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AGRAR/084: Mißernte - EU-Kommission beschwört das letzte Aufgebot (SB)


Alles weggefuttert

Keine Getreidereserven in der Europäischen Union

EU-Agrarkommissarin schlägt vor, auf bisherigen Stillegungsflächen Getreide anzubauen


Einst schwammen die Europäer in Milchseen und schnitten sich durch Butterberge, nur um sich an den dahinter auftürmenden Fleischbergen die Bäuche voll zu schlagen ... so lautet zumindest das geschönte Bild, das einst in Brüssel verbreitet wurde, um die Europäische Gemeinschaft als einzigartige Erfolgsgeschichte landwirtschaftlicher Produktivität zu preisen.

Die Märchenstunde ist vorbei. Vergangene Woche hat die EU-Kommission den Vorschlag unterbreitet, die zwanzig Jahre alte Bestimmung, derzufolge die Bauern in der Europäischen Union zehn Prozent ihres Lands brach liegen lassen müssen, aufzuheben. Denn es ist ein dramatischer Getreidemangel eingetreten, und die Getreidelager der EU sind weitgehend leer. Es gibt fast keine Vorräte mehr. Und nicht nur in Europa. Auch auf dem Weltmarkt herrscht ein eklatanter Mangel.

Das läßt sich an den rasch steigenden Preisen für Weizen, Mais und andere Getreidesorten ablesen. Inzwischen bekommt auch der Endverbraucher den Verteuerungstrend, der einige Monate lang auf die Getreidebörsen beschränkt geblieben war, zu spüren. In einer bislang einmaligen Aktion hat der Lebensmittel-Discounter Aldi eine ganze Werbeseite darauf verwendet zu erklären, warum er sich gezwungen sieht, einen erheblichen Teil der Lebensmittelpreise anzuheben. Andere Unternehmen schlossen sich der Verteuerung an.

In Deutschland seien aber auch die Lebensmittelpreise besonders niedrig gewesen, versuchten Politiker und andere sogenannte Experten die Preissteigerung für Milch, Butter, Quark, aber auch Brot und andere Lebensmittel zu rechtfertigen. In anderen EU-Mitgliedsländern würde im Verhältnis viel mehr für Lebensmittel ausgegeben.

Solche Aussagen vermögen angesichts der Not in eben jenen als Vorbild gepriesenen Ländern niemanden zu beruhigen. In Großbritannien beispielsweise sprach der führende Lebensmittelkonzern Premier Foods diesen Monat von einem "schändlichen Anstieg" der Rohstoffpreise und erklärte, daß die Tage billiger Lebensmittel vorbei seien. Die Anhebung der Preise folgte auf dem Fuße.

Der französische Landwirtschaftsminister Michel Barnier mußte vor kurzem die Verbraucher bereits zu Besonnenheit aufrufen, wobei seine Erklärungen eher das Gegenteil bewirkt haben dürften. Denn wenn der Landwirtschaftsminister eines Staates, der noch immer einen hohen Agraranteil hat, erklärt, es gebe "keinen Grund zu Panik", der Höhepunkt sei noch gar nicht erreicht (an dem die Weltmarktpreise auf die Verbraucherpreise durchschlagen), dann zeigt das umgekehrt zur Intention Barniers, wie dramatisch die Lage tatsächlich vorangeschritten ist.

Eine italienische Durchschnittsfamilie muß in diesem Jahr für Lebensmittel 700 Euro mehr aufbringen. In Italien kam es in der vergangenen Woche zum "Pasta-Streik", nachdem dort der Preis für Nudeln um 20 Prozent gestiegen war. Auch andere Grundnahrungsmittel wurden teurer. In rund 100 (!) Städten gab es Protestkundgebungen, und an dem landesweit ausgerufenen Einkaufsboykott beteiligten sich mehrere Millionen Einwohner.

In Bulgarien dürfte es demnächst zu noch heftigeren Demonstrationen kommen. Denn dort sind die Lebensmittelpreise binnen eines Jahres um 24,7 Prozent gestiegen, mit inflationärer Beschleunigung in den letzten Wochen. Die wichtigsten Grundnahrungsmittel werden für breite Bevölkerungsschichten unerschwinglich. Allein von August auf September dieses Jahres stieg der Preis für Fleisch um 12 Prozent, für Brot um 14 Prozent, für Käse um 20 Prozent, für Sonnenblumenöl um 21 Prozent, für Kartoffeln um mehr als 25 Prozent und für Eier um 27 Prozent (Junge Welt, 19.9.2007). In Bulgarien wie auch bei seinem Nachbarn Rumänien wurde in der zurückliegenden Saison nur halb so viel Weizen geerntet wie in früheren Jahren.

Die nächste Eskalationsstufe nach Demonstrationen wären Plünderungen, Barrikadenbau und Hungeraufstände. Das weiß auch die Europäische Union. Deshalb sucht sie nach Möglichkeiten, diese Entwicklung abzumildern. Auf jenen zehn Prozent Stillegungsfläche soll demnächst Getreide angebaut werden dürfen. EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer-Boel geht davon aus, daß dadurch bereits im kommenden Jahr bis zu 17 Millionen Tonnen mehr Weizen, Hafer und Gerste angebaut werden (The Guardian, 14.9.2007).

Offensichtlich hat es die EU-Kommissarin ziemlich eilig. Sie appellierte an die 27 Regierungen und Parlamentarier der Europäischen Union, ihre Vorschläge so schnell wie möglich in nationale Gesetze umzusetzen. Dann könnten die Landwirte etwa 2,9 Millionen Hektar von gegenwärtig 3,8 Millionen Hektar Stillegungsfläche bewirtschaften und zehn bis 17 Millionen Tonnen Getreide produzieren. Die Getreidepreise hätten ein historisches Hoch erreicht, während die Versorgungslage immer enger werde, erklärte Fischer-Boel. Sollte es 2008 eine schlechte Ernte geben und dann immer noch zehn Prozent der Agrarfläche brach liegen, würde das den Binnenmarkt einem potentiell ernsthaften Risiko aussetzen.

Übersetzt man diese Aussage aus der Verwaltungssprache in eine allgemeinverständliche, so sagt die EU-Kommissarin damit, daß die EU-Bürger (Binnenmarkt) mit Nahrungsknappheit oder Hunger (ernsthaftes Risiko) rechnen müssen.

Der Anbau von Pflanzen zur Biotreibstoffgewinnung ist zwar ein Faktor, der zum Anstieg der Weltmarktpreise geführt hat, aber das allein kann auf keinen Fall die Steigerungsraten in der EU erklären. Denn die Mitgliedsländer betreiben vor allem Binnenhandel, und die Bauern in der Union haben bislang lediglich 1,7 Prozent ihres Ackerlands für die Biotreibstoffproduktion bewirtschaftet. Natürlich wird sich das ändern, denn die EU hat sich das vor dem Hintergrund der jetzt schon emporschnellenden Lebensmittelpreise nur als irrsinnig zu bezeichnende Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 zehn Prozent seines Energiebedarfs durch Biotreibstoffe abzudecken.

Vor allem aber sind in den letzten Jahren klimatisch bedingte Faktoren für den Getreidemangel verantwortlich. "2006 verzeichneten wir die weltweit tiefste Weizenernte seit 40 Jahren", sagte Pius Eberhard, Leiter des Bereichs Brotgetreide und Ölsaaten bei dem größten Schweizer Getreidehändler Fenaco (Neue Zürcher Zeitung, 19.8.2007). In diesem Jahr sieht es noch schlechter aus. Dazu gesellt sich jener weltweite Trend zur Biotreibstoffproduktion, die jährlich um 80 bis 90 Millionen Einwohner wachsende Zahl der Weltbevölkerung und ein verändertes Konsumverhalten in Asien - insbesondere in China.

Die Getreidemenge der EU-Länder wird in diesem Jahr noch unterhalb des bereits schlechten Vorjahres sinken. 2006 wurden 266 Millionen Tonnen Getreide erzeugt. Die EU-Reserven sind von einstmals 14 Millionen Tonnen auf 5 Millionen Tonnen (2006) und inzwischen rund eine Million Tonnen geschrumpft.

19. September 2007