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PARTEIEN/340: Brexit-Verhandlungen in der Krise - London in Panik (SB)


Brexit-Verhandlungen in der Krise - London in Panik

Sondertreffen in Brüssel zwischen May, Davis, Barnier und Junker


Am heutigen Montag, den 16. Oktober, sind die britische Premierministerin Theresa May und ihr Brexit-Minister David Davis völlig überraschend zu einem Abendessen in Brüssel mit dem luxemburgischen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und dem französischen EU-Chefunterhändler Michel Barnier aufgebrochen. Anlaß des Krisentreffens ist das Scheitern der bisherigen Gespräche über den Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union. Am Freitag, den 13. Oktober, hatte Barnier erklärt, er könne die Aufnahme von Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen nicht empfehlen, da London immer noch keinen brauchbaren Vorschlag in bezug auf die künftigen Rechte von EU-Bürgern, die Grenzproblematik auf der Insel Irland und die Begleichung von Londons Finanzverpflichtungen gegenüber dem EU-Haushalt gemacht habe.

Der Grund für den Stillstand bei den Brexit-Verhandlungen ist der Richtungsstreit bei den in London regierenden Konservativen. Die chauvinistischen Brexiteers, die sich nach eigenen Angaben aus der Umarmung durch die Brüsseler Krake befreien wollen, damit das Inselreich zur alten Größe - "Global Britain" - zurückfinden kann, blockieren jedes Zugeständnis gegenüber mit den restlichen EU-27 - nicht zuletzt deshalb, weil sie mit Außenminister Boris Johnson, Brexit-Minister David Davis und Handelsminister Liam Fox in diesem Zusammenhang auch die wichtigsten Posten besetzen. Die Remainers, die bei den Tories vor der Volksbefragung im Juni 2016 für einen Verbleib in der EU plädierten und seitdem Großbritannien zumindest in puncto Binnenmarkt und Zollunion weiterhin sehen wollen, wagen sich aus Angst vor Hetztiraden seitens der reaktionären Presse, allen voran der Boulevardzeitung Daily Mail und der Blätter aus dem Hause Rupert Murdochs, kaum aus der Deckung. Seit Tagen steht Finanzminister Philip Hammond in der Schußlinie der EU-Gegner, weil er keine Gelder für den Fall bereitstellen will, daß die Verhandlungen mit Brüssel scheitern.

Vom Glauben an die eigene Überlegenheit gegenüber den Kontinentaleuropäern - und aller anderen Menschen auf der Welt sowieso - überzeugt, versuchen die Brexiteers den Sieg bei der Abstimmung letzten Jahres zu nutzen, um die bisherigen Beziehungen Großbritanniens zur EU gänzlich zu kappen. Sie behaupten, kein Deal wäre besser als ein schlechter Deal, und sie sind tatsächlich bereit, den Handel mit den anderen 27 EU-Staaten künftig nach WTO-Regeln zu gestalten - auch wenn dies gigantische Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Großbritannien treibt aktuell 44 Prozent seines Handels mit der EU. Wie soll dieser gestaltet werden, wenn alle bisherigen Regeln bezüglich Hygiene, technischen Standards et cetera wegfallen? Wie soll der Massenstau von Lkws auf beiden Seiten des Ärmelkanals bewältigt werden? Selbst ein Ausfall des Flugverkehrs zwischen Großbritannien und den europäischen Festland kann nicht ausgeschlossen werden.

Als Hammond vor einigen Tagen auf die faktische Gefahr letzterer Möglichkeit hinwies, wurde Mays Schatzmeister in der Daily Mail der Schwarzmalerei bezichtigt und als "Jeremia" verspottet. Mit jenem literarischen Vergleich entlarvten sich die Schreiberlinge Paul Dacres, die niemals müde werden, bei jeder sich bietenden Gelegenheit den angeblichen Niedergang der klassischen Schulbildung auf dem Altar der "politischen Korrektheit" zu beklagen, als ahnungslose Sprücheklopfer à la Donald Trump. In der Bibel hat Jeremia dem Volk Israel die Rückkehr zu Gott gepredigt und vor dem Untergang Jerusalems samt Tempel gewarnt - was 586 vor unserer Zeitrechnung durch die Eroberungen des babylonischen Königs Nebukadnezar II auch geschah. Der berühmte Prophet hat also auf eine tatsächliche und nicht bloß eine imaginäre Gefahr hingewiesen.

Bei den Tories tobt ein erbitterter Machtkampf zwischen Brexiteers und Remainers. Seit der Verlust der eigenen Mehrheit bei vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni gilt die Premierministerin politisch als lebende Leiche. Seit Mays katastrophalem Auftritt auf dem konservativen Parteitag Anfang Oktober in Manchester verlangen die Kollegen allesamt von ihr eine Kabinettsumbildung, nur daß die Remainers den Rausschmiß Johnsons wegen Illoyalität und Eigenmächtigkeit wollen, die Brexiteers dagegen die Demontage Hammonds wegen dessen Kompromißbereitschaft Brüssel gegenüber herbeisehnen. Der ehemalige Vizeparteichef Bernard Jenkin, ein führender Brexiteer, hat Hammond am 9. Oktober öffentlich vorgeworfen, sich "mit Brüssel, der Confederation of British Industries" (CBI) - dem größten Arbeitgeberverband auf der Insel -, "Teilen des Londoner Finanzkapitals und der Bank of England" verbündet zu haben, um den Wunsch des britischen Volks nach einem EU-Austritt - wenn nicht formell, so doch zumindest faktisch - zu vereiteln. Als Beleg für dieses Argument führte Jenkin die Bereitschaft Mays und Hammonds für eine Übergangsphase von mindestens zwei Jahren an, in der die vielschichtigen Beziehungen zwischen London und Brüssel weiterhin der Hoheit des Europäischen Gerichtshofs unterlägen.

Auch wenn die Brexiteers nach wie vor den Ton bei den britischen Konservativen angeben, so gibt es im Londoner Parlament für ihre realitätsferne EU-Politik keine Mehrheit. Beharren diese Kräfte weiterhin auf den "harten Brexit" samt Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion, so ist eine Spaltung der Tories unausweichlich. Im Unterhaus hat sich inzwischen eine lose, parteiübergreifende Koalition aus Sozialdemokraten, schottischen Nationalisten, Grünen, Liberaldemokraten und der walisischen Plaid Cymru sowie mindestens zehn EU-freundlichen Konservativen gebildet, welche die Katastrophe eines Brexits ohne Deal mit Brüssel unbedingt verhindern will und dafür bereits über die nötige Mehrheit verfügt.

Die May-Regierung sieht sich zudem mit zwei Anträgen nach dem Informationsfreiheitsgesetz konfrontiert, denen zufolge sie demnächst zwei für die Brexiteers höchst ungünstige Expertisen der Ministerialbürokratie wird veröffentlichen müssen. Aus der einen staatsrechtlichen Studie geht hervor, daß das britische Parlament jederzeit die EU-Austrittsverhandlungen abbrechen und die Uhr wieder auf Null setzen kann - was bedeutet, daß der kategorische Brexit-Eintritt nach Artikel 50 des Lissaboner Vertrags am 29. März 2019 so nicht existiert bzw. umgangen werden kann. Bei der zweiten Analyse handelt es sich um eine Schätzung der enormen volkswirtschaftlichen Schäden des EU-Austritts, mit denen die Brexiteers bisher erfolgreich hinter dem Berg haben halten können. Am 9. Oktober hat die Regierung in Dublin eine Studie des irischen Finanzministeriums veröffentlicht, in der es hieß, daß die Idee, nach dem EU-Austritt die Überwachung der inneririschen Grenze allein mit digitaler Technologie durchzuführen - das heißt ohne feste Installationen, ohne Personenkontrollen und ohne Stichproben bei Waren - "naiv" und ein Ding der Unmöglichkeit sei. Langsam, aber sicher naht der Tag, an dem die Brexiteers nicht mehr an der Surrealität ihrer politischen Visionen vorbeikommen werden.

16. Oktober 2017


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