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PARTEIEN/322: Brexit - Wiedervereinigung Irlands wird zum Thema (SB)


Brexit - Wiedervereinigung Irlands wird zum Thema

Premierminister Enda Kenny wirbt um die Unterstützung Brüssels'


Seit Pläne der konservativen Regierung um Theresa May bekannt wurden, die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs, bestehend aus Großbritannien und Nordirland, nicht nur gegenüber der EU, sondern auch der Europäischen Zollunion aufzukündigen, herrscht bei der politischen Führung in Dublin Alarmstimmung. Denn der "harte Brexit" läuft - so das Urteil aller Experten - auf die Wiedererrichtung einer harten Grenze quer durch Irland hinaus. In beiden Teilen Irlands will das aber praktisch niemand. Nicht umsonst hat eine Mehrheit der nordirischen Wähler - ähnlich den Schotten, aber im Gegensatz zu den meisten Menschen in England und Wales - bei der Volksbefragung im vergangenen Juni für den Verbleib in der EU votiert.

Nach dem Karfreitagsabkommen 1998, mit dem der blutige Bürgerkrieg in Nordirland zwischen nationalistischen Katholiken und protestantischen, pro-britischen Unionisten nach fast 30 Jahren beigelegt worden war, verschwanden auch die ganzen Anlagen der britischen Armee entlang der inneririschen Grenze. Heute kann man zum Beispiel auf der Autobahn von Dublin nach Belfast fahren, ohne die genaue Trennlinie zwischen den beiden Jurisdiktionen überhaupt mitzubekommen. Lediglich an den Verkehrschildern - Entfernung und Geschwindigkeit werden im Norden in Meilen, im Süden dagegen in Kilometern angegeben - ist ein Unterschied zu erkennen. Obwohl in der Republik der Euro und im Norden der britische Pfund benutzt werden, floriert der innerirische Handel. Nach dem Abflauen der sogenannten "Troubles" wächst wieder zusammen - nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell -, was zusammengehört, jedoch seit 1922 getrennt ist. Die Einrichtung von Zoll- und Einwanderungseinrichtungen entlang der mehr als 400 Kilometer langen inneririschen Grenze stellt für den Frieden in Irland eine echte Gefahr dar, denn bei zivilem Ungehorsam gegen die neuen Kontrollen würde es vermutlich nicht bleiben. Die militanten Gegner der Teilung Irlands in Gestalt irgendwelcher IRA-Splittergruppen dürften sich auf den Plan gerufen fühlen. Gegenreaktionen seitens militanter Loyalisten wären vorprogrammiert.

Darum hat der irische Premierminister Enda Kenny bei seinem Treffen am gestrigen 23. Februar mit dem EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker zum Thema Brexit die Bedeutung des Karfreitagsabkommens hervorgehoben. Damals hat die Republik Irland nach Annahme des Vertrages infolge von Volksbefragungen auf beiden Seiten der Grenze ihre Verfassung dahingehend revidiert, daß Dublin nicht mehr Anspruch auf die ganze Insel erhebt, sondern statt dessen die friedliche Wiedervereinigung, sobald eine Mehrheit im Norden dies will, zum Staatsziel erklärt. Völkerrechtlich müsse auch nach dem Brexit die Möglichkeit einer "reibungslosen" Wiedervereinigung Irlands innerhalb der EU, ähnlich derjenigen Ost- und Westdeutschlands 1990, gewahrt werden, sagte Kenny. Egal welches sonstige Ergebnis die Verhandlungen zwischen Großbritannien und den restlichen 27 EU-Staaten zeitigten, der künftige Vertrag müsse eine "entsprechende Passage" enthalten.

Juncker äußerte vollstes Verständnis für die irischen Sorgen. Der EU-Kommissionspräsident sprach sich ebenfalls gegen die Reinstallierung einer festen Grenze auf der grünen Insel aus und erinnerte daran, daß im Rahmen des Karfreitagsabkommens die EU als Mitgarant des Friedens fungiert und im Text entsprechende Erwähnung findet. So müsse es auch bleiben, erklärte Juncker.

Weil die wirtschaftlichen Folgen eines "harten Brexits" Nordirland am schwersten und die Republik hart treffen würden, hört man zunehmend aus Dublin und Belfast die Forderung nach einer Sonderregelung. Demnach bliebe Nordirland zolltechnisch innerhalb EU und Europäischer Zollunion; die Waren- und Personenkontrollen fänden an den irischen und britischen Flug- und Seehäfen statt. Nordirlands Unionisten hätten sicherlich Probleme mit einer solchen Lösung, stellte sie doch einen gewaltigen Schritt in Richtung Wiedervereinigung Irlands und eines Bruchs mit Großbritannien dar. Doch das letztjährige Votum der Engländer für den EU-Austritt hat viele Unionisten zum Nachdenken gebracht. Ihr prinzipieller Widerstand gegen eine Wiedervereinigung mit dem inzwischen nicht mehr so stark katholisch geprägten Süden ist ins Wanken geraten. Nicht von ungefähr ist die Zahl der Nordiren, die seit Juni 2016 einen Reisepaß der irischen Republik - und damit auch der EU - beantragen, sprunghaft gestiegen (nach dem Karfreitagsabkommen haben die Menschen das Recht zu entscheiden, ob sie einen irischen oder einen britischen Reisepaß haben wollen). Nordirlands Großbauern, stets eine wichtige Stütze der unionistischen Parteien DUP und UUP, sorgen sich nicht nur um den Verlust ihrer EU-Subventionsgelder, sondern auch um den Handel mit den Supermarktketten in der Republik.

In ihren bisherigen Stellungnahmen hat Theresa May wiederholt das Interesse Londons an einer Aufrechterhaltung des seit 1923 existierenden Common Travel Area, das irische und britische Bürger auf den Inseln Reise- und Niederlassungsfreiheit garantiert, bekundet. Doch leider ist Irland, Nord und Süd, für die aggressiven Brexit-Befürworter im May-Kabinett nur einer von vielen Spielbällen bei den kommenden Verhandlungen mit den früheren Erzfeinden Deutschland und Frankreich. Beim Brexit geht es um sehr viel Geld und auch um Englands internationalen Einfluß. Wirtschaftexperten befürchten, daß die chauvinistischen Little Englanders mit ihrer Fixierung auf die Frage der Einwanderungsbegrenzung die negativen Auswirkungen von Brexit - nicht nur für Großbritannien, sondern auch für die EU - aus den Augen verloren haben. So droht London, um nur ein Beispiel zu nennen, im Zuge des sich entwickelnden Streits um die Brexit-Bedingungen seines bisherigen Platzes als weltweit wichtigste Finanzmetropole nach New York verlustig zu gehen.

Doch Kurzsichtigkeit hat die britischen Tories niemals daran gehindert, ihre Ideen von Macht und Machterhalt zu verfolgen. Die Teilung Irlands ist nicht zuletzt das Ergebnis eines politischen Schachzugs, mit dem Ende des 19. Jahrhunderts Großbritanniens Konservativen die nordirischen Protestanten aufwiegelten, um die in London regierenden Liberalen zu stürzen. Der Trick, damals ausgedacht von Winston Churchills Vater Sir Randolph Churchill, hieß "die Oranier-Karte" ausspielen. Er hat auch wunderbar funktioniert, jedoch auf Jahrzehnte hinaus sehr viel Leid in Irland verursacht und den Riß zwischen Katholiken und Protestanten im Norden zementiert.

Wie damals ist Brexit das Ergebnis interner englischer Machtkämpfe. 2016 mit der Volksbefragung ging es David Cameron darum, die EU-Skeptiker innerhalb der eigenen konservativen Fraktion endlich zum Verstummen zu bringen und die Konkurrenz am rechten Rand in Form der United Kingdom Independence Party (UKIP) auszuschalten. Doch mit der unerwarteten Protestwahl für den Austritt ging der Schuß nach hinten los. 2017 ist es Theresa May, die ihre Position als Premierministerin durch Zugeständnisse an diejenigen konservativen Hinterbänkler im Unterhaus zu festigen versucht, die immer noch von der Wiederauferstehung des British Empire träumen.

Ein anschauliches Beispiel für den engen Horizont britischer Politiker liefert eine denkwürdige Meldung, welche die Irish Times in ihrer Ausgabe vom 24. Februar brachte. Demnach hat am Abend davor beim Treffen irischer Parlamentarier mit ihren britischen Kollegen in Dublin zum Thema Brexit der konservative englische Unterhausabgeordnete Karl McCartney den Beteiligten offen heraus erklärt, daß nach dem Austritt aus der EU 2019 Großbritannien seine Schulden in Brüssel, die auf 60 Milliarden Euro geschätzt werden, nicht bezahlen werde. Als Rechtfertigung für die selbstherrliche, betrügerische Haltung Londons erklärte McCartney, daß in zwei Jahren - so die vorgesehene Frist für die Brexit-Verhandlungen - die nächsten Unterhauswahlen bevorstünden. Die May-Regierung würde es sich gegenüber den eigenen Bürgern nicht erlauben können, eine solche Zahlung an Brüssel zu leisten, ohne dabei von der Opposition an den Pranger gestellt zu werden.

Das Geschacher um Brexit, das längst ausgebrochen ist, droht sehr häßlich zu werden. Die Folgen werden leider überall in Europa, in Irland vermutlich am deutlichsten, zu spüren sein.

24. Februar 2017


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