leihen. Im laufenden Jahr geht es um eine Finanzbürgschaft im Volumen von 45 Mrd. Euro, davon haben die EU-Länder 30 Mrd. Euro zu schultern. 27 Mrd. Euro sollen - in Tranchen - vom Internationalen Währungsfonds (IWF) kommen, wobei der IWF davon ausgeht, zehn Jahre lang in Griechenland engagiert bleiben zu müssen. Das Verfahren erinnert an die Bankenrettung im Herbst 2008, als einige überschuldete Geldhäuser fast über Nacht mit Milliardenzahlungen gestützt wurden, weil es hieß, andernfalls breche das Finanzsystem zusammen.

Die Griechen sollen in den kommenden drei Jahren eine Herkules-Aufgabe schultern. Als Gegenleistung zum Finanzhilfsprogramm muss Athen ein hartes Sparprogramm umsetzen. Bis 2013 sollen im Haushalt 30 Mrd. Euro eingespart werden. Zum Beispiel durch eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit von bisher 37 Jahren für eine volle Rente auf 45 Jahre. Die RentnerInnen sollen zudem bei den monatlichen Zahlungen Kürzungen hinnehmen müssen. Sie sind im europäischen Vergleich vergleichsweise gut gestellt. Die Zahlungen machen inzwischen 11,5% des griechischen Inlandsprodukts aus. Ein Rentner mit vollem Leistungsanspruch erhält bei der Pensionierung laut OECD 94% des letzten Gehalts ausgezahlt, während in Deutschland nur 40% erreicht werden.

Angestellte im öffentlichen Dienst werden auf zwölf Monatsgehälter gesetzt, das 13. und 14. an Weihnachten und Ostern fallen weg. 13% der Beschäftigten fanden bisher bei Ämtern und Behörden ihren Arbeitsplatz. Neue Stellen wird es in Zukunft keine geben. Hunderten von staatlichen Einheiten droht die Schließung.

Die Mehrwertsteuer wird ein weiteres Mal angehoben: von 21% auf 23%. Auch die Steuern auf Tabak, Spirituosen und Kraftstoff steigen. Der griechische Ministerpräsident Georgios Papandreou kündigt zudem »kolossale« Kürzungen bei den Militärausgaben an. So werde man die laufenden Ausgaben um bis zu 25% senken.

Da das Sparprogramm hauptsächlich die Kaufkraft der breiten Bevölkerung abschöpft, wird durch die verschärfte Rezession ein noch größeres Loch in die Staatsfinanzen gerissen. In den kommenden Jahren wird Griechenland durch eine länger anhaltende Rezession und anschließende Stagnation gehen. Es ist davon auszugehen, dass die hellenische Wirtschaft in diesem Jahr real um ca. 4% schrumpfen wird. Der Staatshaushalt bleibt defizitär und die Schuldenlast steigt weiter an: auf rund 131% des BIP im nächsten Jahr und auf rund 140% bis im Jahr 2013. Unsicher ist weiter, ob das Zinsniveau über den Zeitraum des Sanierungsprogramms auf dem jetzigen tiefen Niveau bleiben wird.

Die Hilfe der EU und des IWF öffnet ein Zeitfenster. Sie gewährt Griechenland eine Verschnaufpause. Zugleich erschwert das Hilfspaket die Restrukturierung der Ökonomie, d.h. das Hilfspaket ist eben kein Garant für einen Erfolg.

Eine erfolgreichere Alternative wäre: In Griechenland müsste neben der drastischen Reduktion des Militärhaushalts ein Strukturwandel der Ökonomie auf den Weg gebracht werden. Die Ausrichtung auf eine moderne Dienstleistungsökonomie ist weit zukunftsträchtiger als der ausgetretene Weg, vorrangig die Exportorientierung zu steigern. Dies ist im Übrigen keine Besonderheit für die griechische Ökonomie - die entwickelten kapitalistischen Länder in Europa müssten sich alle mit der Einsicht anfreunden, dass allein eine Steigerung der Effizienz der Industrie und der Exportfähigkeit kein Universalschlüssel zur Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert sind.

Die Gesellschaften in Europa verfügen über eine hohe Produktivität, einen immensen gesellschaftlichen Surplus und leiden daher nicht an einem Mangel an Reichtum, sondern an einer falschen Verwendung des Überschusses. Begleitet werden muss der Strukturwandel in Richtung einer reifen Ökonomie daher mit einem verbesserten Steuervollzug, einer deutlichen Anhebung der Steuern auf Vermögen und höhere Einkommen. Schließlich wäre ein Hilfspaket der EU einzubetten in eine europäische Arbeitsteilung, also keine reine Finanzunterstützung um den Preis eines harten Kürzungsprogramms zu Lasten der breiten Bevölkerungsschichten.

Zum Hilfspaket gehört auch, dass die Europäische Zentralbank Finanzinvestoren griechische Staatsanleihen abkaufen darf. Angesichts des in den letzten Wochen aufgebauten Drucks hatten einige Banken und Segmente des Kapitalmarktes unter deutlichem Kapitalabfluss zu leiden und Schwierigkeiten bei der Refinanzierung. Es kam zeitweilig zu panikartigen Verkäufen am europäischen Bondmarkt. Aufgrund großer Kursschwankungen sind vor allem Fonds, Pensionskassen und Versicherungen gezwungen gewesen, griechische Papiere abzustoßen - zu nahezu jedem Preis. Als niemand mehr die Papiere abnehmen wollte, verkauften sie Bonds aus Portugal, Spanien, Italien und Irland, um wenigstens irgendein Risiko loszuwerden. Die Kurse der Papiere rutschten ab, was die Renditen in die Höhe katapultierte - und mit ihnen die Kosten potenzieller neuer Schuldtitel.

Insgesamt belegt der Fall Griechenland, dass es ohne umfassende gesellschaftliche Kontrolle oder letztlich die Vergesellschaftung des Finanz- und Leihkapitals keine durchgreifenden Fortschritte im Prozess der Krisenüberwindung geben wird. Der Finanzsektor schreibt infolge der massiven Kredit- und Stützungsprogramme Supergewinne; alle Ansätze der Redimensionierung und der Regulierung der Finanzinvestoren sind im Ansatz stecken geblieben. Auch über ein Jahr nach der Kernschmelze des internationalen Finanzsystems (Lehman-Pleite) können Regierungen gegen die Macht der Finanzmarktakteure wenig ausrichten. Allerdings sind sie daran selbst schuld. Diese Handlungsunfähigkeit der Politik führt allmählich zur wachsenden Desavouierung aller staatlichen Institutionen und stellt die politische Klasse in Europa in aller Öffentlichkeit als subalterne Größe dar.

Deutsche Banken sind mit ca. 31 Mrd. Euro die zweitgrößten Investoren in griechischen Staatsanleihen. Daher müsste die deutsche Regierung ebenfalls an der Vermeidung eines Default Griechenlands interessiert sein. Dies gilt umso mehr, als offensichtlich die größten Außenstände bei Banken im Staatsbesitz liegen, allen voran bei der Hypo Real Estate. Aber auch einige Landesbanken scheinen namhafte Beträge an griechischen Anleihen zu halten. Etwas verkürzt könnte man argumentieren, dass die deutschen SteuerzahlerInnen auf alle Fälle zur Kasse gebeten werden - entweder über ein Hilfspaket für Griechenland oder über einen Forderungsverzicht bei staatlichen Banken. Die Investmentbanken sind zufrieden, weil sich mit dem Verkauf von Kreditausfallversicherungen an Anleihebesitzer rentable Geschäfte machen lassen. Zudem ist in unsicheren Zeiten die Refinanzierung der alten und neuen Staatsschulden ein sicheres Geschäft.

Die Bedrohung für das Währungssystem wird anhalten: Wenn die »Ansteckung« auf Spanien, Portugal und Irland übergreift, dann steht eine Refinanzierung von über einer Billion Euro auf der Tagesordnung. Die kapitalistischen Staaten sind in einer Position der Abhängigkeit von den Finanzmärkten. Sie könnten die z.T. bestehende Erpressungssituation durch Umschuldungen oder das ersatzlose Streichen von Teilen der Staatsschulden mindern und Zeit gewinnen. Letztlich hängt die Neuordnung der öffentlichen Finanzen und der Ausbruch aus der Schuldenfalle an der Reorganisation der gesellschaftlichen Wertschöpfung und einer entsprechenden Verteilung. Es wird sich in der nächsten Zeit immer deutlicher die Alternative herausschälen: entweder Verdichtung der aufgeschobenen Bereinigungen durch einen naturwüchsigen Verlauf der Krise oder aber Redimensionierung der Schuldenlasten durch Staatseingriff und strukturelle Veränderungen der Ökonomien.


Ausweitung der Krise auf das Euro-System

Die europäische Schuldenkrise ist mit der Unterstützungsaktion für Griechenland nicht zu Ende. Die EU will mit einem gigantischen Schutzschirm von insgesamt 500 Mrd. Euro und weiteren 250 Mrd. Euro von Seiten des IWF die Währungsunion vor dem Zerfall bewahren. Der 750-Milliarden-Rettungsschirm für den Euro ist - so die neoliberale Regierungskoalition - »alternativlos«. Zudem sei das Hilfspaket kein Blankoscheck. Jedes Land, das von ihm Gebrauch machen wolle, müsse sich zu einem harten Spar- und Konsolidierungsprogramm verpflichten.

Immerhin: Die Märkte reagierten zunächst positiv auf den EU-Beschluss, dem Rettungspaket für Griechenland auch noch einen Rettungsschirm für alle angeschlagenen Euro-Staaten folgen zu lassen. Vorschnell sprachen beteiligte Politiker vom Anfang des Endes der Spekulation.

Schon hier wird der stets unterliegende Denkfehler sichtbar: Nicht ein »Wolfsrudel von Spekulanten« ist das Kernproblem für die ökonomische Stabilität der kapitalistischen Länder, sondern die aufgehäuften Schuldenlasten - akkumulierte Eigentumsansprüche auf zukünftig zu produzierenden Reichtum - erzwingen Umschichtungen. Die aufgehäuften Schuldtitel werden mehr und mehr zum Hindernis für den gesellschaftlichen Wertschöpfungs- und Verwertungsprozess.

Am Bollwerk zur Abwehr von spekulativen Attacken gegen den Euro ist auch die Europäische Zentralbank (EZB) beteiligt: Sie flankiert das Maßnahmenpaket in einer bisher einmaligen Aktion durch den Ankauf von Staatsanleihen und Geldmarktoptionen. Über den Umfang der Eingriffe, gegen den sich die EZB lange gewehrt hatte, wird der EZB-Rat noch entscheiden. Die beispiellose Krisenabwehr soll nach dem gerade erst abgewendeten Kollaps Griechenlands Spekulationen auf eine Zahlungsunfähigkeit weiterer verschuldeter Euro-Staaten - darunter des Schwergewichts Spanien - stoppen.

An den Finanzmärkten existiert nach wie vor die Befürchtung einer Ausbreitung der hellenischen Misere auf andere südeuropäische Länder. Die Kurse der Staatsanleihen von Spanien und Portugal haben deutlich nachgegeben. Vor diesem Hintergrund hat die Regierung Portugals beschlossen, das Haushaltsdefizit noch stärker herunterzufahren. Es soll in diesem Jahr auf 7,3% verringert werden. Bisher war das Ziel eine Reduzierung des Defizits von 9,4% im vergangenen Jahr auf 8,3% in 2010.

Auch für Spanien zeichnet sich eine Verschärfung des Kürzungsprogramms ab. Nach dem Platzen des Immobilien-Booms ist Spanien in eine tiefe Krise geschlittert und die Arbeitslosenquote auf 20% geklettert. Die Verschuldung liegt mit 60% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nur halb so hoch wie in Griechenland. Im laufenden Jahr erreicht das Haushaltsdefizit rund 10% des BIP - und muss durch neue Kredite finanziert werden.

Für die kleinen Länder funktioniert die Logik des Rettungs- oder Abwehrschirms. Wenn aber Spanien oder Italien in den Strudel der Schuldenkrise hingerissen werden, sind auch Frankreich, Deutschland und der IWF überfordert.

Insgesamt müssen die Mitglieder der Euro-Zone in diesem Jahr noch rund 1.100 Mrd. Euro durch die Ausgabe neuer Staatsanleihen finanzieren. Bis Mitte Februar 2010 hatten sie bereits 223 Mrd. Euro aufgenommen. Im Jahr 2009 hatten die Länder deutlich unter 1 Bio. Euro auf den internationalen Finanzmärkten beansprucht. Vor diesem Hintergrund ist die Größenordnung des Notfonds zur Rettung des Euro verständlich. Faktisch verlief die Krisenreaktion nach dem bekannten Muster: Die Geldschleusen werden geöffnet und die EZB nimmt das Risiko des Zahlungsausfalls einiger EU-Staaten in die eigenen Bücher, was zweifellos eine Zeitlang überzeugt. Allerdings müssen nach der Errichtung des Schutzschirms weitere Schritte folgen. Letztlich können die kapitalistischen Länder nur dann die Herrschaft des Finanzkapitals beenden, wenn sie einen Ausweg aus der Schuldenkrise entwickeln, und dieser Ausweg wird nicht ohne eine Neustrukturierung der Realökonomien zu haben sein.

Bisher verstehen die Regierungen und Notenbanken die »Große Krise« vorrangig als Finanzkrise und pumpen daher riesige Summen in die Stabilisierung des Kredit- und Bankensystems. Nur ein Bruchteil dieser Finanzmittel erreicht die reale Ökonomie. Ohne eine Rekonstruktion der Wertschöpfung und Verwertung kann es aber keinen Ausweg aus der Schuldenfalle geben. Das allgemeine Schuldenproblem, in dem alle kapitalistischen Länder tief verstrickt sind, wird entweder durch Bezahlung auf Grund von erwirtschafteten Überschüssen gelöst oder durch eine naturwüchsige Vernichtung der Schulden oder aber eine weitreichende Umschuldung.

Zwar geht es zunächst vorrangig um den Euro, aber auch das britische Pfund und der US-Dollar befinden sich im Fokus der Finanzmarktakteure. Die drängenden Probleme der Schuldenbekämpfung, der Redimensionierung und Regulierung der Finanzsphäre sind eben nicht nur ein europäisches Problem. So beunruhigt die Krise des Euro auch die politische Führung in Japan. Obwohl Japan selbst stark verschuldet ist, gilt der Yen Anlegern trotz niedriger Zinsen als sicherer Fluchthafen für liquides Geldkapital.

Der Unterschied Japans zu den europäischen Staaten ist, dass weit über 90% der Staatsanleihen von japanischen Anlegern gehalten werden. Sollte der Yen gegenüber dem Euro und dem Dollar aber weiter an Wert gewinnen, fürchtet Japans Regierung um den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes, der bislang ausschließlich vom Export getrieben ist. Um die akute Sorge vor Liquiditätsengpässen zu dämpfen, pumpte die Bank von Japan rund 16,7 Mrd. Euro in die Märkte. Die Notenbank erhofft sich mit ihrer Entscheidung, die Börse indirekt zu stützen und den Anstieg des Yen in Schranken zu halten.

Sollte der gewünschte Effekt des Rettungsschirms nicht eintreten, werden die Regierungen und Notenbanken notfalls weitere Finanzspritzen setzen. Diese Maßnahmen lösen aber nicht die strukturellen und konjunkturellen Probleme. Dabei stellen die kleineren Länder nur die Spitze des Problems dar. Das Verschuldungsproblem betrifft die gesamte Euro-Zone, deren Schuldenstand auf über 80% angestiegen ist.


Schuldenkrise als weiterer Motor der Entwicklung

Griechenland und die anderen südeuropäischen Länder repräsentieren also nur die zugespitzten Fälle der allgemeinen Schuldenkrise. Die Mitte 2007 ausgebrochene »Große Krise« hatte ihren Ausgangspunkt im Immobilien- und Hypothekenbereich. Unterliegend hatte sich über Jahre eine strukturelle Überakkumulationskrise aufgebaut. Durch die massive Ausweitung öffentlicher Kredite und der Bilanzen der Notenbanken wurde die Entwertung des Geld- und überschüssigen Realkapitals aufgehalten. Das Institut für Weltwirtschaft beschreibt diese Auffangoperation durch den globalen öffentlichen Kredit folgendermaßen:

»Weltweit werden etwa 3 Billionen Dollar staatlicher Hilfen ausgegeben, um den Absturz der Weltwirtschaft abzubremsen. Dieser Nachfrageschub von 4,7 Prozent des Welteinkommens hat zuallererst die Aufgabe, die Spirale gestrichener Investitionspläne, reduzierter Produktion, gesunkener Beschäftigung, gepaart mit schrumpfenden Einkommen und damit weiter sinkender Nachfrage zu stoppen. Gleichzeitig sollten die Programme aber die Weltwirtschaft nach der Krise wieder auf einen nachhaltigen Wachstumspfad bringen... Größe und Ausrichtung der weltweiten Konjunkturprogramme variieren stark. Die größten Konjunkturpakete haben die USA und China aufgelegt, Europa hat nur einen Anteil von 15 Prozent an den weltweiten Maßnahmen (Abb. 1). Auch gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung investiert die EU nur etwa 1,6 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes, während die USA etwa 7 und China etwa 14 Prozent ausgeben.« (Pressemitteilung des IfW vom 1.4.2010) (Abbildung 1)


Abb. 1: Verteilung des 3-Billionen-Dollar Konjunkturpakets
USA
China
Japan
Europa
Rest
35%
20%
15%
15%
15%

In der weiteren Entwicklung hat sich der Krisenprozess in eine Schuldenkrise der öffentlichen Finanzen transformiert. Die strukturelle Überakkumulation wurde durch eine massive Expansion des Kredits überdeckt und nach dem Ausbruch der Finanz- und Bankenkrise erneut durch den öffentlichen Kredit aufgefangen. Nach den Attacken auf das Euro-Währungssystem wurde über eine teilweise Entschuldung (»hair cuts«) philosophiert. Letztlich aber wurde das Finanzsystem durch die Expansion des öffentlichen Kredits gestützt. Faktisch erreicht nur ein Bruchteil der öffentlichen Kredite die Realökonomie, der Löwenanteil wird dazu genutzt, die Banken und Finanzmarktakteure zu stützen; d.h. der zeitweilige Entwertungsprozess des Leihkapitals wird durch Interventionen des öffentlichen Kredits zum Großteil kompensiert.

Der vermögensgetriebene Kapitalismus ist selbst das Ergebnis einer seit Mitte der 1970er Jahre schrittweise verschärften Krisenentwicklung, einer chronischen oder strukturellen Überakkumulation. Es gibt eine wachsende Lücke zwischen dem globalen Produktionspotential und der gesellschaftlichen Nachfrage, die nicht durch Neuanlage von produktivem Kapital verdrängt oder aufgehoben werden konnte. In den letzten Jahrzehnten wurde global eine große industrielle Überkapazität von mehr als 15% aufgebaut. Allerdings konnte diese Kluft durch eine wachsende Expansion von öffentlichen und privaten Krediten überlagert werden, was eben zur Ausbildung einer massiven Kredit- und Vermögensblase führte. Die Krise in der Leitindustrie Automobil oder Stahl hat wenig mit der Krise von Geldkapital und Kredit zu tun. Die Finanzkrise überformt diese Krise in den industriellen Bereichen, was die Notwendigkeit von deren überfälliger Reproportionierung nicht aufhebt. Zugleich steht eine massive Verkleinerung des Finanz- und Vermögenssektors auf der Tagesordnung.

Näher betrachtet zeigt sich: Diese »Große Krise« zu Beginn es 21. Jahrhunderts ist - wie die Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren - Ausdruck eines tiefgreifenden Strukturwandels der jeweiligen gesellschaftlichen Betriebsweise des Kapitals. Die große Depression im vorherigen Jahrhundert stand im Zusammenhang mit der Krise der großen Industrie und der nur langsamen Durchsetzung der fordistischen Massenproduktion. Sie wurde - nach massiven Krisen, Verwerfungen und Kriegen - durch eine Kompression in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen sowie dem Einsatz von Produktivitätsgewinnen für die soziale Sicherheit überwunden. Dieser Erfolg kam nach heftigen politisch-ideologischen Auseinandersetzungen zustande, in denen lange Zeit gesellschaftliche Mehrheiten mit Ratschlägen und Konzeptionen operierten, die einem Zeitalter der Knappheit der Ressourcen angemessen waren. Letztlich setzte sich die mit dem Namen von Keynes verbundene Konzeption durch, der schon 1932 argumentierte, dass »die Weltwirtschaftskrise keine Armutskrise (war), sondern eine Krise des Überflusses.« (Robert Skidelsky: Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert. München 2010, S. 127) »Die Stimmen, die uns in einer solchen Situation sagen, dass der Ausweg im strengen Haushalten zu finden sei, und dass man, wann immer möglich, darauf verzichten solle, die potentielle Produktion der Welt zu nutzen, sind die Stimmen von Dummköpfen und Verrückten.« (Keynes, zit. in ebd.)

Auch die »Große Krise« zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird im herrschenden Diskurs auf eine Knappheit der gesellschaftlichen Ressourcen und Reichtumsproduktion zurückgeführt. Die Effektivität der Produktion ist aber gegenüber der Globalökonomie in der Zeit der großen Depression enorm angewachsen und das gesellschaftliche Produktionspotenzial eröffnet die Möglichkeit einer neuen Qualität im zivilisatorischen Umgang mit dem gesellschaftlichen Überschuss.

Die aktuelle Krise ist eingebettet in den widersprüchlichen Strukturwandel von einer Dominanz der industriellen Produktion hin zu einer sozialkulturellen Dienstleistungsökonomie. Wiederum soll in dieser Konstellation auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Produktionspotentials verzichtet werden, um den Überschuss der gesellschaftlichen Arbeit in das überholte Korsett einer Distribution von Eigentumstiteln zu zwängen.

Der Akkumulationsprozess war in den letzten Jahrzehnten durch die »asset-based, wealth-driven economy« geprägt. Durch die neoliberale Wirtschaftspolitik sollten die Tendenz der Erhöhung der Marktpreise von Vermögenswerten und die einseitige Vermögenspolitik stabilisiert werden. Schwache Realinvestitionen der Unternehmen und öffentlichen Haushalte sind die desaströsen Ergebnisse einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, die seit Jahren die Verbesserung der Angebots- und Wertschöpfungsbedingungen proklamiert und durch Aushöhlung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage doch nur einen circulus vitiosus von immer neuen Runden der Nachfrageschwächung und Verschlechterung der Verwertungsbedingungen zustandegebracht hat. Statt Steigerung der Wertschöpfung und Erhöhung der Beschäftigung wird eine zunehmende Fehlallokation von Kapital zugunsten unproduktiver Verwendungen marktwirtschaftlich hervorgebracht: Der Verwertung der Eigentumstitel wird die produktive Aktivität der Volkswirtschaft geopfert. (Abbildungen 2 und 3)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 2: US-Kreditmarktschulden in % des BIP 1929-2008 (insgesamt und nach Sektoren)

Abb. 3: Aktiva wichtiger Notenbanken (Wochen-Idexwerte 1.1.2007 = log. Maßstab)


Trotz der massiven Ausweitung des öffentlichen Kredits liegen die Kreditzinsen in den Metropolen auf niedrigstem Niveau. Dies ist zum einen einem reichlichen Angebot an Geld- und Leihkapital zu verdanken, das nach Anlagemöglichkeiten sucht, zum anderen der reichlichen Geldversorgung durch die Notenbanken. Gleichwohl ist noch keine Tendenz zu einer beschleunigten Preisbewegung erkennbar. Insgesamt können die Niedrigstzinsen auch als Indiz für die noch nicht aufgehobene Überakkumulationskrise gewertet werden.

Wegen des reichlichen Angebotes an Leihkapital und der Null-Zinspolitik wird die Zinssteuerung der kapitalistischen Gesellschaft nachhaltig außer Funktion gesetzt. Seit Mitte der 1970er Jahre lässt sich ein Trend zu sinkenden nominalen und realen Zinsen beobachten. Dieser Trend ist von den Notenbanken nur begrenzt steuer- und veränderbar.

Der Grund für diese Entwicklung: Wegen der bestehenden Überkapazitäten und dem harten Wettbewerb um Anlagemöglichkeiten im Realsektor verschiebt sich das Gewicht in Richtung beschleunigter Akkumulation von Geld- und Leihkapital. Dies hat zwangsläufig sinkende Zinsraten zur Folge.

Auf der anderen Seite wird damit das zentrale Steuerungszentrum einer kapitalistischen Ökonomie tendenziell unwirksam. Das Anlage suchende Kapital vergleicht die zu erwartende Rendite beständig mit dem gesellschaftlichen Zinsniveau und dessen Entwicklungstendenz. Die Unternehmer vergleichen also den Kapitalmarktzins mit der erwarteten Rendite von Investitionsprojekten und investieren so lange, wie die Rendite über den Finanzierungskosten liegt. Die Zentralbank kann zwar mit Zinssenkungen den Wirtschaftskreislauf in Grenzen beeinflussen, doch sinkt die durchschnittliche Grenzproduktivität der Investitionen, wenn aufgrund geldpolitischer Asymmetrie ein niedrigerer Zins als vor der Krise realisiert wird. Mit billigem Geld wird der strukturelle Reinigungsprozess der Krise vertagt, weitere Projekte spekulativer Art oder mit geringen Renditen werden finanziert.

Mit der aktuellen Schaffung von Liquidität durch die Notenbanken und entsprechend preiswerten Staatsanleihen wird der strukturelle Reinigungsprozess der kapitalistischen Krise ausgehebelt. Zugleich entfällt für das anlagesuchende produktive Kapital das Steuerungszentrum und die strukturelle Überakkumulation schlägt sich in geringen Wachstumsraten (Stagnation) nieder.

Parallel zu den realwirtschaftlichen Folgen eines Null-Zinsniveaus wächst wegen der Steuerausfälle und dem Notnagel der Bankenrettungs- und Konjunkturprogramme die Staatsverschuldung an. Ohne den tendenziellen Fall des Zinsniveaus in den letzten Jahrzehnten würde der Zinsdienst längst die inneren Strukturen der Staatshaushalte gesprengt haben (Abbildung 4).


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. 4: 10-jährige US-Staatsanleihen (Rendite in % mit Wendepunkten des 30-Jahres-Zyklus)


Nach dem Ausbruch der globalen Krise liegt das Zinsniveau in den USA - soweit es von der FED festgestellt wird - bei 0-0,25%. In der Europäischen Währungsunion hält die EZB einen Zinssatz von 1%. Bei einem solchen tiefen Niveau ändert sich das Zusammenspiel von Geld- und Finanzpolitik. Solange die Zinsen sinken konnten, blieben die Staatsfinanzen vergleichsweise stabil.

In Japan lag die Bruttostaatsverschuldung kurz nach dem Platzen der Blase im Jahr 1990 bei ca. 70% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Bei einem Zinssatz auf zehnjährige Staatspapiere von 6,5% lag der Zinsendienst bei rund 10% des Staatshaushalts. Seither ist der Leitzins gegen Null gefallen und die Verschuldung auf nahe 200% des BIP gestiegen. Trotz dieser Rekordverschuldung bleibt der Zinsendienst moderat - 2009 lag er bei gut 20% des Staatshaushalts -, weil die Verzinsung zehnjähriger Staatsanleihen mit der Nullzins-Politik auf rund 1,5% gesunken ist. Wäre der Zinssatz im Jahr 2009 hingegen bei 4% gelegen, hätte die Zinslast bereits über 50% des Staatshaushalts ausgemacht; bei einer nicht ungewöhnlichen Verzinsung von 8% würde der Zinsendienst fast 100% betragen.

Bei einem anhaltend tiefen Zinsniveau kann die Staatsverschuldung ausgeweitet werden, allerdings werden die Finanzmarktakteure in der Bewertung tendenziell höhere Aufschläge durchsetzen. Zeichnet sich eine öffentliche Verschuldungskrise ab, wird es für das entsprechende Land nicht mehr möglich sein, auf den internationalen Finanzmärkten zu tragbaren Zinsen eine Erneuerung des aufgelaufenen Schuldenbergs zu realisieren. Gleichzeitig verursacht das tiefe, an der Nullgrenze liegende Zinsniveau falsche Signale, die zu strukturellen Verzerrungen, einer Lähmung des Wachstums und dem Rückgang der Steuereinnahmen führen.

Dies charakterisiert auch die gegenwärtige Situation. Die Verunsicherung bei den Investoren ist groß, sodass sie risikoreichen Anlagen zuhauf den Rücken kehren. Gefragt sind »sichere Häfen« wie Bundesanleihen der Metropolen. Gefragt waren dabei in den zurückliegenden Wochen nur die liquidesten Papiere. Die zehnjährige Rendite von Bundesanleihen sackte zeitweise auf ein Rekordtief von 2,66% ab. Noch Anfang Mai wurden für diese als höchst sicher geltenden Staatsschuldscheine 3,08% Rendite ausgewiesen. Die Rendite zehnjähriger französischer Titel fiel mit 2,94% auf den tiefsten Stand seit 1990.

In Japan dürfte das staatliche Defizit in diesem Jahr knapp acht Prozent des Sozialprodukts erreichen. Gleichzeitig kauft die Bank von Japan dem Staat etwa ein Drittel seiner Neuemissionen an Staatspapieren ab: Unsolider kann die Wirtschaftspolitik nicht sein. Dennoch liegen die Renditen der zehnjährigen japanischen Staatsanleihen bei nur 1,25%. Aus Japan wird zur gleichen Zeit gemeldet, dass der BIP-Deflator, der als das breiteste Inflationsmaß gilt, im ersten Quartal um nicht weniger als drei Prozent unter dem Vorjahreswert lag - da ist eine Bond-Rendite von 1,25% geradezu üppig.

In den USA wird das Haushaltsdefizit 2010 trotz des Wirtschaftsaufschwungs etwa 11% des BIP ausmachen, etwa so viel wie im Jahr zuvor. Gleichzeitig gehen die Renditen der Treasuries ständig zurück und haben im Zehn-Jahresbereich 3,25% erreicht.

Die Märkte nehmen es auch der britischen Regierung nicht besonders übel, dass ihre Neuverschuldung fantastische 13% des BIP erreichen wird - sie kann Geld für 3,57% aufnehmen.

Griechische Anleihen sind dagegen nur gegen hohe Preisaufschläge handelbar. Deshalb wäre der Staatsbankrott programmiert gewesen, wenn nicht über die nächsten Jahre die Refinanzierung über die Euro-Staaten erfolgen würde. Griechenland hat Zeit gewonnen, aber bei den ebenfalls stark angeschlagenen Ländern Spanien, Portugal, Irland wird sich die Frage der Inanspruchnahme des Euro-Rettungsschirms erst in den nächsten Wochen entscheiden.

Der 750-Milliarden-Euro-Rettungsschirm kann die Märkte und Finanzmarktakteure kaum beruhigen und damit die Spekulationen gegen den Euro stoppen, weil er die eigentlichen Ursachen der Krise nicht berührt. Das Rettungspaket könnte den Euro nur dann vor dem Scheitern bewahren, wenn es den Defizitländern gelänge, ihre Staatsfinanzen zu konsolidieren. Diese Konsolidierung ist aber durch einen brutalen Sparkurs nicht zu haben, denn durch die dadurch ausgelöste rezessive Entwicklung wird die gesellschaftliche Wertschöpfung weiter belastet. Ohne eine Erneuerung der realen Ökonomie, kombiniert mit einer Sanierung der öffentlichen Finanzen und damit einer fiskalischen Disziplin, wird die europäische Währungsunion letztlich doch an internen Widersprüchen zerbrechen.

Angesichts des massiven Schuldenbergs der kapitalistischen Hauptländer warnt der US-Ökonom Nouriel Roubini vor Staatspleiten. »Heute machen sich die Märkte Sorgen um Griechenland, aber Griechenland ist nur die Spitze des Eisbergs, der Kanarienvogel in der Kohlemine, einer breiteren Palette an fiskalischen Problemen. Schließlich werden auch die fiskalischen Probleme der USA in den Vordergrund rücken.« Das Risiko, »dass in den nächsten zwei oder drei Jahren in den USA etwas Ernstes passiert, ist erheblich, da es in Washington keine Bereitschaft gibt, etwas zu tun«, falls die Kreditmärkte dies nicht erzwingen. (Financial Times Deutschland, 29.4.2010)

Das Sanierungsprogramm, das Griechenland von den Kreditgebern der EU-Länder und dem IWF verordnet wurde, wird sich in eine schwere Wirtschaftskrise umsetzen, womit die Schuldenlasten drückender werden. Die Gefahr eines Staatsbankrotts oder gar die massive Beschädigung des Euro-Systems ist damit nicht gebannt. Die Finanz- und Wirtschaftskrise Griechenlands ist deshalb mit den Überbrückungskrediten nicht überwunden, selbst wenn man, fast gegen besseres Wissen, annimmt, dass die Strukturreformen durchgesetzt werden können. In diesem Fall gilt die Einschätzung von Winston Churchill aus dem Jahr 1942 : »Now this is not the end. It is not even the beginning of the end. But it is, perhaps, the end of the beginning.«


Regulierung der Finanzmärkte - aber wie?

In der weltweiten Wirtschafts- und Finanzmarktkrise, die noch lange nicht ausgestanden ist, könnte eine Marktregulierung der Finanzplätze sicherlich einen Zwischenschritt darstellen, um eine umfassende Neugestaltung des Finanz- und Bankensektors einzuleiten. Der Finanzsektor soll sich stärker an der Bewältigung der Euro-Krise beteiligen. Die EU-Finanzminister wollen strenge Regeln für Hedgefonds. Die Mitgliedstaaten treten für ein abgestuftes System mit nationalen Zulassungen ein, d.h. die Fonds müssen sich registrieren lassen und ihre Strategie vorstellen.

Bei EU-Abgeordneten gibt es auch die Vorstellung, eine einheitliche Zulassung zu schaffen, mit der die Hedgefonds-Manager in allen EU-Staaten aktiv werden können. Großbritannien hat sich zunächst gegen die Richtlinie gewehrt, aus Furcht, mit zu strengen Regulierungen werde die »Wettbewerbsfähigkeit« Europas aufs Spiel gesetzt. Der Hintergrund: 70 bis 80% der in Europa vertretenen Hedgefonds haben ihren Sitz in London.

Offenkundig will sich die schwarz-gelbe Koalition nun auch für eine Finanztransaktionssteuer einsetzen. Allerdings bleibt unklar, was mit einer Intervention geregelt und besteuert werden soll. Es geht nicht nur um Devisenspekulationen. Die Steuer soll auch auf den Handel mit Aktien, Anleihen, Finanz- und Rohstoffderivaten fällig werden. Befürworter argumentieren, dass ein minimaler Steuersatz zwischen 0,01% und 0,1% viele kurzfristige Spekulationsgeschäfte, die kleinste Kursschwankungen ausnutzen, unattraktiv macht.

Der IWF hatte diese Transaktionssteuer verworfen und stattdessen eine Steuer auf Finanzaktivitäten - besteuert werden sollen dabei Risiken, Gewinne und Vergütungen der Kreditinstitute - vorgeschlagen. Angeblich gibt es in den anderen europäischen Ländern eine breite Mehrheit für einen solchen Eingriff, sodass in den entsprechenden Verhandlungen bei den 20 führenden Industrie- und Schwellenländern (G-20) eine Zustimmung erreicht werden könnte.

Finanztransaktionen finden mehrheitlich an den großen globalen Finanzzentren statt. Folglich würde dort auch der Löwenanteil der Steuern anfallen. Drei Viertel der Transaktionen und damit der Steuereinnahmen fielen bei sechs Finanzplätzen an: London, New York, Zürich, Tokio, Singapur und Hongkong. Länder, in denen sich die diese Finanzzentren befinden, hätten dadurch im internationalen Steuer- und Standortwettbewerb beträchtliche Vorteile. Es ist deshalb höchst unwahrscheinlich, dass sich andere Länder auf eine solche Lösung einlassen.

Wenn es also im Rahmen der G-20-Gruppe keine Verständigung gibt, bleibt abzuwarten, welche Reichweite ein entsprechender Alleingang in der EU haben wird. Die meisten EU-Länder sind wie die Bundesregierung der Meinung, dass eine solche Steuer nur weltweit sinnvoll sei. In der Euro-Gruppe gibt es allerdings Befürworter eines europäischen Alleingangs.

Österreich hatte sich nach Ausbruch der Finanzkrise als erstes Land für eine Steuer auf Börsengeschäfte eingesetzt. Damit sollen die Finanzmarktakteure nicht nur an den Kosten der Krise beteiligt, sondern auch von spekulativen Übertreibungen abgehalten werden. Die großen EU-Länder Deutschland, Frankreich und Großbritannien schlossen sich der Forderung später an, konnten das aber auf G-20-Ebene gegen den Widerstand der USA nicht durchsetzen. Es wäre trotzdem keine Überraschung, wenn Widerstände auf der G-20-Beratung zum Anlass genommen würden, das gesamte Projekt wieder zu beerdigen.

In der Presse fand ein Überraschungscoup der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen starke Beachtung. Die BaFin untersagt ungedeckte Leerverkäufe von Aktien ausgewählter deutscher Finanzunternehmen und Staatsanleihen der Euro-Zone. Auch dies ist zweifelsohne ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Solange es allerdings bei einem Alleingang weniger Staaten bleibt, wird nicht viel erreicht, weil die Finanzmarktakteure auf andere Handels- bzw. Börsenplätze ausweichen werden.

Parallel zur großen Unruhe und Hektik auf den internationalen Finanzmärkten entwickelt sich in der Bevölkerung ein wachsender Druck, die Finanzmärkte stärker zu kontrollieren und zu steuern. Allerdings haben die entsprechenden Interventionsansätze bislang noch keine klaren Zielpunkte. Die Strategie der politischen Klasse ist durchsichtig: Der wachsenden Empörung in der Bevölkerung und unter den Abgeordneten soll eine Bewegungsform eröffnet werden. Gleichwohl bleiben die politischen Profis bei ihren erheblichen Zweifeln, ob eine europäische Einigung tatsächlich zustande kommt. Unter den Fachleuten will niemand so recht an den großen Durchbruch glauben.

Diese Strategie kann und wird aber nur aufgehen, wenn es infolge der ergriffenen Maßnahmen der Euro-Stabilisierung zu einer tendenziellen Beruhigung an den Finanzmärkten kommt. Absehbar ist eine solche Entwicklung keineswegs, und auf mittlere Sicht wird die große Wirtschafts- und Finanzkrise für einen entsprechenden politischen Druck sorgen.

Mit gigantischen Milliardenbeträgen an Steuergeldern hat man einzelne Banken gestützt. Das Argument war immer die angebliche »Systemrelevanz«. Nach wie vor gibt es gute Gründe für die völlige Wirkungslosigkeit einer Politik, die glaubt, das Platzen einer großen Kreditblase mit einer raschen Expansion des öffentlichen Kredits bekämpfen zu können.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass man mit den hineingepumpten Stützungsbeträgen eine Marktheilung erreichen kann. Alle diesbezüglichen staatlichen Liquiditätszuflüsse wirkten getrieben und völlig übereilt. Der einzige Effekt bestand darin, dass massive Vermögensverluste für die Akteure auf den Finanzmärkten verhindert wurden.

Als Konsequenz aus der Überhitzung der Märkte hätten längst weltweit koordinierte staatliche Regulierungsmaßnahmen erfolgen müssen. Nur durch eine strikte Regulierung können die Finanzmärkte wieder sicher gemacht und verloren gegangenes Vertrauen zurückgewonnen werden.

Ohne eine geordnete Abschreibung der gehandelten Kapitalwerte - faktisch sind es akkumulierte Eigentumsansprüche auf künftig zu produzierenden gesellschaftlichen Reichtum - wird es keine Verminderung des aufgeblähten Sektors des Finanz- und Leihkapitals geben. Allerdings setzt jeder Ansatz auf eine Substanzbesteuerung dieser Kapitalwerte oder auch nur eine Teilwertberichtigung seitens der wirtschaftlichen Elite massive Widerstände frei.

Das jetzt erreichte Verbot des Handels von ungedeckten Leerverkäufen, die Registrierung und Kontrolle von Hegdefonds sowie die angestrebte Kapitaltransaktionssteuer sind Schritte zur Redimensionierung, Kontrolle und Steuerung der Finanzmärkte. Gleiches gilt auch für das Projekt der Bundestagsfraktion DIE.LINKE für ein Verbot der Kreditversicherungen auf den Ausfall von Kreditpapieren und Staatsanleihen. Die Bundesregierung soll sich nach einem Verbot der unter dem Begriff »Credit Default Swaps« (CDS) bekannten Versicherungen und dem Handel mit diesen verbrieften Krediten dafür einsetzen, dass dieses Verbot auch auf EU-Ebene und bei den G-20-Staaten durchgesetzt wird.

Das weltweite Volumen dieser CDS beträgt rund 36 Bio. US-Dollar. Dies entspricht der zweieinhalbfachen Wirtschaftsleistung der USA. CDS haben die Finanzkrise begünstigt. Dies belegen auch die Ermittlungen der US-Börsenaufsicht gegen die Investmentbank Goldman Sachs, die Anlegern minderwertige Hypothekenpapiere verkauft hat und dann mit CDS auf einen Ausfall dieser Hypotheken gewettet haben soll. CDS spielen zudem eine bedeutende Rolle bei den gegenwärtigen Verwerfungen in der Euro-Zone. Die CDS für griechische Staatsanleihen sind selbst zu begehrten Investitionsanlagen geworden.

In der letzten Konsequenz ist die weitgehende Vergesellschaftung des Kredit-, Banken- und Finanzbereiches unverzichtbar, soll eine Steuerung und Kontrolle der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion verwirklicht werden. Die von den bürgerlichen Kräften verfolgte Politik der Selbstheilung wird dagegen in einem großen Desaster enden.

Es wäre zu wünschen, dass durch die ersten Schritte einer Finanzmarktregulierung sich Gesellschaft und Politik den Gestaltungsspielraum zurückerobern und schrittweise aus der Abhängigkeit vom Finanzkapital lösen. Auf der anderen Seite bleibt eine begründete Skepsis über die Nachhaltigkeit dieser Rückkehr zu einer Politik der Gestaltung der Gemeinwesen.

Die Schuldenkrise etlicher Euro-Staaten wird die Wachstumsaussichten in Europa für längere Zeit belasten. Das von den Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone ausgearbeitete Stabilisierungspaket löst das Problem nur teilweise. Daneben muss in diesen Ländern eine Sanierung der öffentlichen Finanzen stattfinden, die über ein rigoroses Sparprogramm nicht zu erreichen ist.

Die Schuldenkrise in Europa stellt in Bezug auf die Preis- und Wechselkursstabilität sowie die Konjunktur ein beträchtliches Gefährdungspotenzial dar. Werden die aktuellen Haushaltsdefizite zu schnell zurückgefahren, erhöht sich die Gefahr eines erneuten Abrutschens in eine rezessive Wirtschaftsentwicklung. Diese Gefahr ist nicht gering einzuschätzen, weil die Konsumenten und die Unternehmen wegen der zurückliegenden Entwicklung zu einer deutlichen Zurückhaltung ihrer Ausgaben übergegangen sind. Beispielsweise sparen die Deutschen in der europäischen Schuldenkrise so eifrig wie seit 17 Jahren nicht mehr. Im Schnitt legten die Verbraucher 15,2% ihres verfügbaren Einkommens auf die hohe Kante. Die gesteigerte Sparlust ging dabei auf Kosten des Konsums: Die Verbraucher gaben 0,8% weniger aus als im Vorjahr. Das drosselte das Wachstum.

Die Art und Weise, wie die Entwicklungen an den Finanzmärkten die politischen Akteure vor sich her treiben, macht deutlich, wie notwendig eine durchdachte Finanzmarktregulierung ist. Um das Hase-und-Igel-Rennen zu beenden, müssen die Finanzmärkte reguliert und durch eine geordnete Abwertung der Besitztitel redimensioniert werden.


Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.


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Quelle:
Sozialismus Heft 6/2010, Seite 19-27
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010