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WIRTSCHAFT/120: Das europäische Governance-System und die Euro-Krise (spw)


spw - Ausgabe 4/2012 - Heft 191
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Das europäische Governance-System und die Euro-Krise(1)

von Arne Heise



In einer Studie(2) bescheinigt die EU-Kommission sich und den nationalen Regierungen der Mitgliedsstaaten, Lektionen aus der "großen Weltwirtschaftskrise" der 1930er Jahre gelernt und damit eine noch tiefere Depression im Zuge der Weltfinanzkrise nach 2008 verhindert zu haben. Insbesondere wird auch dem ökonomischen Governance-System der EU bescheinigt, durch gelungene Koordinierung der Wirtschaftspolitiken die Eurozone stabilisiert zu haben.

Es ist zwar ganz unbestreitbar, dass das beherzte und pragmatische Eingreifen der Zentralbanken und Regierungen nicht nur, aber auch in der Eurozone dazu beigetragen hat, dass die Weltfinanzkrise insgesamt nicht so tiefgreifend ausfiel wie die "grosse Weltwirtschaftskrise" Anfang der 1930er Jahre: Bankenrettungs- und Konjunkturprogramme im Rahmen des 2008 beschlossenen European Economic Recovery Programme (EERP) haben hier sicher positive Wirkung gezeigt. Und dennoch muss die Einschätzung der EU-Kommission bei genauerer Betrachtung revidiert werden: Tatsächlich gibt es einige Länder in der Eurozone - Griechenland, aber auch Spanien, Portugal oder Italien - deren Wachstums- und Beschäftigungsentwicklung nach 2009 fatal an die Erfahrungen der "großen Depression" erinnern. Wenn die historische Lektion denn gelernt wurde, so scheint dies nicht in allen Eurozone-Ländern zu entsprechenden wirtschaftspolitischen Konsequenzen geführt zu haben. Die Frage ist, ob dies auf individuelles Versagen nationaler Wirtschaftspolitik zurückzuführen ist oder vielmehr das systematische Ergebnis eines dysfunktionalen europäischen Governance-Systems?

Das europäische Governance-System besteht aus einer komplexen Mischung aus "harten" und "weichen" Koordinierungsprozessen (siehe Tabelle!), wobei die "weichen" Prozesse auf Informationsaustausch und allenfalls Reputationseffekte setzen, um eine Koordinierung zu ermöglichen, während die "harten" Prozesse auf Sanktionsmaßnahmen bzw. rechtliche Bindungen bauen. Der Tenor wissenschaftlicher Studien ist, dass die "weichen" Koordinierungsprozesse keine nachweisbaren Verhaltensänderungen der beteiligten Länder gebracht haben - dazu braucht es Sanktionierungsmöglichkeiten oder rechtsverbindliche Rahmenbedingungen. In diesem Sinn liegt die Hauptlast der Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik auf dem von Deutschland durchgesetzten "Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt" (ESWP), der die Eurozonen-Länder zu einer restriktiven Finanzpolitik veranlassen soll - der Europäische Sozialdialog (ESD), der in einigen Feldern der betrieblichen Gesundheits- und Gleichstellungspolitik zu EU-Richtlinien geführt hat, ist viel zu begrenzt, um die EU-Sozialpolitik nachhaltig zu beeinflussen.

TABELLE: Der europäische Governanceprozess im Bereich der Wirtschaftspolitik
PROZESS
POLITIKFELD
KOORDINIERUNG
ERGEBNISSE
GWP

Wirtschafts- und
Finanzpolitik
weich

Nicht erkennbar

EBS


Arbeitsmarkt-
politik

weich (OMK)


Unbefriedigend
(s. Kok-Report),
Diskurs rahmend
CP

Güter- und
Finanzmärkte
weich

Informationsaustausch

EMD

Geld-, Finanz-
und Tarifpolitik
weich

Informationsaustausch,
marginal
ESD



Sozialpolitik
(Arbeitsschutz-,
Gesundheits- und
Betriebspolitik)
hart
mittels
Regulierung

Einige Richtlinien im
Bereich Arbeitsschutz,
Gleichstellung

OMK
(Sozialpolitik)
Sozialpolitik
(Gesundheit, Rente)
weich

Katalysator,
Diskurs rahmend
ESWP

Finanzpolitik

hart mittels
Sanktionierung
Haushaltsrestriktion

Der ESWP stand seit seiner Einführung 1997 in der Kritik: Für die Vertreter der Mainstream-Ökonomie war die Sanktionsandrohung unglaubwürdig und damit der Anreiz für regelkonformes Verhalten zu gering. Der wiederholte Bruch des ESWP durch fast alle Eurozonen-Länder im Laufe der ersten Dekade seit der Einführung des Euro wird als Beleg dieser Behauptung gesehen. Wiederum zeigt ein Blick in die empirische Wirklichkeit, dass diese Einschätzung unhaltbar ist: Tatsächlich ist die Finanzpolitik in den Eurozone-Ländern seit Mitte der 1990er Jahre - als die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages (die die Grundlage des ESWP bildeten) Wirkung zeigten - deutlich restriktiver als in den Dekaden vorher. Seit Bestehen der Eurozone und der Existenz des ESWP bis zur Weltfinanzkrise 2008 war die Schuldenstandsquote in der Eurozone im Durchschnitt um fast 10 Prozentpunkte, im OECD-Durchschnitt hingegen nur um etwa 1 Prozent und auch in den USA und Großbritannien (als Nicht-Eurozonen-Land) nur um etwa 2 Prozentpunkte zurückgegangen. Und einige im Laufe der Euro-Krise als PIIGS-Staaten inkriminierte Eurozonen-Mitglieder wie Spanien, Irland oder Italien gehörten zu den finanzpolitischen Musterknaben. Schließlich lässt sich auch zeigen, dass die diskretionäre Konjunktursteuerung (z.B. in der 2001er Krise) deutlich gelitten hat. Hier genau setzte die Kritik der kritischen Wirtschaftswissenschaft am ESWP an: Er ist zu unfiexibel, zu restriktiv und zu wenig mit der europäischen Geldpolitik abgestimmt, um einen makroökonomischen Policy-Mix zu ermöglichen, der den regionalen Belangen einer Eurozone mit gemeinsamer Geldpolitik Rechnung tragen kann - die bereits vor der Weltfinanzkrise zu verzeichnende Wachstumsschwäche der Eurozone im Vergleich mit den USA oder Großbritannien wurde hierauf zurückgeführt.

Wenn die Kritiker Recht haben, müsste die Finanzpolitik der Eurozone-Länder trotz eines "exogenen Schocks" wie der Weltfinanzkrise ab 2008 bestimmt sein von den restriktiven Anforderungen des ESWP, nicht aber von ihren konjunkturellen Erfordernissen: Wer in der Vergangenheit nicht hinreichend sparsam gewesen war, so die Logik des ESWP, der hat in einer krisenhaften Situation nicht genügend "finanziellen Spielraum" und wird mit Wachstumsverlusten bestraft. Tatsächlich lässt sich kein Zusammenhang zwischen der Schärfe des "exogenen Schocks" und dem konjunkturellen Impuls im Rahmen des EERP finden, wohl aber zwischen der Größe der Konjunkturprogramme und dem "finanzpolitischen Spielraum" der nationalen Eurozone-Mitglieder. Was vielleicht als finanzpolitische Erziehungsmaßnahme gelten kann, kann angesichts einer Krise des Ausmaßes der Weltfinanzkrise zu einem Teufelskreislauf werden: Wenn die inadäquaten Konjunkturmaßnahmen nicht ausreichen, eine konjunkturelle Wende einzuleiten, dann kann der durch den ESWP ausgeübte Konsolidierungszwang zu weiteren Konjunktur- und Wachstumsproblemen führen, die dann die angestrebte Konsolidierung scheitern lassen, schärfere Sparprogramme erforderlich machen, die Konjunktur weiter beeinträchtigen usw. Für diesen Teufelskreis gibt es mittlerweile hinreichende empirische Belege.

Dem europäischen Governance-System auf der Grundlage von "Governance without Government" (aber mit zahlreichen, sich finanzpolitisch misstrauenden nationalen Regierungen) sind im Zuge der Weltfinanzkrise die Grenzen aufgezeigt worden: Seine Dysfunktionalität ist die Basis der anhaltenden Euro-Krise. Weiterentwicklungen in Richtung einer europäischen Wirtschaftsregierung sind wohl unabdingbar, soll die Eurozone nicht doch noch auseinanderfliegen.


Dr. Arne Heise ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg.


ANMERKUNGEN:

(1) Die Überlegungen basieren auf: Heise, A.: Governance without government: The Euro Crisis and what went wrong with European Economic Governance? ZÖSS Discussion Papers No. 32, Hamburg 2012

(2) EU-Kommission: Economic Crisis in Europe: Causes, Consequences and Responses, European Economy No. 7, Luxemburg 2009

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2012, Heft 191, Seite 51-53
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2012