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MELDUNG/007: Menschenrechtsgerichtshof beackert ostdeutsche Felder (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 337 - Oktober 2010,
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Menschenrechtsgerichtshof beackert ostdeutsche Felder
Die Flächenvergabepraxis der BWG und ihre Deckung durch deutsche Politik und Justiz beschäftigt Straßburger Richter

Von Claudia Schievelbein


Während Franz Joachim Bienstein die dies Jahr raren schönen Spätsommertage nutzt und Gerste drillt, rauchen weit weg im fernen Straßburg Juristen vielleicht gerade die Köpfe über seinem Fall. Im April 2010, genau ein Jahr, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein 50-jähriges Bestehen gefeiert hat, reichte der Bauer aus dem Mecklenburgischen seine Beschwerde dort ein. Und nun haben Bienstein, seine Unterstützer in der AbL und ihr Anwalt Thorsten Purps die Gewissheit, dass sich der Gerichtshof mit der Beschwerde auseinandersetzen wird. Sie prangert eine der weitreichendsten politischen Ungerechtigkeiten Nachwendedeutschlands an: die Art und Weise, wie eine vom Bund eingesetzte Treuhand-Gesellschaft - die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH, kurz BVVG - die bundeseigenen landwirtschaftlichen Flächen gezielt nur in Kreisen alter und neuer Agrarkader weitergegeben hat, diese über besonders günstige Kauf- und Pachtoptionen subventioniert und dafür umfangreiche Schützendeckung aus Politik und Justiz erhielt und nach wie vor erhält. "Das ist schon eine gewisse Überraschung, dass wir jetzt schon die Nachricht bekommen haben, dass die Beschwerde angenommen und die Bundesrepublik Deutschland zu einer Stellungnahme aufgefordert wurde", so Anwalt Purps. Daraus abzuleiten, dass der Gerichtshof der Angelegenheit eine gewisse Bedeutung beimisst, mag vielleicht vermessen sein, vielleicht aber auch zutreffend. Bei mehreren zehntausend neuen Beschwerden, die jedes Jahr in Straßburg eingereicht werden, muss man jedenfalls nicht mit einer schnellen Antwort rechnen.


Flächen für Kader

Umso erfreuter sind Bienstein und seine Mitstreiter, dass nun die Bundesregierung reagieren muss, wo doch jahrelang deutsche Gerichte nicht reagierten. Damit wären wir bei der Geschichte. Franz Joachim Bienstein gründete Anfang der 90er Jahre im Mecklenburg-Vorpommerschen Martensdorf einen landwirtschaftlichen Betrieb, indem er 90 Hektar Land kaufte und mit seinem Vater gemeinsam bewirtschaftete. Der Plan war, weitere Flächen von der BVVG als Verwalterin des Bundeseigentums dazuzukaufen, um den Betrieb zu erweitern. Mehrmals über Jahre hinweg stellte Bienstein Anträge, niemals wurden sie berücksichtigt. Dabei bekam der Bauer mehrmals mit, dass durchaus Flächen vorhanden gewesen wären bzw. Pachtverträge endeten. Und ihm wurde auch bewusst, dass es nicht nur ihn traf, andere Neu- und Wiedereinrichter hatten Ähnliches zu berichten. Von der BVVG mit Flächen zu zudem noch günstigen Konditionen bedient, wurden fast immer die LPG-Nachfolgegenossenschaften oder Betriebe, in denen nach wie vor die alten Kader etwas zu sagen hatten. Der Historiker Jens Schöne hat dazu mal in einem Interview gesagt: "Es ist sicher zu beobachten, dass es über 1989 hinaus eine hohe Elitenkontinuität in diesem Bereich gegeben hat. Wenn man in der DDR Karriere gemacht hat und nur das LPG-Modell kennt, dann hat man eine gewisse Präferenz dafür, mit Sicherheit findet man es dann merkwürdig, warum denn jetzt gerade irgendein Bauer wieder loslegen will mit 25 Hektar: Was soll das?"


Politik gebietet Schweigen

Franz Joachim Bienstein wollte das nicht hinnehmen. Er klagte vor dem Berliner Landgericht. Dies erkannte an, dass es eine beherrschende Stellung der BVVG in der Sache gebe und dass es zu Ungleichbehandlungen bei der Flächenvergabe komme, trotzdem urteilte es gegen Bienstein, da seine Anträge bei der BVVG sachlich geprüft und abgelehnt worden seien. Genau das zweifeln aber Bienstein und sein Anwalt Thorsten Purps an, da ihnen, so Purps, Schriftstücke vorlägen, die genau diesen Umstand der sachlichen Prüfung durch die BVVG widerlegten. Also riefen sie die nächste Instanz, das Kammergericht in Berlin, an. Dies nahm sich über vier Jahre der Sache überhaupt nicht an, bevor es schließlich ohne mündliche Verhandlung die Berufung ablehnte und ein Urteil gegen Bienstein fällte. Da hatten er und seine Mitstreiter sich bereits zu der Beschwerde wegen Verfahrensverschleppung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entschlossen. Dort geht es nun zwar auch um die Ungerechtigkeiten durch die BVVG, aber eben in erster Linie um die Art und Weise, wie die Justiz und in ihrem Hintergrund die Politik mit dem Fall umgegangen ist. Dass sich das Kammergericht nicht von ungefähr so lange Zeit gelassen hat, bevor es in der Sache Bienstein tätig wurde, steht sehr wahrscheinlich damit in Zusammenhang, dass die Bundesregierung jeden öffentlichen Wirbel um die Flächenvergabepraktiken der BVVG vermeiden wollte, um nicht die Aufmerksamkeit der EU-Kommission zu erregen, die die Thematik durchaus schon im Visier hatte. Schriftwechsel in Regierungskreisen betonen die Wichtigkeit, der Kommission zu signalisieren, dass sich im Lande kein Unmut diesbezüglich geregt hat und regt. Vielleicht hat auch deshalb der Menschenrechtsgerichtshof nun so schnell reagiert und die bundesdeutsche Politik zu einer Stellungnahme aufgefordert, weil ihm diese Brisanz offenbar ist.


Frage der Gerechtigkeit

"Gegenseite, Juristen und Politiker bestätigen eigentlich alle unsere Vorwürfe bezüglich der Ungleichbehandlung durch die BVVG, aber es geht um die Frage: Muss ich als Bürger das tolerieren?", sagt Bienstein und er sagt auch, dass er nach wie vor Vertrauen in die Justiz hat, wenn er auch die Verschleppungstaktik des Berliner Kammergerichts nicht akzeptiert. Deshalb haben er und seine MitStreiter sich zu einem weiteren Schritt entschlossen und auch eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. "Da hängen die Trauben hoch und wir wissen noch nicht, ob die Beschwerde angenommen wird", so Anwalt Purps, aber der Versuch sei es allemal wert. Schließlich ist alles eine Frage der Gerechtigkeit: Wie gerecht ist eine Justiz, die politischen Weisungen folgt, wie gerecht sind Behörden, die bestimmte politisch motivierte Entscheidungen treffen, wie gerecht ist ein agrarpolitischen System, das 80 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe von Begünstigungen ausschließt und damit über Subventionsnachteile Wettbewerbsverzerrungen produziert? Wettbewerbsverzerrungen produziert zu Gunsten einer ineffektiven, umweltzerstörenden Agrarindustrie und gegen eine arbeitsplatzschaffende, ressourcenschonende bäuerliche Landwirtschaft.


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 337 - Oktober 2010, , S. 3
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2010