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PARTEIEN/370: Brexit - der Druck nimmt zu ... (SB)


Brexit - der Druck nimmt zu ...


Zwei Wochen nachdem Theresa May mit 432 zu 202 Stimmen die mit Abstand schwerste Niederlage in der parlamentarischen Geschichte Großbritanniens eingefahren hatte, konnte die britische Premierministerin am 29. Januar ihre konservative Partei und die zehn Abgeordneten der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) aus Nordirland, von deren Wohl das Überleben ihrer Minderheitsregierung abhängt, geschlossen hinter sich bringen. Bei beiden Abstimmungen im Londoner Unterhaus ging es um das Abkommen, das May im Verlauf zweier Jahre harter Verhandlungen mit Brüssel über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (EU) vereinbart hatte. Was steckt nun hinter "Theresa's Triumph", wie es das rechtsgerichtete Massenblatt Daily Express auf der Titelseite seiner heutigen Ausgabe bezeichnete?

Wochenlang hatte May den Deal, den sie im Dezember mit der EU endlich festgezurrt hatte, als einzig mögliche Lösung präsentiert. Die überwältigende Mehrheit gegen das "Withdrawal Agreement" kam am 15. Januar deshalb zustande, weil die Vereinbarung einerseits der Opposition aus Sozialdemokraten, schottischen Nationalisten und Liberalen in Richtung Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion nicht weit genug, andererseits den chauvinistischen englischen Brexiteers unter den konservativen Hinterbänklern sowie der DUP zu weit ging. Die reaktionären Democratic Unionists, die seit zweieinhalb Jahren das Votum der Mehrheit der nordirischen Wähler für den Verbleib in der EU mutwillig ignorieren, und die Brüssel-Gegner der European Research Group (ERG) um Galionsfigur Jacob Rees-Mogg störten sich vor allem daran, daß das Austrittsabkommen das Vereinigte Königreich solange an die europäische Zollunion binden sollte, bis ein Weg gefunden worden wäre, wie man künftig den bilateralen Handel betreiben könne, ohne feste Installationen an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland errichten zu müssen.

Doch statt sich um einen breiten Konsens über alle Parteischranken hinweg zu bemühen, hatte May die letzten zwei Wochen damit verbracht, die etwa 130 Tory-Rebellen in den eigenen Reihen sowie die DUP wieder auf Regierungslinie zu bringen. Zum Werben um Nordirlands stärkste protestantische Partei gehörte ein Abendessen samt Übernachtung für den DUP-Fraktionschef im Unterhaus Nigel Dodds und DUP-Chefin Arlene Foster samt ihrer jeweiligen Ehegatten am vergangenen Freitag im Landsitz der britischen Premierministerin in Chequers. Das Ergebnis vierzehntägigen Hinterzimmergerangels war eine Kehrtwende Mays um 180 Grad. Am 29. Januar machte sie sich im Unterhaus für eine Resolution stark, derzufolge sie Brüssel eine Annahme des Austrittsabkommens, vorausgesetzt, der sogenannte "Backstop" zur Aufrechterhaltung einer unsichtbaren Grenze auf der Insel Irland werde gestrichen, anbieten sollte - und gewann!

Die Perfidie Albions trieb an diesem Abend im Palast von Westminster neue Blüten. Während der lebhaften Unterhausdebatte räumte May nicht nur ein, sie habe keine Ahnung, wie die von ihr anzustrebenden "alternativen Arrangements" zum nordirischen Backstop aussehen könnten, sondern erklärte auf die Frage des ERG-Mitglieds Peter Bone unverblümt, natürlich könne das Parlament das Ergebnis der nächsten Verhandlungen mit Brüssel ablehnen, wenn es so beliebe.

In Brüssel und den anderen Hauptstädten der EU-27 herrschte Verärgerung und Fassungslosigkeit über die Unverfrorenheit der Tory-Regierung Mays und ihre mangelnde Bereitschaft zum Kompromiß und zur Zusammenarbeit. Den Festlandseuropäern wurde spätestens an diesem Abend klar, daß ihnen aus London mit dem ungeordneten EU-Austritt und dessen katastrophalen Folgen gedroht wird, damit sie endlich die Republik Irland zum Verzicht auf den Backstop zwingen. Bislang jedenfalls ist die Rechnung der Briten nicht aufgegangen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der deutsche Außenminister Heiko Maas und der polnische EU-Kommissionspräsident Donald Tusk haben in Reaktion auf die Nachricht vom "Sieg" Mays bei der Unterhausabstimmung erklärt, daß Dublin nicht im Stich gelassen werde, das Austrittsabkommen nicht neu verhandelbar sei und am Backstop festgehalten werde, komme was wolle. Irlands Außenminister Simon Coveney hat im Radiointerview heute morgen das Vorgehen Londons als "Erpressung" bezeichnet und erneut daran erinnert, daß die Europhoben-Clique um May mit ihrem Streben nach dem härtestmöglichen Brexit ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges in Nordirland riskierten.

Die schärfste Kritik an ihrem durchsichtigen Verhalten mußten sich die May-Regierung und die DUP nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses aus dem Munde von Ian Blackford, dem Fraktionschef der Scottish National Party (SNP) im Unterhaus, anhören. Dieser stellte mit Empörung fest: "Uns wurde erklärte, der Backstop diene dem Schutz des [nordirischen - Anm. d. SB-Red.] Friedensprozesses, doch heute abend hat die Conservative Party im Endeffekt das Karfreitagsabkommen in Stücke gerissen. Über das Unterhaus ist Schande gebracht worden. Die Mißachtung der Regierung des Vereinigten Königreichs gegenüber den anderen Teilen der britischen Inseln ist krass. Diese Regierung, das Parlament in Westminster und die Tory-Partei bringen den anderen Regionen des Vereinigten Königreichs und ihren Administrationen keinerlei Respekt entgegen."

Die schäbigste Episode dieses denkwürdigen Abends hatte etwas früher, während der offiziellen Rede Blackfords, ihren Lauf genommen. Als der SNP-Vertreter auf die Gefahren eines ungeordneten EU-Austritts hinwies und dabei aus der gemeinsamen Warnung der Chefs der größten britischen Supermarktketten vor einem Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung zitierte, machte sich Sammy Wilson von der DUP mit dem Einwurf - "Sollen sie doch alle zum Chippy [nordischer Slang für Fisch-und-Chips-Laden - Anm. d. SB-Red.] gehen" - über den Diskussionsbeitrag Blackfords lustig. Die ERG und die DUP sind tatsächlich auf dem besten Weg, den gefürchteten No-Deal-Brexit herbeizuführen. Sollte es am 29. März tatsächlich dazu kommen, werden die wenigsten Menschen - weder im Vereinigten Königreich noch in der EU - etwas zu lachen haben.

30. Januar 2019


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