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PARTEIEN/298: England auf Kollisionskurs mit Schottland und EU (SB)


England auf Kollisionskurs mit Schottland und EU

Torpedieren Camerons Konservative den nordirischen Friedensvertrag?


Nach ihrem Sieg bei den britischen Unterhauswahlen am 7. Mai steuern David Camerons Konservative, die nun in London allein regieren und sich ihres bisherigen liberaldemokratischen Koalitionspartners entledigt haben, eine Konfrontation sowohl mit Schottland als auch mit der Europäischen Union an. Gleich in der Wahlnacht auf den 8. Mai anläßlich der Wiederwahl im eigenen Wahlkreis im südenglischen Witney hat Premierminister Cameron die Durchführung einer Volksbefragung über den Austritt Großbritanniens aus der EU bis spätestens 2017 angekündigt. Am Rande der ersten Sitzung des ersten ausschließlich konservativen Kabinetts seit 1997 hat die neue und alte Innenministerin Theresa May den Vorschlag aus Brüssel zur Linderung der aktuellen Flüchtlingstragödie im Mittelmeer, die vor Kriegen und Not aus Afrika und Asien fliehenden Menschen gerechter auf die 28 EU-Mitgliedsstaaten zu verteilen, kategorisch abgelehnt. Des weiteren will die Cameron-Regierung unter der Regie des ehemaligen Bildungs- und neuen Justizministers Michael Gove den Human Rights Act aus dem Jahr 1998, mittels dessen die Europäische Menschenrechtskonvention Teil der Gesetzgebung des Vereinigten Königreichs wurde, revidieren und durch einen eigenen, nationalen Menschenrechtskatalog ersetzen. Die beiden umstrittenen Vorhaben, Volksbefragung zur EU-Mitgliedschaft und Bill of Rights, sollen Eingang in die Rede finden, mit der Königin Elizabeth II. am 27. Mai im Palace of Westminster die neue Legislaturperiode eröffnet und das Programm ihrer Regierung für die ersten 100 Tage der kommenden fünf Jahre bekannt gibt.

Seit den Tagen Margaret Thatchers streiten sich die Tories heftig über die EU. Die Euroskeptiker, die innerhalb der Conservative Party den Ton angeben, kritisieren die schleichende Machtverschiebung hin zum Parlament und zur Kommission der EU auf Kosten der einzelnen Mitgliedstaaten. In der englischen Bevölkerung ist das Unbehagen an einem supranationalen, von Deutschland beherrschten EU-Moloch weitverbreitet. Mit der Volksbefragung hofft Cameron zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Durch die Drohung, Großbritannien notfalls aus der EU herauszuführen, will der Tory-Chef Brüssel dazu zwingen, London mehr Möglichkeiten einzuräumen, welche EU-Regelungen es übernimmt und welche nicht. Kann er nach den bevorstehenden Verhandlungen irgendwelche Zugeständnisse oder Reformschritte seitens Deutschland, Frankreich und anderer europäischer Partner vorweisen, will sich Cameron für einen Verbleib Großbritanniens in einer "verschlankten" EU stark machen, bei der Volksbefragung den Sieg davon tragen und die innerparteilichen Euroskeptiker endlich zum Verstummen bringen. Ob derlei Zugeständnisse für Cameron in Berlin und Paris überhaupt zu holen sind, muß sich erst zeigen.

Jedenfalls können sich die Tories bei der zu erwartenden Volksbefragung auf die Unterstützung weiter Teile der britischen Privatwirtschaft verlassen, die auf keinen Fall den Zugang zum europäischen Markt verlieren will. Sollte dennoch eine Mehrheit der britischen Wähler für den Austritt stimmen, dann ist ein Streit mit Schottland, deren Bürger der EU gegenüber weit positiver eingestellt sind als die Engländer, vorprogrammiert. Bei der jüngsten Unterhauswahl hat die seit 2011 allein in Edinburgh regierende Scottish National Party (SNP) 56 der 59 schottischen Sitze im Londoner Parlament erobert. Die SNP ist damit hinter den Konservativen und der sozialdemokratischen Labour Party zur drittstärksten Fraktion im britischen Unterhaus geworden. Unter ihrer charismatischen Parteivorsitzenden Nicola Sturgeon, die in Edinburgh Chefin der Autonomieregierung ist, positioniert sich die SNP als einzige linke Kraft, welche sich der Austeritätspolitik der Tories wirksam widersetzt. Die SNP hält am Ziel der Unabhängigkeit Schottlands fest und wird aller Voraussicht nach die Abstimmung über den EU-Austritt benutzen, um dem näherzukommen. Politische Beobachter prognostizieren schon eine Verfassungskrise zwischen England, deren Bevölkerung mehrheitlich aus der EU will, und Schottland, deren Einwohner sich laut Umfragen den Verbleib in der europäischen Staatengemeinschaft wünschen.

Die befürchtete Verfassungskrise bahnt sich jetzt bereits durch die Absicht der Cameron-Regierung, die gesetzliche Gültigkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention für Großbritannien aufzuheben, um drakonische polizeiliche Maßnahmen im Bereich der "Terrorbekämpfung" wie Hausarrest, Redeverbot, Aussetzung der Staatsbürgerschaft u. v. m. durchführen zu können, an. Künftig würden die Betroffenen nicht mehr ihre Rechte vor britischen Gerichten einklagen können, sondern müßten den beschwerlichen Gang zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strasbourg auf sich nehmen. Die SNP-Regierung in Edinburgh hat am 12. Mai angekündigt, die geplante Novellierung des Human Rights Act von 1998 nicht mittragen zu wollen bzw. Schottland von der Neuregelung auszuklammern. Konkret hieße das, das schottische Parlament würde seine Zustimmung, damit das neue Gesetz auch nördlich des Hadrianwalls in Kraft tritt, verweigern.

Es gibt aber noch einen weiteren gravierenden Aspekt in der geplanten Abkehr Großbritanniens von der Europäischen Menschenrechtsskonvention, von dem in London derzeit kaum jemand spricht, der aber schwerwiegende Folgen haben könnte. 1998 hat die damalige Labour-Regierung Tony Blairs den Human Rights Act unter anderem deshalb verabschiedet, um den Friedensprozeß in Nordirland zu verankern. Im Belfast Agreement vom selben Jahr war von Nordirlands protestantischen Unionisten und katholischen Nationalisten sowie den höchsten Vertretern der britischen und irischen Regierungen vereinbart worden, daß die Europäische Menschenrechtskonvention in Nordirland künftig volle Gültigkeit haben soll.

Nur so ließ sich die Angst der katholischen Minderheit vor Repressalien des protestantisch dominierten Justizwesens nehmen und die IRA zum Verzicht auf den bewaffneten Kampf bewegen. Das Vereinigte Königreich kann also nicht einfach den Human Rights Act 1998 - so der englischsprachige Titel - durch Goves Bill of Rights austauschen, ohne gegen das Karfreitagsabkommen, das den Status eines bilateralen staatlichen Vertrags mit der Republik Irland hat und als solcher bei den Vereinten Nationen in New York eingetragen ist, zu verstoßen. Wie Ruadhán Mac Cormaic am 15. Mai in der Irish Times schrieb, hat allein die Aussicht, London wolle am Fundament des ohnehin fragilen nordirischen Friedensprozesses rütteln, "in Dublin die Alarmglocken ausgelöst".

15. Mai 2015


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