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PARTEIEN/396: Brexit - Zeit für alte Animositäten ... (SB)


Brexit - Zeit für alte Animositäten...


Der überwältigende Sieg, den die Konservativen bei der britischen Unterhauswahl am 12. Dezember erzielt haben, ermöglicht es Premierminister Boris Johnson, seinen Plan zum Vollzug des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (EU) Ende Januar 2020 zu verwirklichen. Die Tories haben von den 650 Sitzen im Unterhaus 365 gewonnen und damit für die kommende Legislaturperiode eine absolute Mehrheit von 80 Sitzen erzielt, was ihr bestes Ergebnis seit 1987 gewesen ist. Die Sozialdemokraten dagegen haben unter der Führung des langjährigen Friedensaktivisten Jeremy Corbyn, den die rechte Presse Großbritanniens erfolgreich zum IRA-Sympathisanten und vaterlandslosen Gesellen gestempelt hat, 60 Sitze verloren und mit nur 202 errungenen Mandaten ihr schlechtestes Ergebnis seit 1935 eingefahren.

Doch nicht nur deshalb war der Wahlausgang historisch. Zum Durchmarsch der Konservativen in den einstigen Hochburgen der Sozialdemokraten im Norden und in der Mitte Englands kam die Eroberung von 48 der 55 schottischen Sitze durch die die Unabhängigkeit anstrebende Scottish National Party - vor zwei Jahren hatte die SNP lediglich 34 bekommen - und das sichtbare Wegbröckeln der traditionellen Dominanz protestantisch-probritischer Kräfte in Nordirland. Dort haben erstmals seit der Teilung Irlands 1921 die Nationalisten, welche die Teilung der grünen Insel als unnatürlich betrachten und deshalb beenden wollen, mehr Mandate bekommen als die Unionisten, die für den Verbleib im Vereinigten Königreich kämpfen. Nicht zu Unrecht hat am Tag nach der Unterhauswahl der Premierminister der Republik Irland, Leo Varadkar, mit Blick auf die veränderten Kräfteverhältnisse in Nordirland von einer "Verschiebung der tektonischen Platten" gesprochen.

Varadkar war es, der noch im November bei einem Sondertreffen nahe Liverpool Johnsons entscheidende Veränderung am britischen Konzept eines EU-Austrittsabkommens - genannt Withdrawal Agreement - abnahm und Brüssel damit grünes Licht für einen Deal erteilte. Die Veränderung sieht die künftige Durchführung von Zollkontrollen zwischen EU-Mitgliedsstaat Republik Irland und Großbritannien an den See- und Lufthäfen beiderseits der Irischen See und nicht an der Landesgrenze zwischen Nord- und Südirland vor. Gegen dieses Vorhaben lief die Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Abgeordnete im Unterhaus zwei Jahre lang die Minderheitsregierung Theresa Mays über Wasser gehalten hatten, Sturm und warf Tory-Chef Johnson vor, Ulsters königshaustreue Protestanten verraten und verkauft zu haben. Bei der britischen Unterhauswahl haben alle Wehklagen der DUP nicht im geringsten geholfen. Schließlich hatte bei der Volksbefragung 2016 eine Mehrheit der Wähler in Nordirland gegen den EU-Austritt votiert.

Mit ihrem halsstarrigen Eintritt für den Brexit und damit potentiell für die Wiedererrichtung einer harten Grenze samt militärischer Überwachungsposten von Derry bis Dundalk, was natürlich das Risiko eines Wiederaufflammens der Troubles mit sich brächte, hat die einst von Pfarrer Ian Paisley gegründete Partei die Vormachtstellung des Unionismus in der Unruheprovinz endgültig verspielt. Der DUP-Fraktionschef im Unterhaus Nigel Dodds hat die frühere unionistische Hochburg North Belfast ausgerechnet an den Sinn-Féin-Politiker John Finucane verloren, dessen Vater, der Menschenrechtsanwalt Pat Finucane, 1989 von loyalistischen Paramilitärs im Auftrag staatlicher Stellen am hellichten Tag in der eigenen Küche vor den Augen von Frau und Kindern ermordet worden war. Die Democratic Unionists haben zudem South Belfast an die gemäßigte nationalistische Social Democratic Labour Party (SDLP) verloren und den mehrheitlich protestantisch bewohnten Bezirk North Down, wo die liberale unabhängige Unionistin Sylvia Hermon aus Altergründen ihren Sitz abgab, nicht erobern können. Diesen schnappte sich der stellvertretende Vorsitzende der überkonfessionellen Alliance Party Stephen Farry. Waren 2017 in Nordirland 10 Sitze an die DUP, 7 an Sinn Féin und einer an Sylvia Hermon gegangen, so sah die Sitzverteilung diesmal so aus: DUP 8, Sinn Féin 7, SDLP 2, Alliance 1.

Unter Anwesenheit des Nordirlandministers Julian Smith und des irischen Außenministers Simon Coveney setzten sich am 16. Dezember die führenden Vertreter der nordirischen Parteien zusammen, um über eine Wiederbelebung der interkonfessionellen Regierung Nordirlands sowie der Regionalversammlung in Belfast, die wegen Dauerquerelen seit Anfang 2017 nicht mehr arbeiten, zu beraten. Alle Beteiligten dürften bestrebt sein, die negativen Folgen des Brexit für Nordirland auf einem Minimum zu halten. Dasselbe gilt für die schottische Autonomieregierung in Edinburgh. Am Tag nach der Unterhauswahl hat die SNP-Vorsitzende und Premierministerin Nicola Sturgeon unter Verweis auf den dramatischen Stimmenzuwachs für ihre Partei die Durchführung einer erneuten Volksbefragung über die Unabhängigkeit Schottlands im Jahr 2021 verkündet. Obwohl die Entscheidung darüber eigentlich in London liegt, pocht Sturgeon auf das alleinige Selbstbestimmungsrecht der schottischen Nation und legt es damit auf einen erbitterten Machtkampf mit Boris Johnson an, der ihr Ansinnen vollkommen ablehnt.

Der britische Premierminister war seinerseits am Tag nach der Wahl demonstrativ ins nordenglische Sedgefield, den ehemaligen Wahlbezirk Tony Blairs, gefahren, wo er den vielen traditionellen Labour-Wählern, die diesmal den Tories ihre Stimmen gegeben hatten, "blühende Landschaften" à la Helmut Kohl versprach. Dabei stellte Johnson eine Rundumerneuerung des staatlichen Gesundheitssystems NHS, Milliardeninvestitionen in das marode öffentliche Verkehrssystem zwischen Sheffield und Newcastle sowie die Schaffung Tausender neuer Arbeitsstellen bei der Polizei in Aussicht. Die Konservativen seien nicht mehr allein die Partei des Landadels und der Londoner Bankiers, sondern des ganzen Volkes; nach den jahrelangen Brexitstreitereien wolle er das Land "heilen", so Johnson wörtlich.

Wollte der ehemalige Außenminister Theresa Mays dies tatsächlich, wäre er bestrebt, mit Brüssel einen "sanften" Brexit auszuhandeln, der dem Vereinigten Königreich einen privilegierten Zugang zum europäischen Binnenmarkt sichert. Auf diese Weise wären am ehesten die Unabhängigkeitsbestrebungen der mehrheitlich EU-freundlichen Schotten einzufangen und der Trend Richtung Beendigung der Union Nordirlands mit Großbritannien und die Wiedervereinigung Irlands auszubremsen. Statt dessen schlägt Johnson genau den gegenteiligen Kurs ein, wie Number 10 Downing Street am Abend des 17. Dezember verlautbaren ließ. Im Rahmen der geplanten Verabschiedung des Withdrawal Act noch vor Weihnachten - woraufhin der formelle EU-Austritt am 31. Januar erfolgt - will der konservative Premierminister eine Gesetzesnovelle verabschieden lassen, welche eine Verlängerung der vereinbarten Übergangsphase - sprich der weiteren Bindung Großbritanniens an die EU-Regeln - über den vorgesehenen 31. Dezember 2020 ausdrücklich verbietet. Weil in elf Monaten ein umfassendes Handelsabkommen kaum zu realisieren sein wird, droht Johnson den EU-27 erneut mit dem "No-Deal-Brexit" einschließlich den damit verbundenen katastrophalen Folgen für Waren- und Personenverkehr. Wie die Noch-EU-Partner Großbritanniens auf das erneute Muskelspiel John Bulls reagieren, muß sich erst zeigen. An den internationalen Börsen brach jedenfalls der Kurs des britischen Pfunds wegen der Aussicht auf neuen Streß am Ärmelkanal ein.

17. Dezember 2019


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