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AGRAR/087: EU-Kommission von Preisentwicklung überrascht (SB)


Agrarexperten sehen in teureren Lebensmitteln einen neuen Megatrend

EU-Kommissarin Fischer Boel beschwört Marktmechanismen und ignoriert damit die Not eines Millionenheers von Hungernden weltweit


Die Agrarexperten der Europäischen Union wurden anscheinend von der Verteuerung von Getreide und Lebensmittel im vergangenen Jahr überrascht. Diesen Eindruck erzeugte zumindest die EU-Kommissarin Mariann Fischer Boel am heutigen Freitag in ihrer Rede bei einem Treffen mit der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie in Berlin. Jahrzehntelang seien die niedrigen Erzeugerpreise ein Problem für die Agrarpolitik gewesen, ein "ständiger Mühlstein" um den Hals der Entscheidungsträger. Doch dann:

"Plötzlich hat sich die Lage unübersehbar gewandelt - fast über Nacht. Ich frage mich, wer von Ihnen dies vor zwölf Monaten vorausgesehen hätte. Der Preisanstieg in 2007 stach ins Auge. Innerhalb eines Jahres erlebten wir in der Europäischen Union eine Verteuerung von 80 Prozent für Weizen, 50 Prozent für Mais, 50 Prozent für Butter und 80 Prozent für Magermilchpulver." [1]

Gestern gab der Industrieverband Agrar e. V. in Frankfurt am Main eine Presseerklärung unter dem Titel "Teurere Lebensmittel: Neuer Megatrend auf den Weltagrarmärkten" heraus. Laut einer Prognose von Prof. Harald von Witzke von der Humboldt-Universität Berlin, der im Auftrag des Verbands die Entwicklungstendenzen auf den Weltagrarmärkten untersucht hatte, werde es "die große Herausforderung für die Landwirtschaft" sein, die Ernte zu steigern. Lebensmittel zu "Schleuderpreisen" werde es künftig nur in Ausnahmen geben, der Preistrend bei Agrarprodukten zeige nach oben. Von Witzke geht zwar nicht davon aus, daß sich die hohen Steigerungsraten des vergangenen Jahres fortsetzen werden, aber "eine weitere moderate Aufwärtsentwicklung" werde die vor uns liegende Dekade bestimmen, ist der Agrarexperte überzeugt.

Wenn aber zutrifft, was die EU-Kommissarin in ihrer Rede vor dem Bundesverband der Deutschen Ernährungsindustrie erklärte, daß es im vergangenen Jahr zu einem abrupten Preisanstieg gekommen war, mit dem selbst Experten nicht gerechnet hätten, dann wird der Glaube an die prognostischen Fähigkeiten jener Fachleute ziemlich getrübt.

Selbstverständlich wird die Beobachtung des Trends nicht zum Ergebnis haben, daß die Agrar- und Lebensmittelpreise in den nächsten Jahren drastisch steigen werden. Die plötzliche Verteuerung in 2007 erscheint für einen Statistiker als Ausrutscher, der kann nicht Grundlage seiner Prognose sein. Dennoch kann sich das gleiche in diesem Jahr wiederholen, und zwar nicht aus dem Grund, weil die Zukunft sowieso unberechenbar ist, sondern weil wesentliche Voraussetzungen dies zulassen.

Die Weltbevölkerung nimmt täglich um mindestens 212.000 Menschen zu, die alle ernährt werden wollen. Zudem kann sich ein wachsender Teil der Menschheit (Unter anderem in China und Indien) eine qualitativ hochwertigere Ernährung wie Fleisch leisten. "Hinzu kommt die Flächenkonkurrenz durch nachwachsende Rohstoffe", wie von Witzke bei der Vorstellung seiner Prognose anmerkte. Die Flächenreserve betrage weltweit aber nur noch fünf Prozent.

Es besteht zwar die theoretische Möglichkeit, sämtliche Regenwälder abzuholzen, um die landwirtschaftliche Fläche auszudehnen, aber das wäre nun wirklich nicht zu empfehlen, denn Regenwald ist ein weltweit wichtiger Klimafaktor und damit eine Voraussetzung, damit überhaupt erst die gegenwärtigen Agrarerträge ermöglicht werden. Vereinfacht gesagt: Ohne Regenwald kein Wald und auch kein Regen.

Eine Reihe von Staaten hat bereits auf die Verteuerung der Agrarprodukte reagiert. Einige versuchen, ihre Lager aufzufüllen, andere verhängen Exportrestriktionen, wiederum andere versuchen, über eine Förderung von Subventionen des Getreideanbaus die eigene Ernte zu steigern. Die Europäische Union hat zum einen ihre Interventionsreserven auf den Markt geworfen, um den Preisanstieg, der lediglich bei Lebensmitteln in der zweiten Hälfte des letzten Jahres gewaltig stieg, hingegen an der Chicagoer Börse, dem weltweiten Hauptumschlagplatz für Getreide, schon längere Zeit vorher bemerkbar war, zu dämpfen. Außerdem soll die Begrenzung durch die Milchquote auslaufen; das System der Flächenstillegung wurde ausgesetzt und die Importzölle für fast alle Getreide wurden aufgehoben.

Zusammengefaßt kann man sagen, daß die EU bereits weitreichende Maßnahmen zur Sicherung der Preisentwicklung und Versorgung der Bevölkerung ergriffen hat. Falls aber die kommende Ernte in der Europäischen Union verhagelt wird, welche Möglichkeiten hätten Brüssel und die einzelnen Mitgliedsländer, darauf zu reagieren? Eine ähnliche Frage stellte Fischer Boel in ihrer Rede vor dem Bundesverband der Deutschen Ernährungsindustrie ... und blieb die Antwort schuldig.

Statt dessen wich sie aus und erklärte, was die EU bereits alles an Maßnahmen unternommen hätte. Für die Zukunft, riet sie, solle man vermeiden, "zu viel zu machen". Die EU-Kommissarin setzt auf die Kraft der Märkte. Wenn die Preise steigen, müsse man den Landwirten und der Lebensmittelindustrie die Chance einräumen zu reagieren. Die Politik könne dazu beitragen, den Vorgang weicher und wirksamer zu gestalten:

"Wenn ein bestimmtes Element unserer Politik die Bauern tatsächlich daran hindert, auf eine deutliche Nachfrage zu antworten, sollte man das Hindernis aus dem Weg räumen." [1]

Gemeint ist damit unter anderem die Aufhebung der Milchquotenregelung bis 2015. Fischer Boel wiederholte ihren Vorschlag, von April dieses Jahres an die Milchquote um zwei Prozent zu erhöhen. Ansonsten sprach sie sich gegen Interventionen aus, es sei denn als Sicherheitsnetz, falls alle Stricke reißen. Die EU-Kommission beobachte die Preisentwicklung sehr genau, und wenn tatsächlich der Eindruck aufkäme, daß die Situation völlig außer Kontrolle gerät, werde sie sich nicht zurücksetzen und nichts tun, beteuerte Fischer Boel.

Das klingt vernünftig, nur beantwortet sie ihre eigene Frage nicht, was genau die EU-Kommission noch machen könnte, um eine außer Kontrolle geratene Preisentwicklung zu stoppen. Wird sie, wie die Regierung Rußlands, Ausfuhrverbote verhängen oder die Supermarktketten dazu anhalten, die Preise nicht zu erhöhen?

Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum denn überhaupt Marktmechanismen beschworen werden, wenn sie versagen und am Ende doch dirigistische Maßnahmen ergriffen werden müssen, um Schlimmeres zu verhindern. Offensichtlich funktioniert der sogenannte Markt gar nicht so gut, wie von Politik und Wirtschaft behauptet, genauer gesagt, er funktioniert überhaupt nicht. Das wird am Beispiel der Lebensmittelversorgung deutlich: Weltweit sind nach UN-Angaben 854 Millionen Menschen mangelernährt oder leiden Hunger. Es besteht also ein gewaltiger Bedarf nach Nahrung. Wieso wird er nicht gestillt, wenn es einen Markt gibt?

Fischer Boel scheint das Problem des Nahrungsmangels ganz entspannt zu sehen. Sie erklärte sogar, daß die höheren Preise für die Entwicklungsländer "bedeutend" sind:

"Obwohl hohe Preise in manchen Fällen Probleme verursachen, könnten sie in vielen ärmeren Ländern ein nützlicher Stimulus für Landwirtschaft sein. Und dieser Stimulus wird besonders wertvoll sein, wenn die betroffenen Länder die passende technische Hilfe erhalten - die Art von Hilfe, die die Europäische Union weiterhin mit ihrer Entwicklungspolitik liefert." [1]

Wir wissen nicht, was sich die EU-Kommissarin vorstellt, was "manche Fälle" sind, möchten jedoch ihren Schwur auf den wie eine Monstranz angebeteten "Markt" abschließend damit kommentieren, daß dieser Markt dafür sorgt, daß Tag für Tag mehrere zehntausend Menschen verhungern. Die Europäische Union kann sich aus ihrer Mitverantwortung für ein System, daß dies zuläßt, nicht davonstehlen.


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Anmerkungen: [1] http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference= SPEECH/08/22&format=HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=en

18. Januar 2008