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BERICHT/004: "EU am Ende?" - Debatte über "Alternativen zum kapitalistischen System" (SB)


Podiumsdiskussion in Berlin-Mitte am 28. Oktober 2011

Heinz Dieterich - Foto: © 2011 by Schattenblick

Heinz Dieterich
Foto: © 2011 by Schattenblick

Am 28. Oktober fand in der Ladengalerie der jungen Welt in der Berliner Torstraße eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion zum Thema jener Finanzkrise statt, die die Weltwirtschaft seit Herbst 2008 in ihrem Griff hält und aller Voraussicht nach weiter eskaliert. Anlaß zum Diskussionsabend mit dem Titel "EU am Ende? Alternativen zum kapitalistischen System" war die gleichnamige Konferenz, die am darauffolgenden Tag im Karl-Liebknecht-Haus stattfinden sollte. An der Diskussion in der jW-Ladengalerie nahmen mehrere Mitglieder einer internationalen Forschungsgemeinschaft teil, die auf der Konferenz ihr neues Buch über Wege aus der Krise und die Überwindung des kapitalistischen Systems vorstellen sollten. Während der Diplomökonom Günter Buhlke die Moderation übernahm, führten Heinz Dieterich, Paul Cockshott, Carsten Stahmer und Klaus Bartsch das Publikum in die Funktionsweise des herrschenden Wirtschaftssystems ein, erläuterten die Gründe seiner inhärenten Krisenanfälligkeit und machten Vorschläge, wie Ökonomie zum Wohle aller und nicht nur des Großkapitals organisiert werden müßte.

Als erster Referent sprach Prof. Heinz Dieterich. Der Schüler Theodor W. Adornos und Max Horkheimers lehrt seit 1977 Soziologie an der Universidad Autónoma Metropolitana (UAM) in Mexiko-Stadt. Seine Schriften hatten einigen Anteil am Wiedererstarken der Linken in Lateinamerika, wenngleich Dieterich seit einiger Zeit mit Kritik an einzelnen Aspekten der Politik des Präsidenten Venezuela, Hugo Chávez, hervorgetreten ist. Ein besonderes Anliegen ist es dem Wissenschaftler, die um neue Forschungsergebnisse und Anregungen, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Konferenz im Februar 2010 in Berlin beisteuerten, erweiterte Neuauflage des letztes Jahr erschienenen Buchs "Sozialismus XXI: Übergangsprogramm zum demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Europa" [1] zum Anlaß einer intensiven Auseinandersetzung mit Fragen gesellschaftlicher Veränderung zu machen.

Es handelt sich nicht nur um ein Werk, sondern ein Projekt, das zu einem Gutteil in der Nachfolgeschaft des Mitte der 1990er Jahre von Heinz Dieterich verfaßten und seit 2005 international verbreiteten Grundlagenwerks "Sozialismus XXI: Übergang zum demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert" steht. An diesem umfangreichen Forschungsansatz sind kapitalismuskritische Wissenschaftler aus Europa, Nord- und Südamerika sowie Japan zusammen mit Kollegen von der chinesischen Akademie der Sozialwissenschaft im Rahmen des sogenannten World Advanced Research Program (WARP) seit vielen Jahren beteiligt.

Laut Dieterich zeichnet die Forschungsgruppe im jüngsten Buch konkrete Wege des Übergangs vom Kapitalismus in eine gerechtere Welt auf. Daß dieser Schritt längst fällig sei, hätten viele Menschen inzwischen erkannt, so Dieterich, der in diesem Zusammenhang auf das am 21. Oktober im Neuen Deutschland erschienene Interview mit Ex-Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine verwies. Dieterich sprach dabei von der "Wissenschaft der Transition", das heißt von einer Bündelung der Zusammenarbeit der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, um angesichts der gewaltigen Herausforderungen wie Ressourcenverknappung und Umweltzerstörung den Wechsel zu einer humaneren Gesellschaftsform zu gewährleisten. Ohne den Argumenten der Kollegen vorgreifen zu wollen, erklärte Dieterich, nach Ansicht der Forschungsgruppe bestünde der wichtigste Schritt zur Abkehr vom Kapitalismus darin, daß die Bevölkerung den vollen Ertrag des von ihr erbrachten Arbeitswerts - abzüglich anfallender gesellschaftlicher Abgaben für Erziehung, Gesundheitsversorgung usw. - erhält. Durch die Abschaffung der Existenzgrundlage des Großkapitals, nämlich der Mehrwertabschöpfung, würde man dessen Fortbestand den entscheidenden Riegel vorschieben.

Klaus Bartsch - Foto: © 2011 by Schattenblick

Klaus Bartsch
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Der Referent Klaus Bartsch ist seit Jahren als selbständiger Politikberater aktiv. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen auf dem "Bau und Betrieb makroökonomischer, regionalökonomischer und mesoökonomischer Prognose- und Simulationsmodelle", der "Abschätzung der Umsetzungseffekte von wirtschaftspolitischen Handlungsoptionen bzw. der Veränderung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen auf Volks- und Regionalwirtschaften sowie einzelne Branchen" sowie der "Unterstützung der Durchführung von Konjunktur- und Wachstumsprognosen" [2]. Bartsch hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Studien, etwa für das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans- Böckler-Stiftung, veröffentlicht.

Er sieht die westlichen Industriestaaten durch eine Diktatur des Kapitals bedroht, so daß der Kampf um die Veränderung der Gesellschaft unausweichlich sei. Die Ursprünge der heutigen Krise lägen in der Abkehr der USA vom Keynesianismus während der Präsidentschaft des Republikaners Richard Nixon Anfang der siebziger Jahre. Seitdem befände sich das Land fest im Griff der neoliberalen Ökonomiedoktrin eines Milton Friedman, die ihren Ausdruck in der scheinbar unaufhaltsamen Deregulierung der verschiedenen Bereiche der Wirtschaft gefunden habe. Die Finanz- und Wirtschaftspolitik der EU sei 2002 mit der Einführung der gemeinsamen Währung Euro einer entscheidenden Veränderung unterzogen worden.

Gegenüber der exportorientierten Wirtschaft Deutschlands seien immer größere Handelsdefizite bei den südlichen EU-Mitgliedstaaten entstanden. Die rotgrüne Bundesregierung habe dem dramatischen Ausbau des dazu erforderlichen Niedriglohnsektors bei entsprechendem Abbau der Arbeitnehmerrechte in Deutschland den Weg geebnet. Die hohe Verschuldung der südlichen EU-Peripherie sei zunächst kein allzu dringendes Problem gewesen; das brach, laut Bartsch, erst mit der Abwahl der konservativen Regierung in Griechenland aus. Er erinnerte an die Buchhaltungsmanipulationen der New Yorker Investmentbank Goldman Sachs, mittels derer die griechische Regierung den Beitritt ihres Landes in die Eurozone erwirkte. Erst als 2009 in Athen die Sozialisten an die Macht kamen und die Goldman-Sachs-Berater vor die Tür setzten, wären die griechischen Staatsschulden an den Finanzmärkten zum großen Thema geworden.

In der Euro-Krise wetteten die Banken an den internationalen Börsen gegen ihre staatlichen Retter und trieben deren politische Führungen so vor sich her. Zwecks Reduzierung der Verschuldung der öffentlichen Hand würden die Politiker in allen EU-Staaten auf strengste Austeritätspolitik setzen. Damit säge man auch in Deutschland an dem Ast, auf dem man sitze. Bartsch zufolge wickelt die Bundesrepublik 60 Prozent ihres Handels mit den anderen EU-Ländern ab, doch ihr Exportüberschuß sinke in Folge der staatlichen Ausgabenkürzungen bereits.

Der Referent verglich die derzeitige Situation mit der Wirtschaftskrise in der Zeit zwischen 1929 und 1931. Ihm zufolge bestehe das Zentralproblem Deutschlands in der Niedriglohnpolitik nach den Hartz-IV-Gesetzen und der Exportabhängigkeit. Laut Bartsch könnte die aktuelle Krise durch eine Koordinierung der Wirtschaft und eine sinnvolle Ressourcenlenkung bewältigt werden, wozu die Verstaatlichung der Banken gehöre. Die Macht der Ratingagenturen, die im Sinne des US-amerikanischen Finanzkapitals agierten und der Ideologie des Neoliberalismus frönten, müsse gebrochen werden. Statt sich ihren Forderungen zu unterwerfen, sollte man eine zentral koordinierte Wirtschaftspolitik betreiben, wie sie Peter Bofinger, der einzige Keynesianer im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, verlangt. Es ginge darum, die Nachfrage zu stimulieren und sich von der allzu engen Fixierung auf die Rahmenparameter der Austerität zu lösen. Denn hätten die deutschen Arbeitnehmer mehr Geld in der Tasche, dann könnten mehr von ihnen nach Griechenland oder ein anderes Land im Süden der EU reisen, was deren Volkswirtschaften zugute käme, so Bartsch zum Ende seiner Ausführungen.

Paul Cockshott - Foto: © 2011 by Schattenblick

Paul Cockshott
Foto: © 2011 by Schattenblick
Der an der Universität Glasgow in Schottland lehrende Ökonom und Informatiker Paul Cockshott gab eingangs zu bedenken, daß Sozialisten neue Ideen zur Veränderung der Gesellschaft entwickeln müßten, um politisch wirksam zu werden. Er hat zusammen mit dem Wirtschaftswissenschaftler Allin Cottrell das 1993 veröffentlichte Grundlagenwerk "Towards a new socialism" über ein Konzept zur informationstechnischen Innovation sozialer Systeme verfaßt [3] und darin "Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie" empfohlen. Laut Cockshott liegen die Wurzeln der aktuellen Eurokrise tiefer als der Vertrag von Maastricht und die Gründung der Währungsunion. Vielmehr habe man es mit einem grundlegenden Problem der Zivilisation zu tun. Kapitalismus brauche eine große Arbeiterschaft, erklärte er, aber die Bevölkerungen in den Ländern der EU wüchsen seit den siebziger Jahren nicht mehr. Die Abwanderung vom Land in die Städte sei zum Erliegen gekommen und die Geburtenrate stark zurückgegangen. Die Profitrate könne jedoch nur anwachsen, wenn die Geburtrate ebenfalls anstiege - wie in Nordamerika und Europa im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sobald die Geburtenrate sinke, schlage sich dies in einer Verringerung der Profitrate nieder. Wegen dieser Entwicklung sei die Klasse der Kapitaleigner, die der Industrie die notwendigen Investitionen zur Verfügung gestellt habe, Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre dazu übergegangen, Geld an den Staat und private Konsumenten zu verleihen. Im Ergebnis dieses Kurswechsels sei ein exponentieller Anstieg der Verschuldung in den Volkswirtschaften Europas und Nordamerikas eingetreten.

Zur Bewältigung der Schuldenkrise werde nun eine Austeritätspolitik betrieben, in deren Rahmen das von der Bevölkerung erwirtschaftete Vermögen zu Billigpreisen veräußert werde. Cockshott machte in dem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß das Investment der Kapitaleigner und die Staatsschulden zwei Seiten der gleichen Medaille seien. Eine Alternativlösung bestünde darin, eine gewisse Inflation zuzulassen, die eine allmähliche Verringerung des Wertes der Kapitalinvestitionen bewirke.

Demgegenüber empfiehlt die Forschergemeinschaft eine generelle Schuldenstreichung und eine Nullzinspolitik. Statt dessen sollte der Wert der Arbeit in der für sie aufgewendeten Zeit bemessen werden. Der Arbeiter sollte den vollen Wert dessen, was er produziert, erhalten, während die Geldspekulation generell verboten werden sollte. Wenn die für die geleistete Arbeit verwendete Zeit äquivalent zu den in Anspruch genommenen Produkten oder Dienstleistungen genommen werde, der Wert der Arbeit also vollständig materialisiert werde, bedeutete dies auch das Ende der Mehrwertabschöpfung.

Cockschott plädierte dafür, dieses Äquivalenzprinzip zur Grundlage der gesellschaftlichen Produktivität zu erheben. Das Prinzip, daß dem Arbeiter der vollständige Wert der von ihm geleisteten Arbeit abzüglich staatlicher Abgaben zur Sicherung öffentlicher Zwecke zugute kommen soll, müsse als grundlegendes Menschenrecht verankert werden, um der kapitalistischen Mehrwertabschöpfung wirksam den Boden zu entziehen. Zudem müsse der Übergang zu einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts mit einem Ende der Schuldenknechtschaft einhergehen. Ein entsprechendes Verbot sollte von der EU gesetzlich verankert werden. Die Streichung sämtlicher Schulden wirke sich auf die Nutznießer einer Kapitalrente ähnlich einschränkend aus wie die Abschaffung der Sklaverei für die Sklavenhalter der Südstaaten durch Abraham Lincoln. Zwar bräuchten Unternehmen dennoch weiterhin Kredit, um ihre geschäftlichen Aktivitäten gewährleisten zu können. Das könne jedoch kein Problem sein, denn durch einen generellen Schuldenschnitt wären auch die Banken wieder liquide und zur Kreditvergabe fähig.

Die Entrichtung von Steuern zwecks Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben wäre nach wie vor erforderlich. Deshalb sollte es auf EU-Ebene eine gewählte Volksvertretung mit der Macht der Steuererhebung geben. Gleichzeitig sollten die Bürger der EU das Recht erhalten, Gesetzesinitiativen voranzubringen, anstatt dies Berufspolitikern zu überlassen. Über entsprechende Gesetzesentwürfe könnte bei EU-weiten Volksentscheiden abgestimmt werden. Das wäre für Cockshott eine Demokratisierung der EU bei gleichzeitiger Stärkung der zentralen Exekutive in Brüssel und Strasbourg.

Carsten Stahmer - Foto: © 2011 by Schattenblick

Carsten Stahmer
Foto: © 2011 by Schattenblick
Als letzter Referent ging der Volkswirt Carsten Stahmer der nicht unkomplizierten Frage nach, wie sich in einer postkapitalistischen Ära die von Cockshott avisierte Arbeitswertberechnung auf der Mikroebene erzielen ließe. Stahmer gilt als Koryphäe der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen und hat dieses wissenschaftliche Feld seit Anfang der 1990er Jahre durch die von ihm konzipierten Input-Output-Tabellen nach Zeit (ZIOT), physischer Größen (PIOT) und monetär (MIOT) bereichert.

Stahmer meinte, daß die herkömmlichen Entlohnungsmodelle erweiterte werden müßten, um bisher unberücksichtige Aspekte der volkwirtschaftlichen Aktivität wie die unbezahlte Arbeit, die in der Regel von Frauen in Form der Kindererziehung und der Altenpflege geleistet wird, einzubeziehen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit bestehe allerdings in der Bemeßbarkeit der Arbeit, die in ihrer komplizierten Entfaltung niemals vollständig evaluiert werden könne. Um dieser Komplexität dennoch Herr zu werden, stellten Statistiker über längere Fristen und anhand von Mittelwerten entsprechende Berechnungen an. Am Beispiel der Erziehungsleistung führte Stahmer, der einen großen Teil seiner beruflichen Laufbahn beim Statistischen Bundesamt (destatis) verbracht hat und 1993 mit dem UN-Handbook of National Accounting "Integrated Environmental and Economic Accounting" als Statistiker international bekannt wurde, die Probleme aus, die bei der Berechnung einer Größe wie der des Erziehungswerts auftreten. Das mache die Input-Output-Analyse, ein methodisches Werkzeug der empirischen Wirtschaftsforschung, das im Projekt Sozialismus XXI von zentraler Bedeutung ist, so faszinierend. Als weiteres Beispiel für die Problematik der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wies Stahmer auf die Rolle des Marketing und der Werbung hin, deren Beitrag zum Endprodukt nur sehr schwer, wenn überhaupt, zu ermitteln wäre. Auch hier biete sich an, die geleistete Arbeitszeit zum Maßstab zu erheben. Darüberhinaus betonte Stahmer die Bedeutung der ökologischen Frage und zeigte sich überzeugt, daß sich nur durch einen schonenden Umgang mit der Umwelt ein zukunftsträchtiger Ausweg aus der aktuellen Krise finden lasse.

Nachdem die Referenten ihren Standpunkt dargelegt hatten, stellten sie sich den Fragen des Publikums. Es kam zu einer lebhaften Diskussion, wobei die differenzierten Fragestellungen erkennen ließen, daß zumeist schon länger mit dem Projekt eines Sozialismus für das 21. Jahrhundert befaßte Zuhörer den Weg in die jW-Ladengalerie gefunden hatten. Zum Vergleich der Forderung nach einem Verbot der Lohnknechtschaft in der EU mit der Abschaffung der Sklaverei in den USA machte ein Zuhörer geltend, daß es Lincoln im Bürgerkrieg nicht um das Wohl der Schwarzen gegangen sei, sondern er die Vormacht des Nordens, wo die industrielle Revolution bereits Einzug gehalten hatte, über die landwirtschaftlich geprägten Südstaaten sicherstellen wollte. Cockshott räumte die historischen Unterschiede ein, wies jedoch darauf hin, daß die Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei weltweit wie auch in den USA klein angefangen und diese Forderung zunächst als vollkommen illusorisch gegolten habe. Zur Abschaffung der Lohnsklaverei wäre eine demokratische EU, die diesen Namen verdiene, erforderlich. Sobald die politische Macht dazu vorhanden sei, wäre die Verabschiedung der entsprechende Gesetze kein Problem. Dagegen wäre die Etablierung einer optimalen Wirtschaftslenkung schwieriger und benötigte Zeit und Praxis, so der Schotte.

Fragen aus dem Publikum - Foto: © 2011 by Schattenblick

Eine notwendige Debatte nimmt ihren Lauf
Foto: © 2011 by Schattenblick

Aus entwicklungspolitischer Sicht aufgegriffen wurde Cockshotts Behauptung, die Kapitalakkumulation in den hochentwickelten Volkswirtschaften der westlichen Industriestaaten sei aus demographischen Gründen nicht mehr steigerbar. Der Referent bekräftigte, daß der Kapitalismus in Nordamerika und Europa ein Niveau erreicht habe, von dem aus er sich nicht weiter entwickeln könne. Seiner Ansicht nach befände sich China in 20 bis 25 Jahren in einer Lage, die der Japans heute ähneln werde. In Indien werde das Erreichen dieses Stadiums noch länger dauern, das gelte um so mehr für den Staaten der arabischen Welt.

Auf die Fragen nach Möglichkeiten, einen Ausgleich der Lebensverhältnisse innerhalb EU zu schaffen, erinnerte Klaus Bartsch daran, daß die hohe Produktivität in Deutschland das Ergebnis schwacher Gewerkschaften und niedriger Löhne sei. In den anderen Mitgliedstaaten der EU hätten die Gewerkschaften in den vergangenen Jahren vergleichsweise hohe Lohnsteigerungen erkämpft. Doch nun werde ihnen seitens der Banken und Industrie in Form der Finanzkrise die Rechnung für ihre Aufmüpfigkeit präsentiert. Eine expansive Lohnpolitik sei laut Bartsch in Deutschland dringend erforderlich, während Hartz IV auch aus diesem Grunde abgeschafft werden müsse. In Deutschland hätte das Großkapital aus strategischen Überlegungen heraus für ständigen Druck auf die Löhne gesorgt, so daß diese mit dem Produktivitätszuwachs nicht hätten Schritt halten können. Es gebe in Deutschland ein hohes Arbeitsaufkommen, das aber schlecht verteilt sei.

Bartsch warf die Frage auf, wie die Lohnabhängigen in Deutschland dazu befähigt werden könnten, sich gegenüber der Arbeitgeberseite durchzusetzen. Er berührte damit einen Punkt, der mehrere Zuhörer beschäftigte, die die Frage nach der Umsetzung der vorgestellten Theorien stellten. Die Debatte zur Praxis blieb jedoch eher dürftig, wenn man einmal von der Forderung Dieterichs, sich mit den Inhalten des vorgestellten Buchs zu beschäftigen, um eine gesellschaftliche Veränderung anzuschieben, absieht. Auch konnte zu der Frage, inwiefern die von Cockshott geforderte Verrechtlichung des Äquivalenzprinzips in der Arbeit Gefahr laufe, nicht arbeitsfähige Menschen unter den moralischen Druck eines nach wie vor nicht aufgehobenen Leistungsprinzips zu stellen, keine befriedigende Antwort gefunden werden. Auf die nicht nur auf kapitalistische Formen der Ausbeutung bezogene Kritik an der Arbeitsgesellschaft, wie sie in der radikalen Linken der Bundesrepublik geleistet wurde, wäre daher noch einzugehen.

Carsten Stahmer bezog dazu insofern Stellung, als er meinte, daß seinen Berechnungen nach eine radikale Arbeitszeitverkürzung für den Einzelnen erzielt werden könnte. Ihm schwebe eine Assoziation freier Individuen vor. Wer auf Konsum verzichten wolle, hätte mehr Freizeit und umgekehrt. Was die Frage des Bedarfs betrifft, so seien die am WARP beteiligten Ökonomen vom gesamtgesellschaftlichen Angebot ausgegangen, aber bekanntlich gingen die Menschen nicht die ganze Zeit arbeiteten, sondern machten auch andere Dinge. Auf die Güterproduktion und ständiges Wirtschaftwachstum komme es in ihrem Modell jedenfalls nicht an. Ohnehin setze die Umwelt der Güternachfrage Grenzen. In diesem Zusammenhang plädierte Stahmer für eine dramatische Erhöhung der Energiepreise und Transportkosten - um den wirtschaftlichen Regionalismus zu stärken. Es sollte im Winter in Deutschland keine Erdbeeren mehr aus Australien geben, was auch die Umwelt schonen würde. Künftig solle zugunsten einer positiven Lebensführung sinnvoller Verzicht praktiziert werden, so seine angesichts bereits gegebener materieller Not vieler Europäer und der Frage, wer die Kriterien einer solchen Lebensführung definiert, brisante These.

Ansicht des Podiums - Foto: © 2011 by Schattenblick

Podium mit Moderator Günter Buhlke (links)
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Zum Schluß lud Heinz Dieterich das Publikum zu der am nächsten Tag stattfindenden Konferenz gleichen Titels zur Vertiefung der Diskussion ein. Die von der Europaparlamentarierin der Partei Die Linke, Sabine Wils, [4] organisierte Veranstaltung war mit einem größeren, politisch breiter aufgestellten Kreis von Referentinnen und Referenten versehen. Wils selbst war in der jW-Ladengalerie zugegen und nahm aus dem Publikum heraus Stellung zu den aufgeworfenen Fragen.

Dieterich schlug dem Publikum vor, das Buch der Forschergruppe zu erstehen und mit anderen zusammen zu studieren. Das revolutionäre Subjekt seien diejenigen, die die Machtfrage stellten, wobei sie stets darauf gefaßt sein müßten, daß auf diese Herausforderung mit Repressalien reagiert würde. Dies illustrierte Dieterich anhand eines vor kurzem erfolgten Treffens griechischer Gewerkschafter mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in London. Dieser hätte die griechischen Arbeiterinnen und Arbeiter gewarnt, daß sie die ihrem Land von EU, EZB und IWF verordnete Sparpolitik mittragen müßten, ansonsten drohe ein Ende der Demokratie und eine neue Militärdiktatur. Auf ähnlich antidemokratische Weise habe sich Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt drei Tage zuvor geäußert, so Dieterich. Mit der Kompetenz seiner lateinamerikanischen Sicht erklärte er, daß es nicht genüge, wenn die Menschen in den arabischen Ländern, die Indignados in Spanien oder die Teilnehmer der Occupy-Wall-Street-Bewegung in den USA ihre Empörung über das kapitalistische System artikulierten. Ohne Programm oder Forderungskatalog würden andere die gesellschaftlichen Umbrüche für sich zu nutzen wissen, wie der jüngste Sieg der Islamisten bei den Parlamentswahlen in Tunesien gezeigt hätte.

Die an diesem Abend angestoßenen Fragen und Debatten erfordern schon aufgrund ihres hohen theoretischen Niveaus eine ausführlichere Auseinandersetzung, handelt es sich bei Fragen zur Arbeitswertlehre oder den Parametern des Äquivalententausches doch um konstitutive Elemente jeglicher Vergesellschaftung. Zweifellos wirft eine zentralistische administrative Ordnung auf Basis informationstechnischer Systeme über den ökonomischen Grundansatz hinaus zahlreiche Fragen politischer, rechtlicher und kultureller Art auf. Ein auf starker Staatlichkeit basierendes Gesellschaftssystem, so einleuchtend es in der Überwindung ausbeuterischer und repressiver Verhältnisse sein mag, kann hinsichtlich der zu seiner Verwirklichung erforderlichen Eingriffstiefe nicht auf die leichte Schulter genommen werden, denkt man nur an die systemübergreifende Logik technokratischer und eugenischer Ansätze in den Wissenschaften. Was den beabsichtigten gesellschaftlichen Übergang betrifft, so hat Dieterich die Machtfrage nicht umsonst gestellt. Ihre Beantwortung konfrontiert alle gegen Ausbeutung und Unterdrückung kämpfende Menschen damit, sich nicht nur im Bereich des Wünschens und Hoffens, sondern der konkreten sozialen Praxis daraufhin zu prüfen, wie haltbar und fest die von ihnen gehegte Absicht ist.

Fußnoten:

[1] http://www.puk.de/de/nhp/1027-neues-buch-uebergangsprogramm-zum-demokratischen-sozialismus-des-21-jahrhunderts-in-europa.html

[2] http://bartscheconometrics.de/

[3] http://www.dcs.gla.ac.uk/publications/PAPERS/7954/planprojektb-idx.pdf

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/europool/report/euri0013.html

Schild der jW-Ladengalerie - Foto: © 2011 by Schattenblick

Treffpunkt in der Torstraße in Berlin-Mitte
Foto: © 2011 by Schattenblick

10. November 2011