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WIRTSCHAFT/109: Stichwort - Wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU (spw)


spw - Ausgabe 1/2011 - Heft 182
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Stichwort zur Wirtschaftspolitik:
Wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU

Von Arne Heise


Die Euro-Zone ist noch längst nicht wieder in sicherem ökonomischem Fahrwasser. Zwar ist ein Mechanismus geschaffen worden, der in akuten Gefährdungslagen finanziellen Beistand für Regierungen von Staaten der Euro-Zone leisten soll, ohne dass langwierige politische Aushandlungsprozesse durchlaufen werden müssen. Doch die Entwicklung der 'Zins-Spreads', also der Differenzen zwischen Zinsen auf Staatsschulden in Ländern wie Deutschland einerseits und Spanien, Portugal oder Griechenland anderseits, zeigt genauso wie die Diskussion um den finanziellen Umfang dieses Interventionsmechanismus, dass die Finanzmärkte noch lange nicht von der Nachhaltigkeit der Finanzpolitik einzelner Mitgliedsstaaten der Euro-Zone und der Tragfähigkeit des 'Euro-Schutzschirmes' überzeugt sind.

Dieser Umstand aber macht nicht nur die Lage für die von hohen Zinsforderungen oder gar einem Insolvenzrisiko bedrohten Länder gefährlich. Durch 'Ansteckungseffekte' oder gar das gänzliche Scheitern der Europäischen Währungsunion (EWU) sind alle Euro-Zone-Mitgliedsländer potentiell betroffen. Daher setzt sich zunehmend eine Erkenntnis durch, die gerade kritische Ökonomen einer europäischen Währungsintegration schon immer ins Stammbuch geschrieben haben: wirtschaftspolitische Koordinierung.

Tatsächlich war es insbesondere Frankreich, dass eine Währungsvereinheitlichung in der EU immer mit einer stärkeren wirtschaftspolitischen Koordinierung verband und unter dem Stichwort 'Europäische Wirtschaftsregierung' (Governement Economique) einforderte. Dem stand in der konkreten Ausgestaltung des EU-Governance-Systems Mitte der 1990er Jahre die Kohl-Waigel-Bundesregierung im Zusammenspiel mit dem damaligen Bundesbankpräsidenten Tietmeyer entgegen: Sie verwässerten vollkommen eine effektive Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Rahmen der 'Grundzüge der Wirtschaftspolitik' und setzten stattdessen eine Disziplinierung der Haushaltspolitik im Rahmen des 'Stabilitäts- und Wachstumspakts' (SWP) durch. Der weite Bereich der wirtschaftspolitischen Koordinierung, der die Finanz-, aber auch die Sozial-, Steuer und Tarifpolitik umfassen muss, wurde damit sehr einseitig auf eine Haushaltspolitik beschränkt, die dem neoliberalen Leitbild eines ausgeglichenen Budgets folgte. Im Zusammenspiel mit der nach deutschen Forderungen sehr einseitig auf Preisstabilität fixierten Europäischen Zentralbank (EZB) wurde Europa also 'getietmeyert'.

Tatsächlich zielen alle Appelle auf eine Stärkung der wirtschaftspolitischen Koordinierung, wie sie gegenwärtig von Bundesfinanzminister Schäuble und Bundesaußenminister Westerwelle vorgebracht werden, nicht etwa darauf, den französischen Gedanken einer Europäischen Wirtschaftsregierung mit Leben zu füllen, sondern die vermeintliche Laxheit der haushaltspolitischen Restriktion durch den immerhin sanktionsbewährten SWP zu überwinden. Der SWP soll 'mehr Biss' bekommen, indem Sanktionen früher und schneller ausgesprochen werden. Wenn es nach der Bundesregierung ginge, sollten Sanktionen nicht nur finanziellen Charakter haben, sondern auch Mitbestimmungsrechte in der EU tangieren. Alle weiteren wirtschaftspolitischen Bereiche, die bei tatsächlicher Koordinierung den Einstieg in eine Sozial- und Transferunion bedeuten müssten, werden ausdrücklich zugunsten intergouvernementeller Absprachen vernachlässigt.

Neben dem Versuch, nationale Souveränitätsrechte in einer immer stärker zusammenwachsenden Welt zu verteidigen, steht hinter dieser Politik natürlich weiterhin das neoliberale Weltbild mit seiner Skepsis gegenüber staatlichen Interventionen. Verlässt man diesen ideologischen Bezugsrahmen, dessen ökonomisch-theoretisches Fundament - die neoklassische Gleichgewichtsökonomik - in der jüngsten Weltfinanzkrise erhebliche Risse bekommen hat, muss wirtschaftspolitische Koordinierung anders umgesetzt und orientiert werden:

eine Koordinierung der Haushaltspolitik im Rahmen des SWP muss Spielraum für wachstumsförderliche Investitionsausgaben lassen und den unterschiedlichen Entwicklungsständen der Euro-Zone-Ländern Rechnung tragen. Vor allem aber kann es nicht nur um Restriktion gehen, sondern in Krisensituationen, wie der gerade durchlebten Weltfinanzkrise, müssen auch koordinierte Expansionsmaßnahmen getroffen werden können, denn sonst droht eine allgemeine konjunkturelle Abwärtsspirale. Die völlig unkoordinierten EU-weiten Sparprogramme lassen ein derartiges Szenario gegenwärtig befürchten.

eine Koordinierung der Sozial- und Steuerpolitik muss verhindern, dass mangels Wechselkursanpassung die öffentlichen wie betrieblichen Ausgaben für soziale Maßnahmen und die (vor allem Unternehmens-)Steuersätze zu den wesentlichen Stellschrauben des Wettbewerbs zwischen den Euro-Zone-Ländern werden. Aufgrund der unterschiedlichen Leistungskraft und historischer Pfadabhängigkeiten darf 'Koordinierung' aber nicht mit 'Harmonisierung' verwechselt werden.

eine Koordinierung der Tarifpolitik ist unbedingt erforderlich, um die wesentliche Bedrohung der Existenz der EWU - die sich kumulativ aufbauenden Leistungsbilanzungleichgewichte als Folge auseinanderdriftender Lohnstückkostenentwicklungen - systematisch in den Griff zu bekommen.

Schließlich müssen die unterschiedlichen Politikbereiche nicht nur über nationale Grenzen hinweg koordiniert, sondern auch untereinander und insbesondere mit der Geldpolitik der EZB abgestimmt werden. Ansonsten droht eine Blockade, die ein inflationsfreies Wachstum in jener Größenordnung unmöglich macht, die die Arbeitsmärkte, aber auch die öffentlichen Haushalte nach der Weltfinanzkrise unbedingt benötigen.

Wie schwer es wird, eine effektive Koordinierung der Wirtschaftspolitik in die Praxis umzusetzen, braucht nicht betont zu werden. Allein der Hinweis auf den vollkommenen Zusammenbruch der europäischen (Währungs-)Integration im Alternativfall dürfte heute um einiges glaubwürdiger erscheinen als noch vor ein bis zwei Jahren.


Dr. Arne Heise ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2011, Heft 182, Seite 44-45
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2011