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WIRTSCHAFT/114: Robuste Finanzmärkte - eine sichere Bank (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 1/2011

Robuste Finanzmärkte - eine sichere Bank

Von Kai A. Konrad


Griechenland und Irland vor dem Bankrott, andere Länder, wie Portugal, mitten in der Schuldenkrise. Die Stabilität der Europäischen Währungsunion wankt. Fachleute diskutieren über neue Sanktionsregelungen oder über die Einrichtung eines Währungsfonds. Dabei sind nicht die bestehenden Regeln das Problem, sondern Versäumnisse in ihrer Anwendung, findet unser Autor - und fordert, Banken und Finanzmärkte stärker zu reformieren.


Das Jahr 2010 war für die Europäische Union historisch bedeutsam. Wer hätte im Herbst 2009 für möglich gehalten, dass ein Jahr später mit Griechenland und Irland zwei Mitgliedsstaaten der Eurozone in eine extreme Schuldenkrise geraten und mit Milliardenbürgschaften vor dem Bankrott gerettet würden? Wer hätte gedacht, dass die Europäische Union zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds an nur einem Wochenende einen 750 Milliarden Euro umfassenden Garantieschirm für zahlungsunfähige Mitgliedsstaaten beschließt und damit den Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union einfach übergeht? Wer hätte gedacht, dass die Europäische Zentralbank jemals in erheblichem Umfang Staatsschuldtitel zweifelhafter Bonität aufkaufen und anschließend eine Kapitalerhöhung anstreben würde?

Auch die politischen Reaktionen in Europa waren beachtlich. Am 7. September 2010 beschloss der Ministerrat die Einführung des "Europäischen Semesters", beginnend 2011. Es sieht eine im März jeden Jahres startende Beratung der Staatshaushalte der Mitgliedsstaaten für das Folgejahr auf europäischer Ebene vor - unter Beteiligung der Kommission und des Rats. Auf dem Gipfel vom 29. September 2010 legte dann die Europäische Kommission Pläne zu einer weitreichenden Reform der Finanzverfassung der Europäischen Union vor.

Die Pläne umfassen im Kern zwei Bündel von Maßnahmen: Erstens sollen die Überwachungs- und Disziplinierungsinstrumente des Stabilitäts- und Wachstumspakts verschärft und mögliche Sanktionen für Schuldenstaaten stärker automatisiert werden; zweitens sollte ein völlig neues Überwachungs-, Interventions- und Sanktionssystem geschaffen werden, um mögliche makroökonomische Ungleichgewichte einzelner Mitgliedsstaaten zu diagnostizieren, abzumahnen oder zu sanktionieren.

Bilaterale Initiativen, wie die gemeinsame deutschfranzösische Position, die in Deauville im Oktober 2010 entwickelt wurde, haben den Vorschlag der Kommission zunächst wieder beschnitten. Sie haben zugleich die Rolle der Gläubiger von Staatsschuldtiteln und ihrer finanziellen Beteiligung an einer möglichen Sanierung der Staatsschulden eines Mitgliedslands stärker in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Im Dezember 2010 hat der Europäische Rat beschlossen, dass der zunächst als befristete Maßnahme gebilligte Rettungsschirm in Form eines European Stability Mechanism (ESM) weiterbestehen solle, wenngleich die präzise Ausgestaltung und die Rahmenbedingungen noch nicht festgelegt wurden. Und neben diesen weitreichenden Plänen und Beschlüssen stehen viele weitere Überlegungen im politischen Raum.

Wie sind die Initiativen im Licht der Erfahrungen mit dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt in den vergangenen zehn Jahren zu beurteilen? Können diese Beschlüsse die zentralen Glaubwürdigkeitsprobleme ausräumen, die in den vergangenen Jahren - besonders aber 2010 - dafür gesorgt haben, dass wichtige Elemente dieses Regelwerks nicht zur Anwendung kamen? Und wenn die Antwort auf diese Fragen ein klares Nein ist, was wären die richtigen Antworten der Politik?

Viele Beobachter machen mangelnde Transparenz und die mangelnde Bereitschaft der Politik, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts umzusetzen, dafür verantwortlich, dass der Stabilitätspakt versagt hat. Sie fordern deshalb eine Reform des Regelwerks: Mehr Transparenz und mehr Prävention sollen frühzeitige Reaktionen auf mögliches fiskalisches Fehlverhalten ermöglichen. Und starre Regeln und Automatismen bei der Verhängung von Sanktionen im Fall von Regelverletzungen sollen die bestehenden politischen Abstimmungsverfahren ersetzen.

Die Reformisten des Pakts haben plausible Argumente. Eine präventive Kontrolle der Einzelhaushalte ("Europäisches Semester") soll frühzeitiges Eingreifen ermöglichen, bevor das Fehlverhalten eigentlich erfolgt - und lange bevor eine Schieflage eintritt. Mehr Transparenz und Prävention hätten die Finanzmisere Griechenlands früher ans Licht gebracht. Man hätte dann, so das Argument, Griechenland rechtzeitig auf einen finanzpolitisch nachhaltigen Kurs bringen können.

Automatismen als Ersatz für politische Mehrheitsentscheidungen werden damit begründet, dass in der Vergangenheit "Defizitsünder über Sanktionen für andere Defizitsünder" hätten entscheiden müssen. Als solche hätten sie keinen ausreichenden Anreiz gehabt, solche Sanktionen zu beschließen. Das hätte fiskalischem Fehlverhalten Vorschub geleistet, weil Defizitsünder damit rechnen konnten, dass sich für ihre Bestrafung keine politische Mehrheit finden würde. Automatismen würden nicht unter dieser Glaubwürdigkeitsproblematik leiden.

Diese Argumente haben einen wahren Kern. Man kann indes nicht hoffen, dass diese Maßnahmen allein den Stabilitäts- und Wachstumspakt glaubwürdig und funktionsfähig machen würden. Fehlende Information über die mangelnde Nachhaltigkeit in der Haushaltspolitik einzelner Mitgliedsländer war wohl nicht das Kernproblem, das zur Europäischen Staatsschuldenkrise geführt hat.

Griechenland etwa hat seit seinem Beitritt zur Eurozone in neun von zehn Jahren den Referenzwert von drei Prozent Nettoneuverschuldung überschritten, und zwar auch nach der - jüngst viel kritisierten - offiziellen Statistik. Die Regelverletzung war kein Staatsgeheimnis. Die Problemlage mag sich durch die Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkt haben: Sie hat sich jedenfalls über viele Jahre und vor aller Augen aufgebaut.

Einem Staat dürfte es auch mit einem Überwachungsverfahren wie dem nun beschlossenen "Europäischen Semester" gelingen, in der Finanzvorschau einen Weg scheinbarer Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik zu zeichnen und parallel dazu weiter in die Verschuldung zu laufen. Eine Regierung, die entschlossen ist, weitere Schulden zu machen und die dabei von breiten Teilen der eigenen Bevölkerung unterstützt wird, hat trotz eines "Europäischen Semesters" Mittel und Wege für die Aufnahme zusätzlicher Staatsschulden. Der Bilanzkosmetik sind dabei nur wenige Grenzen gesetzt.

Der Verkauf von öffentlichen Gebäuden zu hohen Preisen in Verbindung mit überhöhten Pachtzinsen (sell and lease back) oder die Schuldenaufnahme über Kredite von öffentlichen Unternehmen, für die eine staatliche Bürgschaft besteht, sind nur zwei Beispiele für eine ganze Klasse von verdeckten Kreditverträgen, mit denen ein Staat am offiziellen Haushalt vorbei zusätzliche Schulden machen kann. Und diese Sorte Schulden ist zudem meist teurer als eine offene Staatsverschuldung.

Selbst eine viel umfassendere und tiefgreifendere Kontrolle der nationalen Haushalte durch die EU als die, die derzeit im Rahmen des "Europäischen Semesters" geplant ist, hätte angesichts solcher Möglichkeiten wenig Aussicht auf Erfolg. Sie hätte aber eine unwillkommene Nebenwirkung: Käme es trotz kleinräumiger Überwachung und Einschränkung der einzelstaatlichen Autonomie zu einer extremen Haushaltsnotlage in einem Mitgliedsstaat, könnte dieser Staat mit gutem Grund auf Hilfen seitens der Europäischen Gemeinschaft pochen: Wer nur tut, was andere verlangen, und wem in seinem Handeln enge Regeln auferlegt sind, dem können diese anderen auch keine Eigenverantwortung für das Handlungsergebnis abverlangen, solange er formal die Regeln einhält.

Auch das Beispiel der drohenden Staatspleite Irlands im November 2010 zeigt, dass extreme Haushaltsschieflagen mit hinreichender Transparenz in der Haushaltspolitik nicht vermieden werden können. Als Defizitsünder ist der irische Staat nicht sonderlich auffällig geworden. Die Schieflage verdankt das Land eher der staatlichen Übernahme von Garantien für den irischen Bankensektor - einer Maßnahme also, die weder im Rahmen der Prävention noch im Rahmen der automatischen Sanktionen des Stabilitätspakts besondere Beachtung gefunden hätte.

Was kann man von automatischen Sanktionen erwarten? Kann man hoffen, dass solche Sanktionen eine glaubhafte Strafandrohung für fiskalisches Fehlverhalten darstellen und so disziplinierend auf die Einzelstaaten wirken? Oder entfalten Automatismen im Endeffekt ebenfalls keine glaubwürdigen Abschreckungswirkungen?

Tatsächlich gibt es zu dieser Frage bereits Erfahrungen aus den vergangenen zehn Jahren. Der Stabilitätspakt sieht in seiner gültigen Fassung bereits eine Reihe von Automatismen vor, die in der Vergangenheit außer Kraft gesetzt wurden. Dazu gehört die Intervention der Deutschen Bundesregierung im Jahr 2002, mit der sie ein völlig automatisch einsetzendes Haushaltsmahnverfahren zunächst verhindert hat. Das dramatischere und wichtigere Beispiel für das Versagen automatischer Regeln ist der große Rettungsschirm, der im Mai 2010 installiert wurde: Die gegenseitige Nicht-Hilfe, wie sie sich im Artikel 125 als "No-Bailout-Klausel" findet, ist im Grunde als Automatismus konzipiert worden.

Die Regel besagt, dass im Falle einer extremen Haushaltsnotlage eines Staats in der Eurozone weder die Staatengemeinschaft noch einzelne andere Mitgliedsstaaten dem in der Notlage befindlichen Staat finanziell helfen müssen. In der Öffentlichkeit und der Politik wurde die Regel dabei ganz überwiegend als "Soll-nicht-helfen"-Bestimmung interpretiert. Dieser Nicht-Hilfe-Automatismus hat die Eurostaaten nicht davon abgehalten, sich über diese Regel hinwegzusetzen.

Es gibt unterschiedliche Spekulationen darüber, weshalb die Europäische Union gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds im Mai 2010 mit dem 750 Milliarden Euro schweren Rettungsschirm einen zwischenstaatlichen Hilfsmechanismus installiert hat. Weite Teile der Politik befürchteten jedenfalls, dass nach Griechenland schnell weitere Staaten der Eurozone in eine Situation gelangen würden, in der eine Anschlussfinanzierung ihrer Staatsschulden auf dem Kapitalmarkt praktisch nicht mehr möglich gewesen wäre. Und die Politik hoffte, genau das mit der Rettungsaktion abwenden zu können. Vor allem aber war die Angst weit verbreitet, eine Umschuldung eines oder mehrerer dieser Staaten führe zu erheblichen Verwerfungen auf den Finanzmärkten und Insolvenzen großer systemrelevanter privater Kreditinstitute.

Wegen dieser möglichen negativen Konsequenzen befand sich Europa in einer Situation, die als "Samariterdilemma" bekannt ist. Angewendet auf das Verhältnis der Eurostaaten zueinander hat es folgenden Kern: Zwischen den Staaten bestand zwar kein tiefes Band der Zuneigung oder des Altruismus, die reicheren Eurostaaten hatten aber ein Eigeninteresse daran, durch die Hilfen an Staaten am Rande der Staateninsolvenz negative Folgen aus einer solchen Umschuldung für die reichen Staaten selbst abzuwenden, namentlich für den Bankensektor in diesen Staaten.

Die zu erwartenden Staatenhilfen oder mögliche dauerhafte zwischenstaatliche Transferleistungen entfalten schädliche Verhaltensanreize bei Staaten und auf dem Markt für Staatsschulden. Sie begründen eine Art Haftungsgemeinschaft der Eurostaaten. Holger Zschäpitz und ich haben die Folgen in unserem Buch Schulden ohne Sühne? beschrieben. Staaten haben in einer Haftungsgemeinschaft zu wenig Anlass zu sparen und zu konsolidieren. Das gilt auch für Staaten, denen die Rolle des immer wiederkehrenden Retters zugedacht ist. Sie können die Retterrolle nur ablegen, indem sie selbst hohe Schulden aufnehmen.

Ferner verlieren die Käufer von Staatsschuldtiteln den Anreiz, die Bonität einzelner Staaten zu prüfen und auf eine Verschlechterung der Bonität eines Mitgliedsstaats mit Kaufzurückhaltung zu reagieren. Sie müssen nicht zwischen Krediten an Staaten mit maroden Finanzen und Krediten an Staaten mit gesunden Finanzen unterscheiden - von wem sie letztlich ihr Geld zurückbekommen, kann ihnen gleich sein. Die Folge: Nimmt ein Mitglied der Gemeinschaft zusätzliche Kredite auf, verschlechtert es die Bonität der Haftungsgemeinschaft insgesamt. Die Refinanzierungskosten der Haftungsgemeinschaft steigen.

Ein einzelner, zumal ein kleiner Mitgliedsstaat trägt damit nur einen Bruchteil der Bonitätskosten, die seine eigenen zusätzlichen Schulden verursachen. Der größere Teil der Bonitätskosten wird auf die anderen Mitgliedsstaaten abgewälzt. Auch das führt zu einer prinzipiell zu hohen Kreditaufnahme jedes einzelnen Mitgliedsstaats.

Wichtiger noch als die Wirkung für Staatsschuldtitel auf den Kreditmärkten und für die Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten könnten die politischen Wirkungen des Samariterdilemmas für das "Projekt Europa" sein. Wiederholte Hilfszahlungen oder umfangreiche Transfers von den reicheren zu den ärmeren Mitgliedern, die sich über viele Jahre erstrecken und leicht einen erheblichen Umfang annehmen könnten, dürften auf Dauer zu politischen Spannungen zwischen Geber- und Nehmerstaaten führen.

Einen Vorgeschmack auf solche Spannungen gab es im Zusammenhang mit dem Rettungsschirm für Griechenland. In Deutschland machten sich Klischees über Griechen als faule Steuerbetrüger breit. Dass man in Deutschland den Gürtel enger schnallen solle, um Geld nach Griechenland zu schicken, war nicht sonderlich populär. Reportagen beherrschten die Diskussion, in denen Personen erklärten, für welche Zwecke man Geld lieber in Deutschland einsetzen solle, anstatt es nach Griechenland zu überweisen. Gleichzeitig wurden in Griechenland mögliche deutsche Reparationszahlungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg diskutiert, wenn es auch keine Forderungen von offizieller Seite gab.

Die Sprengkraft der Situation für die Europäische Union ist gewaltig. Es zeichnet sich in Europa eine Trennlinie ab zwischen den Staaten mit solideren Staatsfinanzen und solchen mit weniger soliden Staatsfinanzen. Angesichts der Geschichte Europas ist es unwahrscheinlich, dass Deutschland den ersten Schritt in Richtung auf einen Austritt aus der Währungsunion unternimmt. Vorstellbar ist aber, dass einige Staaten Konsequenzen ziehen.

Neben den internationalen Spannungen, die sich aus zwischenstaatlichen Transfers entwickeln können, trägt eine europäische Transferunion auch den Keim möglicher Radikalisierung in einzelnen Staaten in sich. Slogans wie "Sparen für die Griechen? Nein Danke!" könnten populistischen Strömungen vom rechten wie vom linken politischen Spektrum Auftrieb verleihen. Sollten radikale Populisten mit diesem Thema Regierungsverantwortung erlangen, könnte das zum Auslöser für mögliche Spaltungsprozesse innerhalb der Europäischen Union werden.

Was wäre ein richtiges Konzept? Wie gelangt man aus dem Dilemma? Eine Antwort hierauf hat im Sommer 2010 der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen in einem Brief an den Minister skizziert. Das Gremium rät, die Europäische Finanzverfassung formal unangetastet zu lassen. Mit einer unabhängigen Zentralbank, einem Haushaltsüberwachungsverfahren (Artikel 126) und vor allem einem Nicht-Hilfe-Gebot, also der No-Bailout-Klausel des Artikels 125, sind gute Regeln vorhanden. Diese Regeln sind - würden sie eingehalten - ausreichend für Preisniveaustabilität und nachhaltige Haushaltspolitik. Nicht die bestehenden Regeln sind das Problem, sondern Versäumnisse in ihrer Anwendung.

Dass die No-Bailout-Klausel durch politische Beschlüsse außer Kraft gesetzt wurde, liegt weniger an den Regeln selbst als vielmehr am institutionellen Kontext, in dem die Entscheidungen über die Anwendung der Regeln getroffen werden. Die zentrale Reformfrage lautet daher: Welche Faktoren im institutionellen Umfeld waren dafür maßgeblich, dass der Automatismus der No-Bailout-Klausel außer Kraft gesetzt wurde? Dann muss man fragen, wie sich diese Faktoren verändern lassen.

Eine zentrale Ursache dafür, den Artikel 125 nicht anzuwenden und stattdessen Griechenland und später Irland finanziell zu "retten", ist der Zustand der Finanzmärkte: Solange die Politik die Turbulenzen und Insolvenzen von Banken an den Finanzmärkten fürchtet, die eine Umschuldung eines Eurostaats verursachen könnte, wird eine Umschuldung wohl nicht stattfinden, auch wenn sie wirtschaftspolitisch richtig und notwendig wäre. Will man künftig die No-Bailout-Klausel einhalten, muss man also vorrangig den Bankensektor und die Finanzmärkte stärker reformieren, nicht den Stabilitäts- und Wachstumspakt.

Eine Umschuldung ist eine teilweise Zahlungsverweigerung des Staats für Staatskredite, gefolgt von Verhandlungen der Regierung mit den Kreditgebern, was die Rückzahlungskonditionen angeht. Das ist kein angenehmes Ereignis für die Finanzmärkte, weil die Halter von Staatsschuldtiteln einen Teil ihrer Ansprüche verlieren. (Die Umschuldung ist klar zu unterscheiden von einem Austritt aus der Eurozone und erfolgt ohne einen solchen - leider geht das in der wirtschaftspolitischen Diskussion nur zu oft durcheinander.)

Ein hinreichend robustes Bankensystem, das reichlich mit Eigenkapital ausgestattet ist und in dem die Banken nicht einseitige große Positionen an Schuldtiteln eines einzelnen Staats aufbauen, sondern ihre Anlagen ausgewogen auf verschiedene Anlageformen verteilen, kann die Abschreibungen im Zuge einer Umschuldung eines Eurostaats relativ unbeschadet überstehen. Banken mit einer hinreichend konservativen Anlagestrategie können solche Abschreibungen verkraften, ohne dadurch selbst in eine Schieflage zu geraten.

Ein so robuster Zustand der Banken und Finanzmärkte ist keine Utopie. Er ist sogar eine im Grunde stabile Gleichgewichtssituation: In einer Finanzwelt, in der alle Banken und Finanzinstitute sehr gut mit Eigenkapital ausgestattet sind und eine konservative Anlagestrategie verfolgen, hat die einzelne Bank kaum einen Anreiz, von einer solchen Strategie abzuweichen. Sie könnte zwar versuchen, riesige riskante einseitige Positionen aufzubauen, und auf ein bestimmtes Ereignis wetten, wie das in der derzeitigen Finanzmarktsituation vielleicht sogar üblich ist.

Angesichts des Verhaltens der anderen Banken und deren Kapitalausstattung wäre das für die Bank und ihre Aktionäre dann aber gefährlich. Denn in Anbetracht der Robustheit aller anderen Banken würde die Bank einfach untergehen, wenn sie sich verspekuliert. Anders als heute könnte der Staat auf eine Rettung der Bank verzichten, denn in einer robusten Finanzwelt wäre diese einzelne Bank eben nicht systemrelevant.

Robuste Finanzmärkte mit Banken, deren Aktionäre die Verantwortung für mögliche Verluste ihrer Investitionen selbst tragen und die eben nicht um jeden Preis gerettet werden müssen, sind auch aus vielen anderen Gründen wünschenswert. Ein robustes Finanzmarktsystem erspart der Welt vielleicht auch die eine oder andere künftige Finanzmarktkrise mit nachfolgender Wirtschaftskrise. Vor allem aber ist es eine zentrale Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit der No-Bailout-Klausel, und damit für die Funktionsfähigkeit des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts.


Der Autor

Kai A. Konrad, Jahrgang 1961, ist Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen in München. Er studierte Volkswirtschaftslehre und wurde 1990 an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert, wo er sich auch habilitierte. Konrad lehrte bis 2004 an der Freien Universität Berlin. Von 2001 bis 2009 war er Direktor am Wissenschafts zentrum Berlin für Sozialforschung.

Das Buch

Kai A. Konrad / Holger Zschäpitz,
Schulden ohne Sühne?
Warum der Absturz der Staatsfinanzen uns alle trifft,
240 Seiten mit 21 Grafiken,
Verlag C.H. Beck,
München 2010, 19,95 Euro.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 1/2011, Seite 12-17
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Redaktionsanschrift: Hofgartenstraße 8, 80539 München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juli 2011