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WIRTSCHAFT/127: Wie die europäische Wirtschaftspolitik zu demokratisieren ist (spw)


spw - Ausgabe 6/2013 - Heft 199
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Wie die europäische Wirtschaftspolitik zu demokratisieren ist: Eine britisch-sozialdemokratische Perspektive

von Anneliese Dodds



Einleitung: wie würde eine "demokratische" europäische Wirtschaftspolitik aussehen?

Eine wirklich demokratische europäische Wirtschaftspolitik sollte von den Menschen und für die Menschen gestaltet werden, anstatt durch die Großkonzerne im Interesse einer kleinen Elite, die die wirtschaftliche Macht in Europa dominiert. Dies gilt insbesondere für Großbritannien, das zu einem der Länder mit der größten gesellschaftlichen Ungleichheit in Europa gehört. Im Vereinigten Königreich verfügen die wohlhabendsten 10 Prozent der Bevölkerung mit über 1 Million Pfund über den 850-fachen Wohlstand der untersten 10 Prozent mit weniger als 13.000 Pfund.

Zwar nahm die ökonomische Ungleichheit in Großbritannien unter den Labour-Regierungen zwischen 1997 und 2010 zu, doch konnten dabei auch die untersten Schichten ihre Situation etwas verbessern. Seit 2010 jedoch hat sich die finanzielle Lage der ärmsten Bevölkerungsgruppen ebenso wie die der Mittelschichten verschlechtert, während sich die der Super-Reichen weiter verbessert hat. Derzeit können sich etwa ein Drittel der Familien in Großbritannien unvorhergesehene größere Ausgaben, wie etwa die Reparatur einer Waschmaschine, kaum mehr leisten. In der Siedlung, in der ich lebe - in der relativ wohlhabenden Stadt Oxford - wachsen skandalöse 45,5 Prozent der Kinder in Armut auf.

Letztlich wird die europäische Wirtschaftspolitik demokratischer, wenn sie für eine Umverteilung von Einkommen, Vermögen und wirtschaftlicher Macht von den Super-Reichen hin zu den ärmsten Schichten und der von Ed Miliband, dem Parteivorsitzenden von Labour, als "bedrängten Mittelschichten" bezeichneten Teilen der Gesellschaft sorgt.

In diesem Artikel untersuche ich, an welchen Stellen die EU-Wirtschaftspolitik kontraproduktiv gewirkt und Ungleichheiten verstärkt hat und wie sie künftig durch die Sozialdemokraten - und mit Unterstützung der Labour-Europaabgeordneten - verbessert werden kann.


Die Fehler der EU-Wirtschaftspolitik

Das wahrscheinlich bedeutendste Problem ebenso der EU Wirtschaftspolitik in der Eurozone wie auch der derzeitigen konservativ-liberalen Regierung in Großbritannien, ist die Umsetzung von nachfrageschwächenden Austeritätsprogrammen in Ländern, die bereits stark unter Druck stehen. Es wird mittlerweile vielerorts anerkannt, dass man mit einigen der Bedingungen der EU-Rettungspolitik und den Verpflichtungen zur Reduzierung der Staatsverschuldung zu weit gegangen ist. In Großbritannien hat sich diese Erkenntnis jedoch zu spät und nicht ausreichend durchgesetzt. Die langsame Erholung in der Eurozone dient dabei rechten Politikern als Vorwand, um die schwierige Situation Großbritanniens auf die europäischen Rahmenbedingungen zu schieben, anstatt die Ursachen in der ideologisch motivierten Politik der verbrannten Erde als Antwort auf die Rezession zu suchen.

Zweitens stand die EZB schon vor der Krise in der Kritik, weil sie sich zu sehr auf die Bekämpfung der Inflation statt um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit fokussierte. In einigen Ländern, wie auch in Großbritannien, erleben wir gerade das gleichzeitige Aufkommen von Inflation und Arbeitslosigkeit, beide Phänomene schließen einander nicht aus. Wie im Folgenden noch diskutiert wird, müssen EZB und EU ihre wirtschaftspolitische Stoßrichtung und Prioritätensetzung jedoch noch viel grundlegender überprüfen. War die von Sozialisten und Sozialdemokraten geforderte Beschäftigungsgarantie für Jugendliche ein Schritt in die richtige Richtung, so ist dies jedoch nicht ausreichend, um neue Jobs für junge Menschen zu schaffen. Und da unsere Position abgelehnt wurde, wonach diese Garantie sich auf hochwertige Arbeitsplätze beziehen sollte, besteht die Gefahr, dass viele Jugendliche weiterhin nur prekäre Beschäftigungsverhältnisse vorfinden, die ihnen die langfristige Lebensplanung, wie etwa die Familiengründung, massiv erschweren werden.

Drittens kann zumindest für Länder wie Großbritannien argumentiert werden, dass EU Wettbewerbs- und Beschaffungspolitik durch Großunternehmen genutzt wurde, um kleine und mittelständische Unternehmen, Genossenschaften und gemeinnützige Einrichtungen aus weiten Teilen des privaten und öffentlichen Sektors heraus zu drängen. Dabei wurden zudem Bedingungen für staatliche Hilfen besonders streng ausgelegt, um nachhaltige und demokratisch kontrollierte Ansätze zu begrenzen, die über eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft zur Förderung der Nachfrage hätten beitragen können.


Ein neuer sozialdemokratischer Ansatz für die Wirtschaftspolitik in der EU

Was ist also zu tun, um einen Wechsel in der europäischen Wirtschaftspolitik zu erreichen?

1. Eine bessere Qualität der Arbeit

Erstens sollten Wirtschaftspolitiker nicht nur die Bekämpfung der Inflation sondern auch die Schaffung von neuen und hochwertigen Jobs zu ihrem Ziel machen. In Großbritannien ging die Erholung mit der Schaffung von neuen Jobs im privaten Sektor einher, jedoch hat dabei gleichzeitig eine neue Form der Unterbeschäftigung zugenommen. Dieses relativ neue Phänomen ist auf den Druck von Großunternehmen in einem sehr schwachen Arbeitsmarktumfeld entstanden, um ein besonders flexibles Arbeitskräftereservoir vorzuhalten.

Der sogenannte "Null-Stunden-Vertrag", mit dem ein Arbeitsverhältnis ohne Garantie für die tatsächlich zu leistende und bezahlte Arbeitszeit, jedoch mit dem Verbot anderweitiger Beschäftigung eingegangen wird, führt bei den betroffenen Beschäftigten zu besonders prekären und verzweifelten Situationen. Diese Armuts-Verträge betreffen nicht nur kleine Teilbereiche der Wirtschaft, sondern drohen zur Norm in Großbritannien zu werden. So bietet die Supermarktkette "Iceland" nur noch Verträge für 7 Stunden pro Woche an, bei der alle darüber hinausgehenden Einsatzzeiten von der Laune des Vorgesetzten abhängen. Diese Verträge sind oftmals in weiblich dominierten Bereichen des Arbeitsmarktes zu finden, wie etwa im Einzelhandel, der Gastronomie und der Pflege. Die EU muss darüber nachdenken, wie sie solche Formen der Unterbeschäftigung bekämpfen kann, die eine starke Belastung von Menschen mit ohnehin schon sehr niedrigen Einkommen bedeuten.

Die Labour Party hat sich verpflichtet, gegen die "Null-Stunden-Verträge" vorzugehen und die schwierigsten Bedingungen für die Arbeitnehmer abzuschaffen, wenn sie die Regierung übernehmen sollte. Klar ist jedoch auch, dass diese Form von Arbeit letztlich in der gesamten EU verboten werden muss. Skrupellose Arbeitgeber haben von ihren spanischen und irischen Partnern gelernt, wie sie die Verzweiflung von ArbeitnehmerInnen ausnützen können und ohne europaweite Regelungen werden sie dies fortsetzen. Zusätzlich wird hier das Spektrum des "race to the bottom" deutlich, indem Firmen vor allem aus dem verarbeitenden Gewerbe mit Jobverlagerung in Staaten mit besonders unregulierten Arbeitsmärkten drohen.


2. Eine Wettbewerbspolitik für Innovation statt für Sklerose

Zweitens muss die Wettbewerbs- und Beschaffungspolitik der EU reformiert werden. Insbesondere in Großbritannien haben Großunternehmen ihre marktbeherrschende Stellung in zahlreichen Sektoren ausgeweitet. Statt Effizienz zu fördern, wurden so Innovation, Kreativität und letztlich Wachstum erstickt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist der Energiesektor in Großbritannien. Nach der Privatisierung wurde der Markt unter lediglich sechs Anbietern aufgeteilt, denen es meisterhaft gelang, die Konsumentenpreise zu erhöhen, ohne die dringend notwendige Umstellung auf eine kohlenstoffarme Energieversorgung anzugehen. Ed Miliband hat den Firmen mit einer zeitlich begrenzten Energiepreisbremse gedroht, bis der Energiesektor diesem Reformbedarf gerecht geworden ist. Hier ist nun die EU in der Pflicht, da ihr Fokus auf die Stärkung des Wettbewerbs im britischen Energiemarkt gescheitert ist. Die Firma EDF z.B. hat kürzlich erst erklärt, dass sie die Preise weniger stark als andere Firmen erhöhen werde, wenn die Regierung die Umweltsteuern auf Energie senkt. Diese Form des politischen Drucks von Seiten der Energieriesen ist erschreckend und zeigt die Konsequenzen der Eigentumskonzentration im britischen Energiesektor.

Auch nach der Privatisierung der gesamten Energieproduktion in Großbritannien (wobei nach wie vor bedeutende staatliche Subventionen in die Entwicklung der Atomkraft fließen) haben viele Energieunternehmen staatliche Miteigentümer, nicht zuletzt EDF. Dennoch sollten wir dafür sorgen, dass die EU-Regularien nicht dazu ausgenutzt werden, öffentliches Eigentum in diesem Bereich einzuschränken und darüber hinaus auch Strategien entwickeln, wie Genossenschaften und Kooperativen (mutuals) in der EU gestärkt werden können. Kooperative und genossenschaftliche Unternehmen müssen, auch wenn sie wie die Cooperative Group in Großbritannien nicht ohne Probleme durch die Krise gekommen sind, in Großbritannien und der EU weiterhin gefördert werden, da sie einen nachhaltigen, ethischen und demokratisch verantworteten Ansatz von Unternehmenseigentum darstellen.

Ein anderer Aspekt der EU-Politik - das öffentliche Beschaffungswesen - hat ebenfalls eher den Großunternehmen in Großbritannien genutzt als einen fairen Wettbewerb zu ermöglichen. Die Anforderungen an die Kommunen, bedeutende Verträge durch offene Ausschreibungen zu vergeben, hat dazu geführt, dass große Konzerne, die über die entsprechenden Ressourcen zur Bewältigung der komplizierten EU-Regularien verfügen, zahlreiche kleine Anbieter - viele von ihnen Genossenschaften oder gemeinnützige Unternehmen - im Bieterwettbewerb ausstechen können. Das System muss dahingehend reformiert werden, dass der Nutzen einer gemischten Wirtschaft und eines vielfältigen Angebots an öffentlichen Dienstleistungen für Innovationen und lokale Bedarfe anerkannt wird.

3. Mehr Macht für Konsumenten

Drittens muss es eine andere Verbraucherpolitik geben, die die Konsumentensouveränität zur Stärkung umweltfreundlicher, sozialer und Tierschutzstandards zu nutzen versteht. Die Öko-Zertifizierung bietet ein Beispiel, wie die EU die Menschen in die Lage versetzt hat, umweltfreundliche Kaufentscheidungen zu treffen. Viele Konsumenten würden sich auch für den Kauf von Kleidern und Textilien entscheiden, wenn sie durch entsprechende Zertifizierung erkennen könnten, dass diese ohne Kinderarbeit hergestellt wurden. Dies wird von Gewerkschaften schon seit vielen Jahren eingefordert. Generell könnte ein "fair work"-Label durch die EU eingeführt werden, das selbst als freiwilliges Instrument kenntlich machen könnte, dass das entsprechende Produkt unter sozialen Mindeststandards und zu angemessenen Löhnen hergestellt wurde.

Im Bereich des Tierschutzes und der Fleischzertifizierung gibt es bereits auch von Labour MdEP vorangetriebene Fortschritte. Im Kontext des Pferdefleisch-Skandals ergibt sich derzeit die Gelegenheit für die EU, die entsprechenden Standards in dem Sektor zu verbessern. Gleichzeitig sollte es britischen Beamten nicht möglich sein, unter Berufung auf EU-Recht kommunale Gesundheitsbehörden an einem Verbot für Lebendtiertransporte zu hindern. Demokratisch gewählte Politiker sollten in der Lage sein, den Wählerwillen - hier den Tierschutz - adäquat umzusetzen.


Sozialdemokraten sollten voneinander lernen

Sozialisten und Sozialdemokraten sollten sich über diese Aspekte hinaus enger abstimmen, um den derzeitigen Abwärtswettlauf bei Rechten und Standards zu stoppen. In den Debatten um die Anhebung des britischen Mindestlohnes auf ein angemessenes Niveau, das den Betroffenen ein wirkliches Auskommen sichert (living wage), sollte auch über den energischen Einsatz der SPD für einen Mindestlohn und weitere Instrumente gegen prekäre Beschäftigung in Deutschland informiert werden.

Britische Sozialdemokraten können außerdem viel von Deutschlands zunehmend grünem Energiesektor lernen, der zu relativ vertretbaren Preisen eine deutlich umweltfreundlichere Energieversorgung bereitstellt. Dies hebt sich von der Energiepolitik der konservativen britischen Regierung mit ihren neuen Initiativen für fossile und atomare Energiegewinnung ab, die jeden umweltfreundlichen Umbau unterlaufen und zu explodierenden Preisen führen.

Die britischen Diskussionen über Wirtschaftspolitik orientieren sich stark an dem US-Vorbild, anstatt von den sozialdemokratischen Freunden in Europa zu lernen, deren Gesellschaften und Volkswirtschaften der unseren viel ähnlicher sind. Seit die Lebensbedingungen der Menschen wie nie zuvor unter Druck geraten sind, ist es für Sozialdemokraten wichtiger denn je, Hand in Hand in ganz Europa für eine EU zusammenzuarbeiten, die für die Menschen da ist und nicht nur für Großunternehmen.


Die Herausforderung für die britische Sozialdemokratie

In Großbritannien ist es angesichts der tiefen Europaskepsis in der Öffentlichkeit und Teilen der politischen Elite äußerst wichtig, von Ideen und Ansätzen der anderen sozialdemokratischen Partner in Europa zu lernen. Die Debatte über die EU-Mitgliedschaft wurde maßgeblich von der politischen Rechten bestimmt, allen voran durch die konservativen Tories, die vehement einfordern, die europäischen Verträge neu zu verhandeln, um die sozialen und ökologischen Standards abzuschaffen, die jedoch auch britische ArbeiternehmerInnen im Rahmen des gemeinsamen Marktes schützen. Natürlich würde ohne diese Standards der europäische Binnenmarkt im Interesse der Großkonzerne und zuungunsten von Arbeitnehmern, Rentnern und den Schwächsten der Gesellschaft zurechtgebogen. Dennoch sind sich viele Menschen dessen nicht bewusst, da diese positiven Aspekte der EU in den Medien kaum eine Rolle spielen.

Wir müssen dieser Ablehnung des europäischen Integrationsprojekts entgegenwirken, indem wir bei jeder Gelegenheit die positiven Aspekte der EU insbesondere für ArbeitnehmerInnen hervorheben, ohne als Verteidiger derjenigen Entscheidungen der EU wahrgenommen zu werden, die in die falsche Richtung gehen. Wir sollten die sozialen Errungenschaften der EU wie etwa die Arbeitszeitrichtlinie verteidigen und die Auswüchse der austeritätsorientierten Rettungspolitik verurteilen. Britische Sozialdemokraten müssen sich dieser Herausforderung stellen, wenn wir verhindern wollen, dass sich Großbritannien isoliert und außerhalb der EU dem "race to the bottom" mit immer niedrigerem Lebensstandard, schlechterem Umweltschutz und der wachsenden Missachtung von sozialen Menschenrechten ausgeliefert ist.


Dr. Anneliese Dodds ist Dozentin für Public Policy und kandidiert 2014 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für die britische Labour Party in der Region South East England.

Übersetzung: Ole Erdmann

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 6/2013, Heft 199, Seite 27-30
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2014