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PARTEIEN/314: Brexit löst Verfassungskrise in Großbritannien aus (SB)


Brexit löst Verfassungskrise in Großbritannien aus

Der High Court durchkreuzt die EU-Ausstiegspläne der Regierung


Das Urteil des Londoner High Court vom 4. November, wonach das Vorhaben der konservativen britischen Regierung, bis Ende März 2017 Artikel 50 des Lissaboner Vertrags zu aktivieren und damit den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union in die Wege zu leiten, gegen die rechtlichen Traditionen des Landes verstößt und damit unzulässig ist, hat in Großbritannien praktisch eine Verfassungskrise ausgelöst. Dadurch hat die politische Instabilität, die dort seit dem knappen Sieg der Euroskeptiker bei der Volksabstimmung über die Fortsetzung oder Aufkündigung der britischen Mitgliedschaft in der EU am 23. Mai herrscht, an Schärfe gewonnen. Derzeit weiß niemand, wie das Land aus der chaotischen Lage kommen soll.

Im Vorfeld der britischen Unterhauswahlen im Mai 2015 hatte der damalige britische Premierminister David Cameron die Durchführung einer Volksbefragung über die EU-Mitgliedschaft versprochen, um die Eurokritiker in der eigenen konservativen Partei zu beschwichtigen. Man geht davon aus, daß Cameron eigentlich mit einer Fortsetzung der Koalition mit den Liberaldemokraten als Juniorpartner rechnete. Als die Tories dann doch noch die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus - 328 von 650 - gewannen, mußte Cameron sein Wahlversprechen dem reaktionären Flügel seiner Partei gegenüber einlösen. Bis zum Schluß hatte niemand in Medien, Politik und Wirtschaft Großbritanniens damit gerechnet, daß eine Mehrheit der Wähler für den Brexit stimmen würde. Als das doch geschah, mußte Cameron den Preis seiner katastrophalen Fehlentscheidung zahlen. In den Morgenstunden des 24. Juni, als sich die Niederlage des Remain-Lagers abzeichnete, jedoch noch bevor das amtliche Endergebnis feststand, hat Cameron seinen Rücktritt als Premierminister bekanntgegeben. Wenige Wochen danach folgte für den Absolventen der Eliteschule Eton der Verzicht auf sein Unterhausmandat und die Rückkehr ins Privatleben.

An Camerons Stelle trat die bisherige Innenministerin Theresa May als Partei- und Regierungschefin. Als erstes hat sie die eurofreundlichen Gewährsleute Camerons wie den bisherigen Finanzminister George Osborne auf die Hinterbänke verwiesen und dafür die wichtigsten Kabinettsposten mit EU-Gegnern - allen voran mit dem früheren Londoner Bürgermeister Boris Johnson als Außenminister - besetzt. Als zweites hat sie eine zügige Aufnahme der EU-Austrittsverhandlungen, die zwei Jahre dauern sollen, in Aussicht gestellt, indem sie die Aktivierung von Artikel 50 auf Ende März 2017 terminierte. Ein Mitspracherecht des Parlaments lehnte May hierbei unter Verweis auf den Ausgang der Volksabstimmung ab und berief sich dabei auf das "königliche Vorrecht" in Sachen internationaler Verträge.

Mit dieser recht großzügigen Interpretation der Machtbefugnisse der Regierung hat May nun vor dem High Court eine hochpeinliche Niederlage erlitten. Alle drei Richter, Lord Chief Justice, Lord Thomas of Cwmgiedd, Master of the Rolls Sir Terence Etherton und Lord Justice Sales, schlossen sich der Argumentation der Kläger, der Investitionsfondsmanagerin Gina Miller und des Friseurs Deir Dos Santos, an, wonach die Rechte der Bürger durch einen eventuellen EU-Austritt erheblich beeinträchtigt wären, weshalb die Krone, mit anderen Worten die Regierung, darüber nicht bestimmen dürfe, sondern dieses Recht allein dem Parlament, Unterhaus und House of Lords gemeinsam zustehe. Die May-Regierung hat Einspruch gegen das Urteil eingelegt. Die Verhandlungen vor dem Obersten Gerichtshof sollen am 7. und am 8. Dezember stattfinden.

Nun wird es aber kompliziert. May hat gute Gründen, warum sie Artikel 50 am Parlament vorbei aktivieren will. Erstens ist ihre eigene Partei in der Brexit-Frage nach wie vor heillos zerstritten. Hinter den Kulissen streiten sich heftigst die EU-Freunde, die den Zugang Großbritanniens zum Binnenmarkt unbedingt aufrechterhalten wollen und dabei zu Kompromissen in der Frage der Bewegungsfreiheit für Festlandseuropäer bereit sind, und die EU-Gegner, die einen "harten" Brexit mit allen Konsequenzen anstreben, um ihr vordinglichstes Ziel, eine drastische Reduzierung der Zahl der Einwanderer, zu erreichen. Wie sehr das Thema Brexit die Gemüter erregt, zeigen die Reaktionen der britischen Boulevardpresse auf das jüngste Urteil des High Court. Die Daily Mail bezeichnete auf ihrer Titelseite die drei Richter als "Volksfeinde", während der Daily Express die dunkelsten Stunden Englands im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler-Deutschland beschwor.

Die innerparteiliche Zerstrittenheit der Konservativen liefert auch die Erklärung, warum May das Parlament nicht in ihre Pläne einweihen will, was die Austrittsverhandlungen betrifft. Denn dann würde herauskommen, daß sich das Kabinett auf einen einheitlichen Standpunkt gegenüber Brüssel immer noch nicht hat einigen können. Es gibt Vermutungen, daß May die Brexit-Verhandlungen scheitern lassen will, um anschließend sagen zu können, sie habe ihr Bestes gegeben, aber die EU-Skeptiker hätten Erwartungen geweckt, die sich niemals hätten realisieren lassen können. Jedenfalls steht fest, daß May eher zu einem "sanften" Brexit tendiert. Als Ende Oktober Nissan einen kräftigen Ausbau seiner Produktionstätten in Großbritannien ankündigte, soll das auf der Basis von "Zusicherungen" seitens 10 Downing Street gewesen sein, daß der japanische Großkonzern auch in Zukunft mit dem Zugang zum europäischen Binnenmarkt für seine Autos rechnen könne.

Im Unterhaus selbst verfügt die konservative Fraktion über eine hauchdünne Mehrheit. Gleichwohl gibt es unter den Abgeordneten aller Parteien eine Mehrheit für den Verbleib in der EU. Auch wenn die meisten Volksvertreter nicht offen den Ausgang der Volksbefragung in Frage stellen, so will eine Mehrheit von ihnen sowohl bei der Aktivierung von Artikel 50 und später über den Ausgang der Verhandlungen Londons mit Brüssel mitreden und -entscheiden. Die große Oppositionspartei Labour ist in sich ebenfalls heillos zerstritten. Die Parteibasis der Sozialdemokraten hält an ihrem Vorsitzenden Jeremy Corbyn fest, während die meisten seiner 230 Fraktionskollegen ihn stürzen wollen, weil er ihnen zu links und nicht pro-europäisch genug ist. Von außerhalb des Parlaments versucht Ex-Premierminister Tony Blair eine fraktionsübergreifende Mehrheit für den Verbleib in der EU zu mobilisieren.

Um diese Initiative, die von Teilen der Industrie und vor allem dem Finanzkapital in London unterstützt wird, zu durchkreuzen, fordern die EU-Gegner bei den Tories May dazu auf, Neuwahlen auszurufen in der Hoffnung, vom momentanen Durcheinander bei den Sozialdemokraten zu profitieren und eine satte Mehrheit für die konservative Partei zu erzielen. Ob Neuwahlen ein solches Ergebnis mit sich bringen, ist unklar. Fest steht jedenfalls, daß May nicht wie alle ihrer Vorgänger von sich aus das Parlament auflösen und Neuwahlen ausschreiben kann. Wegen eines Gesetzes, das Cameron 2011 durch das Parlament brachte, hat das Unterhaus inzwischen wie die meisten anderen Volksversammlungen auf der Erde eine feste Legislaturperiode - in diesem Fall von fünf Jahren. Vorzeitige Neuwahlen sind nur bei einer Niederlage der Regierung bei einem Mißtrauensvotum bzw. wenn eine Zweidrittelmehrheit des Unterhaus sie beschließen zu haben. Beide Varianten gelten derzeit als unsicher.

Währenddessen regt sich in Schottland, Wales und Nordirland Widerstand gegen die Brexit-Pläne Englands. Schottlands Premierministerin Nicola Sturgeon will zumindest den Zugang ihres Landes zum europäischen Binnenmarkt aufrechterhalten und beruft sich dabei auf das Votum einer Mehrheit der Schotten für den Verbleib in der EU. Um London unter Druck zu setzen, droht Sturgeons Scottish National Party (SNP) mit der Durchführung eines erneuten Referendums über die Unabhängigkeit Schottlands. Aus Wales hat Premierminister Carwyn Jones von der Labour Partei eine Teilnahme Cardiffs an den Verhandlungen des Obersten Gerichtshofs über die Berufungsklage der May-Regierung zum Thema Artikel 50 - und zwar als Gegenpartei, das heißt gegen London. Sturgeons SNP, die in erster Instanz offiziell als Verhandlungensbeobachter beteiligt war, will sich dem Vorstoß der walischen Kollegen angeblich anschließen. Hinzu kommt, daß die SNP im Londoner Unterhaus über 56 Abgeordneten verfügt, die dort den harten Kern der Brexit-Gegner bilden.

Sollte es in Palace of Westminster irgendwann demnächst zu einer Abstimmung in der Brexit-Frage kommen, könnte man außerdem die historisch erstmalige Teilnahme der Abgeordneten von Sinn Féin an der Arbeit dort erleben. Der frühere politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), dessen oberstes Ziel die Wiedervereinigung Irlands ist, nimmt zwar an den Wahlen und gewinnt Sitze, boykottiert jedoch seit fast 100 Jahren aus prinzipiellen Gründen das britische Parlament. Doch um Nordirland in der EU zu halten und eine Neuverhängung einer festen Grenze zur Republik im Süden zu verhindern, könnte sich die Partei um Gerry Adams und Martin McGuinness gezwungen sehen, über den eigenen Schatten zu springen.

7. November 2016


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