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BERICHT/009: Irland geht alle an - Alte Steine, neue Kämpfe (SB)


Irland geht alle an - Alte Steine, neue Kämpfe

Flaggenproteste lassen Nordirland nicht zur Ruhe kommen



Fast 15 Jahre nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens, das formell den Bürgerkrieg zwischen der katholisch-nationalistischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) auf der einen Seite und der britischen Armee, der nordirischen Polizei und den protestantisch-probritischen Paramilitärs von der Ulster Volunteer Force (UVF) und der Ulster Defence Association (UDA) auf der anderen beendete, haben über Weihnachten und Neujahr 2012/2013 neue Unruhen Nordirland erschüttert und weltweit für Negativschlagzeilen gesorgt. Ab dem 3. Dezember gingen fast jeden Abend protestantische Demonstranten auf die Straße, um gegen eine Entscheidung des Belfaster Stadtrats zu protestieren, wonach die britische Fahne nicht wie bisher 365, sondern nur noch 18 Tage im Jahr bei bestimmten staatlichen Anlässen über der City Hall wehen sollte. Auch wenn die vor allem nachts recht gewalttätigen Flaggenproteste anti-katholische, rassistische Züge tragen, so weisen sie doch auf das gravierende Problem der Massenverelendung hin, die seit Jahren in den katholischen und protestantischen Arbeitervierteln Nordirlands herrscht.

Flaggenprotestler in der Belfaster Innenstadt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Loyalistische Jugend hält an ihrer Flagge fest
Foto: © 2013 by Schattenblick

Es überrascht wenig, daß die heftigsten Proteste der zurückliegenden Wochen an der Lower Newtownards Road im Ostbelfast zu beobachten waren. Im protestantischen East Belfast fanden einst Zehntausende gutbezahlte Arbeit bei Unternehmen wie Harland & Wolff, das die Titanic und zahlreiche andere Schiffe gebaut hat. Die einst mächtige Schwerindustrie am Ufer des Flusses Lagan fristet heute ein Schattendasein. Nur die beiden großen, von Krupp gebauten und unter Denkmalschutz stehenden Kräne "Samson and Goliath" zeugen noch von der Ära, in der Belfast die wohlhabendste und bevölkerungsreichste Stadt Irlands war. Die Gentrifizierung des einstigen Werftgeländes durch den Bau des "Titanic Quarter" mit Hotel, Wohnungen, Büros, Technologiepark und einem Filmstudio, in dem unter anderem die erfolgreiche HBO-Serie "Game of Thrones" gedreht wird, hat nur geringfügig zur Verringerung der Arbeitslosigkeit in den benachbarten, von sozialem Wohnungsbau geprägten Arbeitervierteln beigetragen.

Samson und Goliath überragen das Belfaster Hafenbecken - Foto: © 2013 by Schattenblick

Belfasts berühmte Wahrzeichen
Foto: © 2013 by Schattenblick

Mit ihrem Reichtum haben sich 1904 die Stadtväter von Belfast einen edwardianischen Prachtbau als Rathaus geleistet. In dessen Eingangshalle unterzeichneten im September 1912 auf einem mit der britischen Fahne drapierten Tisch Sir Edward Carson und die anderen führenden Unionisten den sogenannten Ulster Covenant. Darin erklärten sie offen ihre Bereitschaft, sich notfalls mit Waffengewalt der vom britischen Parlament beschlossenen Teilautonomie für das ganze, katholisch dominierte Irland zu widersetzen. Rund 240.000 nordirische Protestanten taten es ihnen gleich. Unterstützung erfuhren die königstreuen Unionisten bei ihrer antidemokratischen Aktion durch die damals im Londoner Unterhaus die Oppositionsrolle einnehmenden Konservativen und wesentliche Teile des britischen Offizierskorps. Letzteres machte den Ulster Volunteers - der Vorläuferorganisation der späteren UVF - die illegale Einfuhr größerer Mengen an Gewehren und Munition aus dem kaiserlichen Deutschland möglich. Zwar wurde die schwere innenpolitische Krise in Großbritannien um "Home Rule" für Irland im Sommer 1914 vom Ersten Weltkrieg überholt, doch der Grundstein für die Teilung der Insel war inzwischen längst gelegt. Sie erfolgte formell 1920, woraufhin die Unionisten als Symbol ewiger protestantischer Macht im irischen Nordosten das imposante Parlamentsgebäude Stormont auf einem Hügel vor den Toren Belfasts errichteten. Davor verewigten sie 1932 Carson mit einer überlebensgroßen Statue in betont kämpferischer Pose.

Rathaus von Belfast zu Weihnachten ausgeschmückt - Foto: © 2013 by Schattenblick

Belfast City Hall samt Weihnachtsmarkt, aber ohne Union Jack
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Gegend rund um die Lower Newtownards Road zeichnet sich seit Jahren durch Arbeits- und Perspektivlosigkeit sowie durch Drogenkriminalität aus, bei der loyalistische Paramilitärs, allen voran die UVF, die führende Rolle spielen. Hier sowie an der Shankill Road, dem größten Protestantenviertel im mehrheitlich katholischen West Belfast, das zugleich als Kerngebiet der UDA gilt, hat es keine nennenswerte "Friedensdividende" im Zuge der Beilegung der "Troubles" gegeben. Im Gegenteil erlebt die nordirische Unterschicht infolge der Austeritätspolitik Londons schmerzhafte Kürzungen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, die von einer Koalitionsregierung in Stormont aus der IRA-nahen Sinn Féin und der Democratic Unionist Party (DUP) umgesetzt wird. In den protestantischen Arbeitervierteln herrscht zudem eine allgemeine Politikverdrossenheit bei der Bevölkerung vor. Man fühlt sich von der DUP und der kleineren Ulster Unionist Party (UUP), die sich stets nach den Bedürfnissen der Wähler aus der protestantischen Mittelschicht richten, im Stich gelassen, ärgert sich über die Regierungsbeteiligung der "terroristischen" Sinn Féin und glaubt - entgegen allen Tatsachen -, daß deshalb bei der Verteilung öffentlicher Mittel die Katholiken inzwischen die Nase vorn haben.

Sozialwohnungen, Metallzäune und brachliegende Gelände - Foto: © 2013 by Schattenblick

Postindustrielle Tristesse an der Shankill Road
Foto: © 2013 by Schattenblick

Für den Ausbruch der Flaggenproteste gab es mehrere Gründe. Der wichtigste ist die widersprüchliche Interpretation des Karfreitagsabkommens selbst. Die Unionisten sehen darin vor allem die Festigung der Position Nordirlands im Vereinigten Königreich mit Großbritannien und haben damit nicht ganz unrecht. Schließlich hat sich im Sommer 1998 beim Plebiszit über das Abkommen die Bevölkerung der Republik Irland mehrheitlich für den Verzicht auf den verfassungsmäßigen Anspruch auf die ganze Insel als Staatsgebiet entschieden. Dafür wurde die Wiedervereinigung Irlands zum Staatsziel erklärt, während gleichzeitig im Karfreitagsabkommen der katholischen Bevölkerung Nordirlands das Recht, friedlich darauf hin zu arbeiten, eingeräumt wurde. Jedem Menschen in Nordirland steht seitdem ein irischer Paß zu, und er gilt nicht mehr automatisch als britischer Staatsbürger.

Zackige sternförmige Architektur der Postmoderne - Foto: © 2013 by Schattenblick

Das neue Prunkstück - maritimes Museum "Titanic Belfast"
Foto: © 2013 by Schattenblick

Als Ausgleich für den Verzicht der IRA auf den bewaffneten Kampf wurden sämtliche Beobachtungsposten und die allermeisten Basen der britischen Armee in Nordirland geräumt, während man die protestantisch-dominierte Royal Ulster Constabulary (RUC) in den neutraler klingenden Police Service of Northern Ireland (PSNI) umtaufte, der seitdem nicht ohne Erfolg um katholische Rekruten wirbt. Als Preis dafür, daß sich die (nord)irischen Republikaner aktiv an der Verwaltung der Provinz beteiligen, sollte im öffentlichen Raum kulturell ein "parity of esteem" gelten. Das heißt, britische Staatssymbole sollten keinen ausschließlichen Vorrang mehr genießen, sondern von irischen begleitet werden. Wo sich keine Einigung erzielen ließ, sollte auf beide verzichtet werden. Im Zuge dieser Veränderung hat man in der Flaggenfrage in Nordirland für alle öffentlichen Gebäude die Regelung übernommen, die ohnehin in Großbritannien praktiziert wird - hissen nur bei besonderen Anlässen wie dem Volkstrauertag oder dem Geburtstag eines Mitglieds der königlichen Familie.

Vorderansicht des nordirischen Parlamentsgebäudes - Foto: © 2013 by Schattenblick

Stormont Parliament Buildings - davor das Edward-Carson-Denkmal
Foto: © 2013 by Schattenblick

Eine Ausnahme bildete das Rathaus von Belfast. Dort wollten die Unionisten auf das ganzjährige Wehen des Union Jack im Herzen der Provinzhauptstadt nicht verzichten. Doch seit einiger Zeit haben die unionistischen Parteien im Belfaster Stadtrat nicht mehr die Mehrheit inne. Den größten Block bilden inzwischen Sinn Féin und die katholisch-nationalistische Social Democratic Labour Party (SDLP). Im vergangenen Herbst haben Ratsmitglieder beider Parteien einen Antrag eingebracht, der vorsah, daß der britischen Flagge über dem Eingang des Rathauses entweder die irische Trikolore zur Seite gestellt wird oder sie ganz verschwinden sollte. Um den symbolträchtigen Supergau zu vermeiden, hat die überkonfessionelle Alliance Partei, deren Kommunalvertreter im Stadtrat das Zünglein an der Waage zwischen SF/SDLP und DUP/UUP bildet, als Kompromiß die derzeit geltende Regelung vorgeschlagen und für ihre Verabschiedung gesorgt.

Demonstrationszug vor der City Hall - Foto: © 2013 by Schattenblick

Flaggenprotestler legen die Innenstadt lahm
Foto: © 2013 by Schattenblick

Im Vorfeld der Abstimmung am 3. Dezember ließen DUP und UUP rund 40.000 hetzerische Flugblätter in Belfast und Umgebung verteilen. Als es dann an jenem Abend zum Massenprotest in der Belfaster Innenstadt samt der versuchten Erstürmung des Rathauses durch aufgebrachte protestantische Krawallmacher und in den Tagen und Wochen darauf zu zahlreichen Straßenschlachten mit der Polizei, zur Kaperung und zum Abfackeln von Autos und Linienbussen sowie zu Angriffen auf Büros und Wohnungen von Politikern der Alliance Party kam, wuschen DUP-Chef Peter Robinson und UUP-Vorsitzender Michael Nesbitt ihre Hände in Unschuld, machten loyalistische Paramilitärs für die Unruhen verantwortlich und warfen den Flaggenprotestlern vor, der Sache der Union und des Britentums schweren Schaden zuzufügen.

Wandmalerei mit dem Schriftzug 'Loyalist East Belfast' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Eindeutige Wegmarkierung an der Lower Newtownards Road
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Haltung Robinsons, des Ersten Ministers der nordirischen Koalitionsregierung, kann man nicht anders als hochgradig verlogen bezeichnen. Nicht nur weigerte sich der DUP-Chef von Beginn der Krise an, eine gemeinsame Erklärung mit seinem Sinn-Féin-Stellvertreter, dem Ex-IRA-Mitglied Martin McGuinness, herauszugeben oder mit ihm zusammen aufzutreten, es gilt vielmehr in ganz Irland als offenes Geheimnis, daß die Mobilisierung bzw. Aufwiegelung der protestantischen Bevölkerung in East Belfast in der Flaggenfrage ursprünglich dazu dienen sollte, daß Robinson bei nächster Gelegenheit dort seinen Sitz im britischen Unterhaus zurückerobert, den er seit 1979 ununterbrochen innehatte und erst bei den Wahlen 2011 infolge eines Korruptions- und Sexskandals seiner Frau Iris an Naomi Long von der Alliance Party verlor.

Militaristische Wandgemälde der Ulster Defence Association - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die UDA - ebenfalls an der Lower Newtownards Road präsent
Foto: © 2013 by Schattenblick

Für die Richtigkeit dieser These spricht die Tatsache, daß sich die Flaggenprotestierer von Anfang an auf Long eingeschossen haben, als trage sie die Hauptschuld an einer Verfügung des Belfaster Stadtrats, obwohl sie diesem nicht einmal angehört. Die Stellvertretende Vorsitzende der Alliance Party hat als erste Person in dem gesamten Konflikt Todesdrohungen erhalten und mußte deshalb unter Polizeischutz gestellt werden. Vor ihrem Büro an der Upper Newtownards Road ist es am 11. Dezember zu dem bislang schwersten Vorfall gekommen, als eine Gruppe vermummter Jugendlicher ein Polizeiauto, in dem eine PSNI-Beamtin saß, mit Steinwürfen angriff, die Heckscheibe einschlug und einen Molotowcocktail hineinwarf. Die Polizistin konnte nur um Haaresbreite dem Feuertod entkommen.

Denkmal mit Schriftzug 'Always Remember' und Union Jack - Foto: © 2013 by Schattenblick

Loyalistisches Gefallenendenkmal an der Lower Newtownards Road
Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Behauptung "gemäßigter" Unionisten, die Flaggenproteste würden von den loyalistischen Paramilitärs geschürt, stimmt nur begrenzt. Gestandene Loyalisten-Vertreter wie Billy Hutchinson von der UVF und Jackie Donaldson von der UDA, die sich in den vergangenen Jahren um Versöhnung zwischen Protestanten und Katholiken sowie zwischen Nord- und Südirland bemüht hatten, haben zwar die Abschaffung der ganzjährigen Präsentation des Union Jack über der Belfast City Hall als gezielte Provokation von Sinn Féin und SDLP angeprangert und Verständnis für den Zorn der eigenen Glaubensgenossen geäußert, gleichwohl jegliche Gewaltanwendung verurteilt und sich von den Randalierern distanziert. Es gibt jedoch um den Chef der Ostbelfaster Brigade der UVF, Stephen "Mackers" Matthews, der ein einflußreicher Drogenboss sein soll und den Spitznamen "Beast from the East" trägt, offenbar Kräfte, welche den Flaggenstreit als Gelegenheit nutzen, die Muskeln spielen zu lassen. Als es zuletzt im Juni 2011 zu tagelangen schweren Ausschreitungen an der Lower Newtownards Road kam, empfing kurz darauf Regierungschef Robinson Matthews und Konsorten, um sich von der Ostbelfaster UVF-Führung über die materielle Not in seinem einstigen Wahlkreis und die Lage der dortigen Jugend informieren zu lassen.

Wandgemälde eines vermummtem, mit einer AK-47 bewaffneten UFF-Kämpfers - Foto: © 2013 by Schattenblick

Wandgemälde der Ostbelfaster Brigade der Ulster Freedom Fighters (UFF), des paramilitärischen Arms der UDA, an der Lower Newtownards Road
Foto: © 2013 by Schattenblick

Es gibt Spekulationen, wonach bestimmte Personen innerhalb der UVF die Flaggenproteste gezielt angeheizt haben, um sie nach einiger Zeit wieder zurückzufahren und im Gegenzug von Politik und Justiz Nordirlands belohnt zu werden. Nach Ansicht von Tommie Gorman, dem Nordirland-Korrespondenten des staatlichen irischen Rundfunks RTÉ, steckt hinter den Protesten - zumindest in Belfast - auch die Angst führender Loyalisten vor den Folgen des bevorstehenden Strafrechtsprozesses gegen "Supergrass" Gary Haggarty. Der ehemalige Brigadier der Nordbelfaster UVF steht wegen der Ermordung eines katholischen Taxifahrers im Jahr 1997 unter Anklage. Er ist das ranghöchste Mitglied der UVF, das sich jemals gegen Strafmilderung bereiterklärt hat, als Kronzeuge über seine früheren Aktivitäten und die seiner Ex-Kameraden auszupacken. Wie Mick Fealty auf seinem vielbeachteten Blog Slugger O'Toole am 21. Dezember berichtete, haben die Vernehmungen Haggartys durch PSNI-Ermittler bisher 30.000 Seiten an schriftlichem Material und 760 Interviewbänder ergeben. Haggartys Aussagen vor Gericht dürften nicht wenige UVF-Mitglieder mit zahlreichen bisher noch nicht aufgeklärten Mordfällen aus der Zeit der "Troubles" und auch danach in Verbindung bringen.

'Ship of Dreams' - Wandgemälde zu Ehren der Titanic - Foto: © 2013 by Schattenblick

Stilvolle Erinnerung an die Titanic an der Lower Newtownards Road
Foto: © 2013 by Schattenblick

Ein anderer Aspekt der Flaggendemonstrationen gibt indessen noch mehr zu denken. An die Spitze der Protestwelle haben sich unionistische Extremisten wie Willie Frazer und Jamie Bryson gesetzt, die seit Jahren Verbindungen zu den britischen Neofaschisten und Islamophoben um die British National Party (BNP) unterhalten. Am 3. Januar gründeten diese Personen das Ulster People's Forum. Parallel dazu lehnten sie die Einladung Robinsons und Nesbitts zur Teilnahme an einer großen pan-unionistischen Diskussion ab und warfen den protestantischen Berufspolitikern vor, die eigene Basis verraten zu haben. Frazer und seine Gesinnungsgenossen lehnen die interkonfessionelle Provinzregierung in Stormont - und damit den Grundstein für Frieden und Zusammenarbeit in der einstigen Unruheprovinz - prinzipiell ab und fordern statt dessen die Wiedereinführung der direkten Verwaltung Nordirlands durch London. Darüber hinaus wollen sie erreichen, daß der Union Jack über allen öffentlichen Gebäuden 365 Tage im Jahr - 366 bei Schaltjahren natürlich - wehen sollte. Solche Ziele sind vollkommen illusorisch. Eine Rückkehr zum "protestantischen Staat für ein protestantisches Volk" wie es James Craig, der erste Premierminister Nordirlands und Carsons wichtigster Verbündeter einmal formulierte, wird es nicht geben.

Das Lagan-Ufer in herrlichem Sonnenschein - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Queen's Bridge verbindet die Innenstadt und den Osten Belfasts
Foto: © 2013 by Schattenblick

Dessen ungeachtet wollen Robinson und Nesbitt im Rahmen des von ihnen gegründeten Unionist Forums Wege ausloten, wie die protestantische Bevölkerung ihre "britischen" Traditionen pflegen und sie vor dem vermeintlichen "Kulturkrieg" der irisch-nationalistischen Front um Sinn Féin und SDLP retten kann. Damit sind bis auf weiteres die Dauerstreitigkeiten und allsommerlichen Krawalle infolge von Umzügen protestantischer Oranier-Ordensbrüder durch katholische Wohnviertel vorprogrammiert. Gleichzeitig dürfte das erneute Bemühen der DUP um die Wähler in den protestantischen Arbeitervierteln die ehrgeizige Initiative Robinsons vom letzten Sommer, der Unionismus sollte sich mehr um gemäßigte Katholiken der Mittelschicht bemühen, um sie von der Sehnsucht nach einem Ende der Teilung Irlands - "Partition" - abzubringen und für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich zu gewinnen, zunichte machen.

Die neue, 20 Meter hohe Statue am Lagan-Ufer - Foto: © 2013 by Schattenblick

Symbol für den Frieden - "Beacon of Hope"
Foto: © 2013 by Schattenblick

Bei der katholischen Bevölkerung dürfte die auffallende Zurückhaltung, die der PSNI im Umgang mit den Flaggenprotestlern an den Tag gelegt hat, ihre schon länger bestehenden Zweifel an der Reformfähigkeit des nordirischen Duodezstaates bestätigt haben. Im vergangenen Sommer haben PSNI-Beamten auf eine friedliche, stille Demonstration gegen einen Oranierumzug durch das katholische Viertel Ardoyne im Norden Belfasts mit Schlagstockeinsatz und Verhaftungen reagiert. Bei den Flaggenprotesten wurde hingegen de facto zugelassen, daß diese das öffentliche Leben in Belfast über Wochen störten, Vandalismus in größerem Ausmaß betrieben und das Weihnachtsgeschäft von Läden und Gaststätten in der Innenstadt ruinierten - der wirtschaftliche Schaden geht in die Millionenhöhe. Am Abend des 11. Januar hat es der PSNI nicht einmal verhindert, daß mehrere hundert protestantische Hooligans von der Lower Newtownards Road aus in die katholische Enklave Short Strand eindrangen, dort Fenster einschlugen und sich eine stundenlange Straßenschlacht mit den Einheimischen lieferten. Für dieses Versäumnis mußte sich PSNI-Chef Matt Baggot persönlich entschuldigen.

Nahaufnahme einer der zahlreichen Belfaster 'Friedensmauern' - Foto: © 2013 by Schattenblick

Abschnitt der "Peace Wall" zwischen Lower Newtownards Road und Short Strand
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auch wenn niemand getötet wurde, deuten etwas mehr als 100 Festnahmen bei etwa ebenso vielen verletzten PSNI-Beamten im Verlauf der vergangenen Wochen auf eine "Hands-off"-Strategie der Behörden hin. Nachdem jedoch am 17. Januar die Vertreter von mehr als vierzig protestantisch-unionistischen Organisationen - darunter der großen Parteien, der wichtigsten Kirchen und der UDA und UVF - die Flaggenprotestler zur Einstellung ihrer sogenannten "Operation Stillstand" veranlaßt haben, hat sich die Lage leicht verbessert. Die Zahl der Protestaktionen und ihrer Teilnehmer ist merklich zurückgegangen. Zudem greift die Polizei härter gegen Gesetzesübertretungen wie versuchte Straßenblockaden durch. Nichtsdestotrotz lassen die Ereignisse der letzten Wochen für die diesjährige Marschsaison der Oranier mit ihrem traditionellen Höhepunkt am 12. Juli nichts Gutes erwarten. Unter Verweis auf die Stornierung zahlreicher Buchungen über Weihnachten und Neujahr hat die Northern Ireland Hotels Federation vor verheerenden Auswirkungen auf die Tourismusindustrie gewarnt, sollte nicht bald wieder Ruhe einkehren.

Belfasts modernste Einkaufspassage ungewöhnlich leer - Foto: © 2013 by Schattenblick

Kein reges Treiben im Konsumtempel Victoria Square
Foto: © 2013 by Schattenblick

Wie eine erfolgreiche Versöhnung über die konfessionellen Gräben hinweg aussehen könnte, wurde im Kleinen am 9. Januar an der Belfast Shankill Road vorgeführt. Wie die Irish Times einige Tage später berichtete, nahmen in der UDA-Hochburg - wo sich normalerweise kein Katholik nachts zu Fuß hintraut - an dem Seminar "Verborgene Geschichte der Protestanten und der Gälischen Sprache" Katholiken und Protestanten gemeinsam teil. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Shankill Women's Centre und dem Cultúrlann (Kulturzentrum) MacAdam-Ó Fiaich an der benachbarten katholischen Falls Road. Die Unionisten betrachten die gälische Sprache als Sinn Féins gefährlichste Kulturwaffe und bekämpfen ihre Verbreitung im öffentlichen Raum erbittert. Bis heute blockiert die DUP in der Provinzregierung die Verabschiedung eines Gesetzes zur Gleichstellung des Gälischen und seine Erhebung zur zweiten Amtssprache neben Englisch, obwohl dieser Schritt schon 2006 im Saint-Andrews-Abkommen, mit dem sich Sinn Féin unter anderem offiziell zu einer Zusammenarbeit mit der nordirischen Polizei bereiterklärte, vereinbart wurde.

Straßenzug im katholischen Westbelfast - Foto: © 2013 by Schattenblick

Die irische Trikolore weht über der Falls Road
Foto: © 2013 by Schattenblick

Auf dem Seminar erläuterte Linda Ervine in ihrem Hauptvortrag, wie sehr die gälische Sprache keine ausschließliche Sache der irischen Katholiken, sondern das gemeinsame Erbe aller Konfessionen auf der Insel ist. Sie verwies auf die Volkszählung von 1911, aus deren Angaben klar hervorgeht, daß damals zahlreiche Anwohner der Gegend um die Shankill Road - die hauptsächlich Methodisten und Presbyterianer meist schottischer Herkunft waren - Gälisch als Mutter- oder Zweitsprache hatten. Ervine ist Lehrerin und stammt selbst aus der Gegend um die Lower Newtownards Road. Ihr Mann Brian Ervine und ihr Schwager, der 2006 verstorbene David Ervine, waren beide Vorsitzende der kleinen, linksgerichteten Progressive Unionist Party (PUP), die als politischer Arm der UVF gilt und sich in den letzten beiden Jahrzehnten mehr als jede andere protestantische Politgruppierung für eine Aussöhnung mit dem katholisch-nationalistischen Gegner eingesetzt hat.

Wandgemälde eines protestantischen Jungen und eines katholischen Mädchens, die sich in Frieden die Hand geben - Foto: © 2013 by Schattenblick

"Nie mehr" - Ostbelfaster Aufruf gegen das Blutvergießen
(ebenfalls an der Lower Newtownards Road)
Foto: © 2013 by Schattenblick

22. Januar 2013