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DILJA/009: Tötungslizenz zu Zwecken der Aufstandsbekämpfung in Europa - Teil 2 (SB)


Mit der Lizenz zum Töten - Aufstandsbekämpfung wie in den Staaten Nordafrikas in der Europäischen Union rechtlich undenkbar?

Die administrativen Bereitstellungen für einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung sind weiter fortgeschritten, als es das weitverbreitete Vertrauen in rechtlichen Schutz vermuten lassen würde

Teil 2: Stellt das bundesdeutsche Grundgesetz eine juristisch unüberwindliche Hürde für die Todesstrafe dar? Welche rechtlichen Regelungen gibt es für staatlich legitimiertes Töten?


Würde unter den Bewohnern der europäischen Staaten, die Mitglied des Europarats sind, eine Umfrage gemacht werden zu der Frage, ob die Europäische Konvention für Menschenrechte einen umfassenden und bedingungslosen Schutz vor der Todesstrafe bietet, welches Ergebnis würde sie wohl haben? Im ersten Reflex, ohne nähere Kenntnisse und genaugenommen aufgrund unüberprüfter Annahmen würden, so darf an dieser Stelle ungeachtet der generellen Nutzlosigkeit jedweder Spekulationen einmal gemutmaßt werden, würden wohl nicht wenige Menschen dies mit großer Selbstverständlichkeit annehmen. Die Todesstrafe ist mit den Werten und Traditionslinien, die gerade die europäischen Staaten, die sich als Keimzelle von Demokratie und Freiheit schlechthin verstanden wissen wollen und in diesem Punkt in eine gewisse Konkurrenz zu den USA treten, die mit ihren globalhegemonialen Bestrebungen und ihrem spezifischen Sendungsbewußtsein eine ähnlich gelagerte Führungsrolle zu beanspruchen sich angewöhnt haben, vollkommen unvereinbar.


Wie "endgültig" ist die Todesstrafe in Deutschland abgeschafft?

Für die Bundesrepublik Deutschland gilt dies nicht minder, für die Todesstrafe ist in ihr kein Platz. Derzeit. Das Grundgesetz ist in diesem Punkt unmißverständlich, heißt es doch in Art. 102 GG: "Die Todesstrafe ist abgeschafft." Formal- bzw. sprachlogisch ließe sich daraus die theoretische Möglichkeit einer Wiedereinführung ableiten. Wenn etwas abgeschafft wurde, kann es dann nicht auch wieder "angeschafft" werden? Die Abschaffung der Todesstrafe wurde eigens ins Grundgesetz hinein- und damit scheinbar festgeschrieben; gleichwohl könnte sie durch eine Verfassungsänderung, wie sie das Grundgesetz unter bestimmten Voraussetzungen generell ermöglicht, auch wieder aufgehoben werden. Gänzlich auszuschließen ist dies verfassungsrechtlich nicht. In Art. 79 GG ist in den Absätzen 1 und 2 dargelegt, auf welche Weise das Grundgesetz in seinem Wortlaut geändert werden kann. Ausgenommen sind von dieser Möglichkeit nach Art. 79 Abs. 3 GG, der sogenannten "Ewigkeitsgarantie", lediglich die föderale Struktur der Bundesrepublik sowie der in den Art. 1 bis 20 GG niedergelegte Kernbereich der Verfassung, heißt es doch dort (Art. 79 Abs. 3 GG):

Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 bis 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.

Das schließt die Grundrechte ebenso ein wie das in Art. 20 Abs. 1 GG niedergelegte Rechts- und Sozialstaatsprinzip ("Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat"), nicht jedoch die in Art. 102 GG verankerte Abschaffung der Todesstrafe. Gibt es vielleicht innerhalb dieses besonders geschützten Kernbereichs der Verfassung (Art. 1 bis 20 GG) eine Bestimmung, die die Aufhebung der Abschaffung und damit die Wiedereinführung der Todesstrafe "auf ewig" und unter allen nur denkbaren Umständen, Voraussetzungen und Bedingungen unmöglich macht?


Das "Recht auf Leben" gilt keineswegs absolut

Innerhalb der Grundrechte, genauer gesagt in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, wird das Recht auf Leben postuliert ("Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit"). Doch wo ein Recht - und sei es in dem in einem Rechtsstaat denkbar höchsten hoheitlichen Akt, nämlich die Verfassungsgebung, gewährt wird, kann es, abermals formallogisch argumentiert, auch wieder genommen werden. In diesem Fall haben die sprichwörtlichen "Väter und Mütter" des Grundgesetzes in das Verfassungswerk gleich eine Hintertür miteingebaut. So steht in Art. 2 Abs. 2 GG im ersten Satz, daß jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit habe und im zweiten, daß die Freiheit der Person unverletzlich sei. Dann jedoch, im dritten Satz, kommt die Ausnahmeoption, heißt es doch dort: "In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden."

Die deutsche Verfassung gewährt das Recht auf Leben im Rahmen eines allgemeinen Freiheitsrechts also keineswegs absolut, bedingungslos und mit Ewigkeitscharakter, sondern stellt etwaige Einschränkungen oder Aufhebungen unter einen Gesetzesvorbehalt. Dies hört sich an dieser Stelle vielleicht spektakulärer an, als es ist. Es würde keine Gefängnisse und sonstigen freiheitsberaubenden Anstalten in der Bundesrepublik Deutschland geben können, wäre die im zweiten Satz dieses Grundrechtsartikels formulierte Unverletzlichkeit der Freiheit der Person tatsächlich ohne Ausnahmeregelung geblieben. Kein Freiheitsentzug ohne gesetzliche Grundlage, wäre die griffige Formel, doch könnte, ebenso "locker", auch das Recht auf Leben aufgehoben werden? Dies ist im Grunde längst geschehen. So halten die Polizeigesetze aller Bundesländer und Stadtstaaten entsprechende Regelungen bereit.

In ihnen wird die "Anwendung unmittelbaren Zwangs" geregelt, worunter auch der Schußwaffengebrauch der Polizei oder anderer Vollzugsorgane gegen Menschen subsumiert wird. Der Einsatz potentiell tödlicher Gewaltmittel ist allerdings relativ engen Grenzen unterworfen, die jedoch ebensowenig wie der Grundrechtsschutz ein absolutes Hindernis darstellen. So darf die Polizei nach den Bestimmungen der weitgehend übereinstimmenden Polizeigesetze der Länder Schußwaffen einsetzen, um einen Menschen angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. Im Zweifel- und Streitfall obliegt die Auslegung und konkrete Anwendung bzw. die rechtliche Bewertung der polizeilichen Umsetzung allein den zuständigen Gerichten bis hin zum Bundesverfassungsgericht, also der Judikative, die als eine der drei Säulen der zumindest theoretisch dreigeteilten Staatsgewalt im Spannungs- und Konfliktverhältnis zwischen Obrigkeit und Bürger eindeutig der Position der Staatsgewalt zuzuordnen ist und in diesem Sinne aller Erfahrung nach auch zu entscheiden und ihre Prioritäten zu setzen gewohnt ist.

Nach den Polizeigesetzen ist es der Polizei auch verboten zu schießen, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit Unbeteiligte gefährdet werden würden. Doch auch hier besteht ein Schlupfwinkel, denn als Ausnahme gilt, wenn es sich beim Einschreiten gegen eine Menschenmenge nicht vermeiden läßt, Unbeteiligte zu gefährden. Da das Vorgehen der Polizei wie jedes Handeln staatlicher Gewaltorgane dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet ist, dürfen Schußwaffen gegen eine Menschenmenge nur eingesetzt werden, wenn andere Zwangsmittel nicht zum Ziel führen oder offensichtlich wirkungslos wären und wenn aus der Menschenmenge heraus Gewalttaten begangen werden oder unmittelbar bevorzustehen scheinen [1]. Dies klingt aus Sicht besorgter Bürger und Bürgerinnen nicht unbedingt beruhigend, zumal in strittigen Auslegungsfragen die eine staatliche Instanz (die Gerichte) über das Vorgehen einer anderen (der Polizei) zu entscheiden hat, während die Bevölkerung, immerhin der eigentliche Souverän, weder auf die eine noch die andere Instanz unmittelbaren Einfluß oder direktdemokratische Kontrollmöglichkeiten hat.

Das Grundvertrauen vieler Bürger und Bürgerinnen in Verfassung und Staatsordnung scheint fundamentaler zu sein, als es die tatsächliche (verfassungs-) rechtliche Lage gewährleistet. Dieses Sicherheitsgefühl korrespondiert mit dem gegenwärtigen Stand innenpolitischer Auseinandersetzungen wie auch der bisherigen Repressionsgeschichte der zunächst Bonner, dann Berliner Republik. Wahllos in Demonstrationen hineinzuschießen ist selbst dann, wenn sich zwischen ihren Teilnehmern und der Polizei gewaltsame Auseinandersetzungen entwickeln, einfach nicht üblich. Würde jedoch im Zuge einer massiven Verschärfung der innenpolitischen Gesamtlage das Niveau polizeilicherseits zum Einsatz gebrachter Zwangsmittel über die bislang respektierte Grenze tödlich wirkender Waffen angehoben werden, müßten die Polizeigesetze nicht gebrochen und im Anschluß neu geschrieben werden, und auch die Gerichte würden aller Voraussicht nach im Sinne der Staatsraison tätig werden und die gesetzlichen Ausnahmeregelungen als gegeben anerkennen und damit den Schußwaffeneinsatz rechtfertigen.

Für eine Tötung fernab einer solchen konfrontativen Situation, sprich die Todesstrafe, gibt es in der heute gültigen Fassung des Grundgesetzes keine Option. Die Annahme allerdings, die Verfassung würde quasi aus sich heraus diesen Status Quo für alle Zeiten und in allen nur vorstellbaren Fällen aufrechterhalten, entbehrt, wie eingangs dargelegt wurde, einer realen Basis. Aus aktuellem Anlaß, da die Tötung eines Menschen, der der Al-Kaida-Anführer Osama bin Laden gewesen soll, aufgrund der Äußerungen bundesdeutscher Politiker und namentlich von Bundeskanzlerin Angela Merkel auch hierzulande für erhebliches Aufsehen und kontroverse Debatten geführt hat, sei an dieser Stelle die Frage aufgeworfen, wie es denn nach deutschen und internationalem Recht um das Recht eines Staates, einen Menschen außerhalb des eigenen Territoriums zu töten, bestellt ist.


Gibt es ein Tötungsrecht des Staates gegen Menschen im Ausland?

Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, beantwortete diese Frage in einem Spiegel-Interview mit einem unverblümt-bedingungslosen Ja. Auf die Frage, ob ein "demokratisches Land töten [darf], ohne Prozess, ohne Gerichtsurteil" antwortete er [2]:

Die Antwort darauf ist ein uneingeschränktes Ja. Die Demokratie ist, neben der Monarchie und der Aristokratie, eine Form der Ausübung der Herrschaft. Diese Herrschaft darf entschlossen sein, selbstverständlich das Leben der eigenen Bürger schützen und dazu bereit sein, das Leben ihrer Feinde zu nehmen. Bei der Tötung Bin Ladens stellt sich aber diese Frage überhaupt nicht - wenn man der Darstellung der Amerikaner glaubt, haben die US-Spezialkräfte Bin Laden aufgefordert, sich zu ergeben. Das wollte er nicht und deshalb hat ihn dasselbe Schicksal ereilt, das etwa einen Mafiachef in Deutschland oder Italien ereilen würde.

Ein uneingeschränktes "Ja" auf die Frage, ob ein "demokratisches Land" ohne Prozeß und Gerichtsurteil töten darf, stammt wohl nicht ohne Grund von einem Politikwissenschaftler, der es zudem unterläßt, für seine rechtliche Einschätzung eine Quelle, sprich eine Rechtsgrundlage anzugeben. Er behauptet schlicht, "diese Herrschaft darf entschlossen sein, selbstverständlich das Leben der eigenen Bürger zu schützen und dazu bereit zu sein, das Leben ihrer Feinde zu nehmen". Was Münkler damit postuliert, ist der permanente Kriegszustand bzw. eine generelle Kriegserklärung, die allerdings in ihrer Realität bzw. Realisierung nur von den Staaten oder Staatengruppen in Anspruch genommen werden kann, die das militärische Echo ihrer zu Feinden erklärten Zielpersonen nicht zu fürchten haben. Der Rechtsstaat allerdings wird dabei in seinen Grundfesten aufgekündigt. Mag dies (noch) die Einschätzung eines Politikwissenschaftlers sein, steht doch zu befürchten, daß dieser sich einig wissen kann mit den maßgeblichen Kräften, die die Militarisierung der Politik vorantreiben und dazu, quasi im Vorbeiflug, die rechtlichen Fesseln abstreifen, so als hätte es sie nie gegeben.

Wenig Resonanz wird deshalb in der öffentlichen Debatte und den vorherrschenden Medien die Position jener Juristen erzielen können, die dieser Entwicklung schon allein deshalb entgegentreten, weil sie den Status Quo bewahren wollen und nicht bereit sind, die Aufkündigung rechtstaatlicher Prinzipien wort- und widerspruchslos hinzunehmen. Einer von ihnen ist Martin Wenning-Morgenthaler. Er ist Richter am Landesarbeitsgericht in Berlin/Brandenburg und Mitglied im Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung und hat sich gegenüber der jungen Welt zur Frage der gezielten Tötungen in gänzlich anderer Weise als Münkler geäußert [3]:

Die gezielte Tötung eines Menschen ist - abgesehen von Notwehr - niemals gerechtfertigt, gerade in diesem Fall hätten die Grundprinzipien des Rechtsstaats gewinnen müssen. Ein demokratischer Staat sollte mit seinen Gegnern rechtsstaatlich umgehen und nicht im gleichen Maß zurückschlagen, wie er es den Terroristen vorwirft. Der Staat muß diese Angelegenheit mit den in der Verfassung festgelegten Regeln handhaben. Auf jeden Fall hätte bin Laden festgenommen werden, und er hätte ein Gerichtsverfahren bekommen müssen. Nach unseren Rechtsprinzipien kann nur nach einem rechtsstaatlichen Verfahren eine Strafe verhängt werden. Das trifft auch für die USA zu: Selbst wenn ein Land die von der Neuen Richtervereinigung abgelehnte Todesstrafe noch haben sollte, darf diese jedoch nur nach rechtsstaatlichen Prinzipien verhängt werden.

Wenn sich auch in der Bundesrepublik Deutschland de facto der Standpunkt durchsetzt, daß Tötungen von zu Feinden erklärten Menschen ohne Gerichtsverfahren legitim seien, auch wenn die sogenannten Buchstaben von Gesetz, Verfassung und internationalem Kriegsvölkerrecht dies nicht decken, stellt dies eine Erosion vormals behaupteter Rechtsstaatlichkeit dar, deren Folgen derzeit noch überhaupt nicht abzusehen sind. Anzunehmen, daß diese Folgen den innerstaatlichen Bereich ausklammern würden, da in ihm nach wie vor die Verhältnisse gelten würden, so wie die Bundesbürger sie gewohnt sind, offenbart in erster Linie den Wunsch, daß dies so sei. Diese Fragen berühren unterdessen keineswegs nur die bundesdeutsche Rechtslage, sondern auch den europarechtlichen Bereich, da dessen Bestimmungen und Regelungen hier relevant sein und werden könnten. Thema des nächsten Teils dieser Reihe werden die Europäische Menschenrechtskonvention und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein.

Teil 3: Welche Rolle spielen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bzw. die Europäische Menschenrechtskonvention bei der Frage nach einer hoheitlichen Tötungslizenz in Europa?

Anmerkungen:

[1] Stichwort: Waffengebrauch der Polizei und anderer Vollzugsorgane. Rechtswörterbuch, 15. Auflage, 1999, C.H. Beck'sche Verlagsanstalt

[2] "Natürlich darf eine Demokratie töten". Interview mit Herfried Münkler, von Anna Reimann. Spiegel online, 03.05.2011,
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,760334,00.html

[3] "Gezielte Tötung ist niemals gerechtfertigt". Richter kritisieren Schadenfreude von Merkel und Co. angesichts der Ermordung bin Ladens. Gespräch mit Martin Wenning-Morgenthaler, von Gitta Düperthal, junge Welt, 05.05.2011. S. 2,
http://www.jungewelt.de/2011/05-05/008.php

12. Mai 2011