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PARTEIEN/366: Brexit - Irland, Schottland und der Rest ... (SB)


Brexit - Irland, Schottland und der Rest ...


Eine Woche vor dem alles entscheidenden Gipfeltreffen über die Modalitäten des Austritts des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union spitzt sich der Streit darüber innerhalb der britischen konservativen Partei und deren in London regierenden Minderheitsregierung um Premierministerin Theresa May gefährlich zu. Weil May offenbar dabei ist, mit Brüssel einen "weichen Brexit" auszuhandeln, der ab dem Austrittsdatum 29. März 2019 für mindestens zwei Jahre den Verbleib Großbritanniens in der Zollunion sowie Nordirlands in Zollunion und Binnenmarkt vorsieht, wollen die Brexiteers um Ex-Außenminister Boris Johnson die eigene Regierung zu Fall bringen. Wie einst in der Home-Rule-Krise vor dem Ersten Weltkrieg, als der rechte Flügel der Tories eine begrenzte Autonomie für Irland zu verhindern versuchte, spielen deren Nachfahren erneut die "Orange Card"; das heißt sie mobilisieren die monarchietreuen Protestanten Nordirlands auch auf die Gefahr hin, daß dort erneut auf Jahrzehnte hinaus die sektiererische Gewalt wiederaufflammt.

May, die als Innenministerin öffentlich für den Verbleib in der EU eingetreten ist, versucht seit zwei Jahren vergeblich, eine Brexit-Lösung zu finden, welche die engen Handelsbeziehungen Großbritanniens zur EU aufrechterhält, um somit die Schäden für die britische Wirtschaft so gering wie möglich zu halten. Gleichzeitig versucht sie die Brexiteers, die jede Bindung Großbritanniens an das Regelwerk der Festlandseuropäer abschütteln wollen, um ihr Heil in großartigen Freihandelsabkommen mit den früheren britischen Kolonien USA, Kanada, Südafrika, Indien, Australien und Neuseeland suchen und vermeintlich finden zu können, zu befriedigen. Daß das nicht geht, hat der Rücktritt von Johnson und dem damaligen Brexit-Minister David Davis in Reaktion auf Mays Kompromißentwurf, der nach dem Landsitz des britischen Premierministers Chequers genannt war, gezeigt.

Der größte Zankapfel bei den Verhandlungen zwischen London und Brüssel bleibt nach wie vor die Handhabung der künftigen Grenze zwischen dem EU-Mitgliedsland Republik Irland und Nordirland. Recht früh haben sich beide Seiten auf Drängen Dublins sowie aus Rücksicht auf die Mehrheit der nordirischen Wähler, die im Juni 2016 für den Verbleib in der EU votiert hatten, darauf geeinigt, daß es keine "harte Grenze" zwischen Derry und Dundalk geben dürfe und keine Installationen errichtet werden, die an die dunklen Jahre der "Troubles" erinnern - damit diese auch nicht wiederkehren. Doch wie sollte das gehen, wenn London auf Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt besteht?

Darum haben May und der EU-Chefunterhändler Michel Barnier im vergangenen Dezember den sogenannten "Backstop" beschlossen. Dieser sieht vor, daß Nordirland, bis eine bessere Lösung gefunden ist, den EU-Regeln unterworfen bleibt. Gleichzeitig hat sich May damals auf Druck der protestantisch-nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) dessen versichert, daß es zu keinen neuen Grenzkontrollen an den Luft- und Seehäfen beiderseits der Irischen See kommen wird. Zu diesem Zugeständnis war May deshalb gezwungen, weil ihre Minderheitsregierung seit dem Sommer 2017 zum Überleben auf die Stimmen der zehn DUP-Abgeordneten im britischen Unterhaus angewiesen ist und sie sich vertraglich gesichert hatte. DUP-Chefin Arlene Foster begründete die Forderung nach einer Garantie mit der Behauptung, nichts dürfe den Handel zwischen Nordirland und Großbritannien beeinträchtigen und die konstitutionelle Bindung der "Elemente" des Vereinigten Königreichs gefährden.

In monatelangen schwierigen Verhandlungen haben die Experten Londons und Brüssels doch noch einen Weg gefunden, die irische Grenzproblematik zu "entdramatisieren", um die Wortschöpfung Barniers zu gebrauchen. Das Konzept sieht die Abwicklung des größten Teils der künftigen Zolladministration auf dem elektronischen Weg vor. Dazu kämen Stichproben und regelmäßige behördliche Besuche in Fabriken und Versandhäusern - weit weg von der Land- oder Seegrenze. Lediglich bei Tiertransporten und Lebensmittellieferungen von Großbritannien nach Irland, die sowieso zu 60 Prozent über den Dubliner Hafen laufen, käme es zu einer Zunahme der hygienischen und veterinärmedizinischen Kontrollen, die ohnehin seit der BSE-Krise Ende der achtziger Jahre - damals auch mit ausdrücklicher Zustimmung von DUP-Gründer Ian Paisley eingeführt - Standardprozedur sind.

Die Nachrichten über eine Gestalt annehmende Lösung, die den "sanften" Brexit ermöglichte, hat die Tory-Brexiteers in Rage versetzt. Per Twitter wettert Johnson bereits von einem Ausverkauf, der Großbritannien zur ewigen "Knechtschaft" gegenüber der EU verdammt. Die einflußreiche European Research Group (ERG) innerhalb der konservativen Partei droht damit, zwischen 40 und 80 Abgeordnete zum Aufstand gegen Mays Kompromißvorschlag mobilisieren zu können, sobald der EU Withdrawal Bill in seiner revidierten Fassung dem Parlament vorgelegt wird. Die DUP, die sich offenbar mit Johnson und ERG-Chef Jacob Rees-Mogg verbündet hat, droht ihrerseits der May-Regierung die Unterstützung zu entziehen, wenn am 29. Oktober der britische Staatshaushalt für das Jahr 2019 vorgelegt wird. Verlöre die Regierung dadurch die Abstimmung, käme May vermutlich nicht um den Rücktritt herum. Um ihre Ernsthaftigkeit zu demonstrieren, haben sich am Abend des 10. Oktober die zehn DUP-Abgeordneten bei einer Abstimmung zum neuen Landwirtschaftsgesetz enthalten (dennoch kam der Entwurf dank zahlreicher Stimmen seitens der Opposition durch).

Liest man die Rede des DUP-Fraktionschefs in Westminster, Nigel Dodds, auf einer Veranstaltung am Rande des diesjährigen konservativen Parteitags in Birmingham Ende September, die Äußerungen von Foster nach ihrem Treffen mit Barnier in Brüssel am 9. Oktober oder den Gastbeitrag des DUP-Unterhausabgeordneten Sammy Wilson in der heutigen Ausgabe des konservativen Daily Telegraph, kommt man um die Erkenntnis nicht herum, daß die Frage der Nicht-Beeinträchtigung des Handels zwischen Nordirland und Großbritannien für Paisleys Erben vollkommen zweitrangig ist. Die Vertreter einer rückwärtsgewandten Politclique, die bestenfalls ein Drittel der Bevölkerung Nordirlands vertritt, verlangen den harten Brexit ohne Wenn und Aber.

Ähnlich Johnson und Rees-Mogg behaupten sie, nur so könne das Vereinigte Königreich "die Kontrolle über sein Schicksal wiedererlangen"; ohne es jedoch auszusprechen, wünscht sich die DUP-Führung ganz offensichtlich die harte Grenze zur Republik wieder, um die Annäherung der beiden Teile Irlands und somit die schleichende Wiedervereinigung zu stoppen. Wie wenig die Brexiteers Rücksicht auf andere nehmen, zeigen jüngste Umfragen, wonach 70 bis 80 Prozent der Engländer, die 2016 für den Brexit votiert haben, bereit wären, auf Nordirland und Schottland zu verzichten, solange sich ihr Teil Großbritanniens von der EU loslösen könne. Bei mehr als Zweidrittel der protestantischen EU-Gegner Nordirlands sei der Brexit wichtiger als der Friedensprozeß und das Karfreitagsabkommens von 1998, so die Demoskopen.

In Schottland, dessen Wähler vor zwei Jahren mit 65 Prozent für den Verbleib votiert haben, regt sich zunehmend Widerstand gegen die Art und Weise, auf die bei der konservativen Regierung in London ständig Rücksicht auf die englischen Brexiteers genommen wird. Die schottische Premierministerin Nicola Sturgeon hat die 54 Abgeordneten ihrer Scottish National Party (SNP) in Westminster angewiesen, für Mays Kompromißvorschlag zu stimmen, sollte er nach dem EU-Gipfel am 17. Oktober noch Bestand haben. Hinter den Kulissen finden zudem Geheimgespräche zwischen Vertrauten der Premierministerin und pro-europäischen Abgeordneten der oppositionellen Labour Party statt, um sich deren Unterstützung bei einer einer solchen Abstimmung zu sichern.

Zwar würden die Sozialdemokraten um Jeremy Corbyn am liebsten Neuwahlen forcieren, um selbst an die Macht zu kommen, doch haben sie sich auf ihrem Parteitag Ende September in Liverpool zum Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Zollunion und dem Binnenmarkt bekannt. Die Mehrheit im Parlament ist eindeutig für einen sanften Brexit. Es bleibt lediglich die Frage, wie die Brexiteers auf ihre baldige Niederlage reagieren und ob es dann zur Spaltung der konservativen Partei kommt. In Nordirland werden die katholischen Nationalisten und die gemäßigten Unionisten der DUP niemals verzeihen, wie sie in der Brexit-Krise aus parteipolitischem Kalkül den gesellschaftlichen Frieden aufs Spiel gesetzt hat. Auch in Schottland dürfte die unsägliche Form, in der sich der englische Chauvinismus in den letzten beiden Jahren manifestiert hat, dem Drang Richtung Unabhängigkeit Auftrieb verliehen.

11. Oktober 2018


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