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PARTEIEN/279: Krawall um den Union Jack am Belfaster Rathaus (SB)




Krawall um den Union Jack am Belfaster Rathaus

Loyalistische Chaoten feiern auf ihrer Weise vorzeitig Weihnachten

Am Abend des 3. Dezember ist es auf dem Gelände der Belfaster City Hall zu schweren Ausschreitungen gekommen. Hunderte aufgebrachte protestantische Unionisten konnten von der Polizei nur mit großer Mühe daran gehindert werden, das Rathaus der größten Stadt im irischen Norden zu stürmen. Anlaß des Protests war die Entscheidung der Ratsmitglieder, die britische Staatsflagge, den Union Jack, nicht wie bisher an allen 365 Tagen im Jahr, sondern lediglich an 17 Feiertagen und bei besonderen Anlässen, wie dem Geburtstag des englischen Monarchen, derzeit Königin Elizabeth II, zu hissen. In einer Zeit, in der IRA-Dissidenten immer aktiver werden, könnte die Unzufriedenheit der Loyalisten mit der teilweisen Verbannung ihres wichtigsten Symbols von einem der prestigeträchtigsten Orte in ganz Nordirland, nämlich vom Mast des Rathaus in der Provinzhauptstadt, zu Attentaten auf katholisch-nationalistische Mitbürger führen.

Seit der Einweihung von Belfast City Hall im Jahr 1906 wehte jeden Tag über der Kuppel des edwardianischen Prachtbaus ein großer Union Jack. Damals war Belfast mit seinem Schiffsbau - Stichwort Titanic - noch vor dem Verwaltungszentrum Dublin die wohlhabendste und bevölkerungsreichste Stadt Irlands. Von der Stadt am Fluß Lagan ging die Kampagne aus, die Absicht der britischen Regierung, die damals von der nationalistisch-katholischen Mehrheit Irlands geforderte Teilautonomie innerhalb des Vereinigten Königreichs zu gewähren, zu vereiteln. Im Oktober 1912 unterzeichneten Hunderttausende nordirische Protestanten den sogenannten Ulster Covenant und verpflichteten sich damit, sich notfalls mit Waffengewalt einer irischen Regierung aus Dublin zu widersetzen. Zu diesem Zweck besorgten sie sich größere Mengen Gewehre und Munition aus dem kaiserlichen Deutschland. Der provokante Schritt der Unionisten, der von der konservativen Opposition im Londoner Parlament und der britischen Generalität unterstützt wurde, löste eine Verfassungskrise aus, die erst durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 an Bedeutung verlor.

Später, nach dem irischen Unabhängigkeitskrieg 1919-1921, wurde die grüne Insel wegen des anhalten Widerstands des protestantisch dominierten Nordens, Teil des neuen "Freistaats" zu werden, geteilt. Bis zum Ausbruch der sogenannten "Troubles" 1969 wurde der Ministaat Nordirland von der unionistischen Mehrheit in ihrem Sinne regiert. Protestanten wurden auf allen Ebenen, sowohl in der Privatwirtschaft als auch im Staatsdienst, begünstigt und Katholiken als potentielle Verräter an der britischen Krone diskriminiert. Doch bereits 1997, also ein Jahr vor der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens zur Beendigung des Bürgerkrieges, haben die protestantischen Parteien, die Ulster Unionist Party (UUP) und die Democratic Unionist Party (DUP) wegen des Bevölkerungswandels in Belfast erstmals die absolute Mehrheit im Rathaus verloren. Dadurch bekam die Stadt mit Alban Maginness von der Social Democratic Labour Party (SDLP) erstmals einen katholischen Bürgermeister.

Bei den Kommunalwahlen 2011 haben die katholisch-nationalistischen Parteien erstmals die Mehrheit der 51 Sitze im Rathaus erobert. Die IRA-nahe Sinn Féin wurde mit 16 Sitzen stärkste politische Kraft vor der DUP mit 15, der SDLP mit 8, der UUP mit 3, der Progressive Unionist Party (PUP) mit 2 sowie der überkonfessionellen Alliance Party mit 1. Dazu kamen 6 parteilose Ratsmitglieder. Seitdem haben sich Sinn Féin und die SDLP daran gesetzt, das Hissen des Union Jacks über der City Hall einzuschränken. Doch statt diese Gepflogenheit gänzlich abzuschaffen, haben sie sich auf einen Kompromißvorschlag der Alliance Party eingelassen: die Verwendung der britischen Staatsflagge jener restriktiven Praxis anzupassen, die im Zuge des sogenannten Friedensprozesses im nordirischen Parlament im nahegelegenen Schloß Stormont gepflegt wird. Am Abend des 3. Dezembers war es soweit. Mit 29 zu 21 Stimmen wurde der entsprechende Antrag von Sinn Féin und der SDLP verabschiedet.

Die Unionisten hatten sich bereits im Vorfeld auf die sich abzeichnende Demütigung vorbereitet und mit Flyern, Facebook-, SMS- und Twitternachrichten rund 1500 loyalistische Krawallbrüder zusammengetrommelt, die sich zur geeigneten Stunde auf dem Platz vor der City Hall versammelten, um ihren Unmut unter anderem durch das Verbrennen einer grün-weiß-orangenen Flagge der irischen Republik zur Schau zu tragen. Die zum Teil vermummten Demonstranten, von denen viele den Union Jack schwenkten bzw. um die Schulter gelegt hatten, griffen die mit Panzerwagen vor dem Gebäude postierten Polizisten mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern an. Als die Protestierer nicht durch die Polizeiabsperrungen am Haupteingang durchkamen, versuchten es Hunderte von ihnen am Hintereingang. Dort demolierten sie Autos, attackierten Mitarbeiter des Rathauses, schlugen die Fenster des Hintereingangs ein und provozierten die Polizei.

Nachdem die behelmten und mit Körperprotektoren versehenen Beamten die aufgebrachte Menge zurückdrängen konnten, zogen die Demonstranten pöbelnd aus der Belfaster Innenstadt ab, überquerten per Albert Bridge den Lagan, und kehrten in das verarmte protestantische Arbeiterviertel am Lower Ormeau Road zurück. Dort gaben sie jedoch keine Ruhe. Dutzende von ihnen stießen in den Short Strand, die katholische Enklave im protestantischen Ostbelfast, die seit Jahrzehnten Ziel loyalistischer Angriffe gewesen ist, vor und warfen die Fenster der Saint Matthew's Church und einiger Wohnhäuser ein. Andere versuchten einen Linienbus zu kapern, konnten aber von Polizisten daran gehindert werden.

Nach Behördenangaben wurden bei den nächtlichen Krawallen 15 Polizisten und zwei Mitglieder des Sicherheitspersonals am Belfast City Hall verletzt. Drei Randalierer wurden festgenommen. Am nächsten Morgen verurteilte Nordirlands Premierminister Peter Robinson von der DUP die Gewaltexzesse des unionistischen Fußvolkes, warf aber zugleich der Sinn Féin und der SDLP vor, den für Belfast wenig schmeichelhaften Vorfall durch ihre Anti-Union-Jack-Aktion im Rathaus absichtlich provoziert zu haben.

4. Dezember 2012