Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → REDAKTION


PARTEIEN/349: Chaos um Londons doppelzüngige Brexit-Strategie (SB)


Chaos um Londons doppelzüngige Brexit-Strategie

Die Brexiteers bringen Dublin, Brüssel und die Nordiren gegen sich auf


Mit größter Mühe und Not ist es der britischen Premierministerin Theresa May und ihrem Brexit-Minister David Davis am 9. Dezember bei einem Blitzbesuch in Brüssel gelungen, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Chefunterhändler Michel Barnier doch noch davon zu überzeugen, daß diese beim Gipfeltreffen den EU-Regierungschefs am morgigen 14. Dezember die Aufnahme von Phase II der Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union empfehlen. Dafür haben beide Seiten in einem 15seitigen Abkommen ihre Vereinbarung zur Regelung jener drei Problemfelder, welche die EU-27 vor der Aufnahme der Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen beseitigt haben wollten - Bürgerrechte, Begleichung britischer Finanzverpflichtungen gegenüber dem EU-Haushalt und die künftige Handhabung der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland -, dokumentiert.

Zuletzt hatte die innerirische Grenzfrage für heftigste Streitereien gesorgt. Die pro-britische, protestantische Democratic Unionist Party (DUP) in Nordirland hatte in letzter Sekunde die am 4. Dezember bereits angelaufene Verabschiedung eines Papiers durch Juncker und May in Brüssel mit der Behauptung verhindert, die darin enthaltene Verpflichtung Londons, auch nach dem Brexit eine "ordnungspolitische Übereinstimmung" zwischen Nord- und Südirland zu gewährleisten, damit keine feste Grenze wiedererrichtet werden müsse, schwäche auf unerträgliche Weise den inneren Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs. Unverrichteter Dinge mußte May die belgische Hauptstadt verlassen. Schließlich halten die zehn Abgeordneten der erzreaktionären DUP die konservative Minderheitsregierung in London am Leben.

In der neuen, mit DUP-Chefin Arlene Foster vereinbarten Version des Dokuments heißt es nun, ungeachtet der Aufrechterhaltung der "ordnungspolitischen Übereinstimmung" zwischen dem Noch-EU-Staat Republik Irland und Nordirland wird nichts unternommen, was die kulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Verbindungen Nordirlands zu Großbritannien beeinträchtigen könnte. Doch diese Lösung kommt der Quadratur des Kreises gleich. Sie ist in sich logisch inkonsequent und auf Dauer nicht durchsetzbar. Die in der Regierung May bislang tonangebenden Befürworter eines "harten Brexits" streben den Austritt des Vereinigten Königreichs aus Binnenmarkt und Zollunion an. Dieses Ziel und die Aufrechterhaltung der "ordnungspolitischen Übereinstimmung" zwischen Nord- und Südirland sind nicht miteinander vereinbar; sie schließen sich gegenseitig aus. Und weil die EU-feindlichen Tory-Hardliner die Stimmen ihrer ideologischen Verbündeten bei der DUP zur Durchsetzung des "harten Brexit" benötigen bzw. auf Nordirland nicht verzichten bzw. die "Six Counties" doch nicht zur Sonderwirtschaftszone oder einem Teil der Republik werden lassen wollen, behaupten sie, für die fortdauernde Existenz besagter "Übereinstimmung" auch nach der Vereinbarung eines entsprechenden Handelsvertrags zwischen United Kingdom und EU zu sorgen.

So richtig glaubt das aber niemand, denn das eigentliche Ziel der Brexiteers ist nach wie vor die Verwandlung Großbritanniens in ein Steuerparadies für die Schwerreichen mit Billiglöhnen sowie laschen Arbeitsrechtsbedingungen und schwachen Umweltschutzbestimmungen für den Rest. Es hat keinen Aufschrei der britischen Euroskeptiker gegen Mays Vereinbarung mit Juncker gegeben - die, würde man sie ernst nehmen, auf einen sanften Brexit, das heißt Verbleib des UK in Binnenmarkt und Zollunion hinausliefe - weil sie seitens Londons gar nicht ernst gemeint ist. Am 9. Dezember ließ der stets vor Selbstzufriedenheit strotzende Davis beim Fernsehinterview die Katze aus dem Sack, als er die Vereinbarung von Brüssel in ihrer Bedeutung als "reine Absichtserklärung" abtat. Ähnlich hatte Umweltminister Michael Gove am Tag davor verkündet, bis zum Abschluß eines rechtlichen Vertrages über die eigentlichen Handelsbeziehungen sei rein gar nichts "vereinbart" worden. Die irische Regierung und das EU-Parlament haben recht verärgert auf die entlarvende Äußerung Davis' reagiert, die zu einer weniger entgegenkommenden Haltung Brüssels gegenüber London führen durfte.

Im britischen Unterhaus regt sich Widerstand gegen den Kurs der Brexiteers. Die oppositionelle Labour Party, die schottischen Nationalisten und die Liberaldemokraten wollen das Gesetz über den EU-Austritt dahingehend verändern, daß am Ende der sanfte Brexit herauskommt und das Vereinigte Königreich in Binnenmarkt und Zollunion bleibt. Die Chancen stehen nicht schlecht, denn dafür müssen nur rund ein Dutzend konservative Abgeordnete für den einen oder anderen Änderungsantrag der Opposition stimmen. Aktuell streiten sich im House of Commons alle um einen Antrag des ehemaligen konservativen Justizministers Dominic Grieve, der will, daß das Parlament in London das letzte Wort über das Ergebnis der Verhandlungen mit der EU haben soll. Gerade dies lehnen die Brexiteers kategorisch ab, denn heimlich planen sie, die Verhandlungen mit Brüssel scheitern zu lassen, um künftig den gemeinsamen Handel nach den Regeln der WTO organisieren zu können, selbst wenn dies der britischen Volkswirtschaft enorm schaden sollte.

Währenddessen lassen sich grundlegende Veränderungen der politischen Landschaft in Irland infolge des Brexit-Streits erkennen. Die Art und Weise wie sich die DUP, die gerade einmal 30 Prozent der nordirischen Wähler vertritt, den britischen Konservativen an den Hals geworfen und gänzlich ohne Not den harten Brexit ungeachtet der zu erwartenden negativen Konsequenzen für das Leben auf der grünen Insel zu eigen gemacht hat, hat die meisten Menschen in Nordirland, wo letztes Jahr eine deutliche Mehrheit gegen den Brexit votierte, erschreckt. Erstmals fühlen sich die nordirischen Nationalisten und die gemäßigten Unionisten durch Dublin vertreten.

Mit der jüngsten Aussage, Dublin werde niemals wieder die Menschen in Nordirland in Stich gelassen - eine Anspielung auf die Untätigkeit der irischen Regierung beim Ausbruch der "Troubles" Ende der sechziger Jahre - hat der irische Premierminister Leo Varadkar einen Nerv getroffen. Am 11. Dezember haben in einem offenen Brief an Varadkar 200 prominente Vertreter der katholisch-nationalistischen Gemeinde, darunter Kronanwälte, Schauspieler und Sportpersönlichkeiten, ein stärkeres Engagement der Republik im Norden im Rahmen der Möglichkeiten, die sich aus dem Karfreitagsabkommen vom 1998 ergeben, gefordert. Gegen den erklärten Willen Dublins und den Widerstand der Nationalisten in Nordirland, die bekanntlich entlang der Grenze eine deutliche Bevölkerungsmehrheit darstellen, werden es die Tories und die DUP schwer haben, dort für die Wiedereinführung von Personen- und Warenkontrollen zu sorgen.

13. Dezember 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang