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BERICHT/014: Sparfalle Griechenland - Genötigt, vertrieben, ausgeliefert (SB)


"Sparkurs kann tödlich sein - Bericht einer Delegationsreise nach Athen"

Veranstaltung am 10. April 2014 in Hamburg-St. Pauli


Folie mit Titel der Veranstaltung - Foto: 2014 by Schattenblick

Foto: 2014 by Schattenblick

Die humanitäre Krise in Griechenland ist ein himmelschreiender Skandal, doch scheint es zumindest in der Bundesrepublik kaum Adressaten zu geben, die die Empörung über die soziale Verelendung der griechischen Gesellschaft teilen. Anstatt einzulösen, was die europäische Integration im Sinne einer gegenseitigen Verstärkung der EU-Mitgliedstaaten verheißt, die allen Beteiligten im Ergebnis ein größeres Ausmaß an Lebensqualität ermöglicht, als es unter den Bedingungen miteinander konkurrierender Nationalstaaten machbar gewesen wäre, wurde diese Konkurrenz in der Klammer der Wirtschafts- und Währungsunion vertieft. Die von deutschen Massenmedien erhobene Bezichtigung, die "faulen Griechen" wären am ökonomischen Niedergang ihrer Gesellschaft schuld, ist Ausdruck eines regional und national definierten Standortprimats, der in der europaweit wachsenden Zustimmung zu rechtspopulistischen Parteien sein absehbares Ergebnis zeitigt.

Dabei gibt es nicht nur gute, sondern auch lebenswichtige Gründe, sich für die Situation der griechischen Bevölkerung auf einem Gebiet der Daseinsfür- und -vorsorge zu interessieren, das auch in der Bundesrepublik unter die Räder einer monopolistischen Privatisierungspolitik geraten ist. So eröffnet die Lage in Griechenland dem gesellschaftskritischen Blick die Möglichkeit, etwas über die eigene Zukunft in Erfahrung zu bringen. Diesen Blick nicht zu vermeiden, sondern am Ort des Geschehens genauer hinzuschauen, entschlossen sich neun Ärztinnen und Ärzte, die im Februar nach Athen reisten, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Dr. Nadja Rakowitz und Dr. Andreas Wulf vom Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ) hatten bereits im Januar 2013 eine Solidaritätsreise nach Griechenland unternommen. Auf Initiative der Hamburger Griechenland Solidaritätsgruppe des VdÄÄ fand im Februar 2014 eine weitere Reise statt, an der sich neben den beiden VdÄÄ-Vorstandsmitgliedern und Dr. Bernhard Winter aus Offenbach die Hamburger Delegationsmitglieder Dr. Agis Agorastos, Dr. Michael Brune, Dr. Thomas Buhk, Prof. Dr. Christian Haasen, Dr. Anke Kleinemeier und Dr. Helga Neugebauer beteiligten.

In einer Veranstaltung der Hamburger Griechenland Solidaritätsgruppe des VdÄÄ und der German Physicians Initiative in Solidarity with Greece (GePISoG), die im Kölibri in Hamburg-St. Pauli, einem Zentrum für Gemeinwesenarbeit des GWA St. Pauli Süd e.V., stattfand, berichteten vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Reise von einer desaströsen Entwicklung, die im Schatten der Eurokrise kaum Beachtung findet, obgleich sie nicht besser illustrieren könnte, daß es sich bei dieser Krise weniger um eine des Geldes als eine der sozialen Verhältnisse handelt.

Podium der Referentinnen und Referenten - Foto: © 2014 by Schattenblick

Christian Haasen, Agis Agorastos, Helga Neugebauer, Anke Kleinemeier
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Krise des Gesundheitswesens in der sozialen Krise Griechenlands

In seinen einführenden Worten machte der Psychiater und Suchtmediziner Prof. Dr. Christan Haasen die Sparpolitik der Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) für die allgemeine soziale Krise der griechischen Bevölkerung verantwortlich. So werde unter dem Primat der Kürzung von Staatsausgaben beispielsweise ganz gezielt verordnet, 5000 Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen, aber den Kauf deutscher Leopard-Panzer trotz knapper Haushaltsmitteln keinesfalls zu streichen. Dabei liegt die allgemeine Arbeitslosigkeit bei 27 Prozent und betrifft Jugendliche mit mehr als 60 Prozent überproportional. Während der Krise sind die Gehälter um 30 Prozent gesunken, Rentenkürzungen, die Reduzierung des Mindestlohns und der Arbeitslosengelder um etwa ein Drittel sorgen dafür, daß 30 Prozent der griechischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben. Rund 40.000 Menschen leben allein in Athen auf der Straße, die öffentlichen Suppenküchen sind überlaufen, und Tausende Haushalte verfügen weder über Strom noch Heizung, was abends daran zu erkennen sei, daß es in den Straßen sehr dunkel ist.

Die Auswirkungen der mit einigen Eckdaten umrissenen sozialen Krise auf die Gesundheit der Bevölkerung sind gravierend. Ein Drittel der knapp 11 Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung haben keine Krankenversicherung mehr, da sie nach einem Jahr Arbeitslosigkeit nicht mehr bezahlt wird. Ein weiteres Drittel der Bevölkerung ist zwar krankenversichert, aber völlig unterversorgt, weil medizinische Behandlungen durch die Zuzahlungen für Medikamente und Arztbesuche einfach zu teuer geworden sind. Während des Besuchs der Delegation vom 12. bis 16. Februar verfügte die griechische Regierung die Streichung von 5500 Stellen in den staatlichen Krankenhäusern. Eine weitere Folge der massiven Einschnitte in die Etats des öffentlichen Gesundheitswesens bestand in der Schließung aller 350 Polikliniken. Es handelte sich um eine Rationalisierungsmaßnahme mit der Vorgabe, auf diesem Wege zu prüfen, welche dieser Einrichtungen künftig noch gebraucht würden. Nach einem Monat sollten die für die Versorgung der Bevölkerung erforderlichen Polikliniken, so der Plan der Regierung, wieder geöffnet werden. Im Ergebnis hat sich deren Zahl um die Hälfte verringert, und das bei einer Situation bereits bestehender Unterversorgung.

Im Rahmen einer sogenannten Psychiatriereform wurden sechs von neun großen Anstalten, die zahlreiche Langzeitpatientinnen und -patienten beherbergen, geschlossen. Was den Anschein einer fortschrittlichen Abschaffung dieser Einrichtungen erwecken könnte, erwies sich als schlichter Kahlschlag, wurden den Entlassenen doch keine ambulanten Anlaufstellen zur psychiatrischen Versorgung zur Verfügung gestellt. Zahlreiche Leistungen wie etwa Schutzimpfungen für Kinder, die das staatliche Gesundheitswesen früher kostenlos anbot, werden nur noch gegen Bezahlung gewährt. Die in Zusammenarbeit mit dem deutschen Bundesministerium für Gesundheit eingeleitete Strukturreform des Gesundheitswesens sieht die stufenweise erfolgende Privatisierung der Gesundheitsversorgung nach dem Vorbild der Bundesrepublik auf breiter Ebene vor. Im Unterschied zu Deutschland, wo die Krankenkassen die privat angebotenen medizinischen Leistungen im großen und ganzen bezahlen können, seien die gesetzlichen Krankenversicherungen in Griechenland aber derart unterfinanziert, daß die Betroffenen einen Gutteil ihrer Behandlungs- und Medikamentenkosten selbst bezahlen müssen.

Mittlerweile hat auch das renommierte Fachmagazin The Lancet die Ergebnisse einer medizinsoziologischen Untersuchung der Krise des griechischen Gesundheitswesens veröffentlicht. In dem Artikel "Greece's health crisis: from austerity to denialism" [1] wird unter anderem belegt, daß es in sechs Jahren ökonomischer Rezession zu einer Verdoppelung der Suizidrate, einer Verdreifachung der HIV-Rate, einer signifikanten Erhöhung des Drogenkonsums und der Kindersterblichkeit wie dem erstmaligen Wiederaufkommen von Malariaerkrankungen kam. Neben diesen von Haasen präsentierten Ergebnissen findet sich dort deutliche Kritik an der öffentlichen Ignoranz gegenüber den negativen Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die Gesundheit der griechischen Bevölkerung. So habe die vorherrschende Reaktion auf diese Krise darin bestanden, die bestehenden Probleme schlichtweg zu leugnen. Diese irrationale Mißachtung empirisch belegbarer Wirklichkeit "verweigert die Anerkennung wissenschaftlicher Forschung und versucht so, sie zu diskreditieren".

Folie aus dem Vortrag von Dr. Agis Agorastos - Foto: © 2014 by Schattenblick

Zusammengefaßtes Ergebnis einer Rezeptur sozialer Grausamkeiten
Foto: © 2014 by Schattenblick

Vorbild deutsche "Gesundheitswirtschaft"?

Im Anschluß an Haasen ging der Psychiater Dr. Agis Agorastos noch etwas ausführlicher auf die Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesen Griechenlands ein. So seien insgesamt 60 Prozent des Gesamtbudgets Kürzungen zum Opfer gefallen, und die staatlichen Ausgaben für die Gesundheitsversorgung wurden auf Anordnung der Troika auf 6 Prozent des BIP gedeckelt. Dies ist der geringste Anteil für diesen Haushaltsposten unter den Staaten, die bis 2004 der EU beigetreten sind. Bislang wurden über 9000 Ärzte und über 25.000 Angestellte des Gesundheitssystems auf einen Arbeitsmarkt entlassen, der allen erwerbsabhängig Beschäftigten wenig mehr als Lohnkürzungen beschert. Kürzungen im Etat für die Betriebskosten der Krankenhäuser um 40 Prozent, die Schließung von 100 der bis dahin 183 staatlichen Kliniken und die Entlassung von 65 Prozent der Ärzte, die dort gearbeitet haben, bei einem um 25 Prozent gewachsenen Bedarf führen zu einer entsprechenden Überlastung noch vorhandener Strukturen.

Akuter Mangel an unverzichtbarem medizinischen Material wie Alkohol oder Verbänden erschwert die Versorgung selbst von Basisleistungen. Umso schlechter bestellt ist es um viele anspruchsvollere Untersuchungs- und Behandlungsformen. So schilderte der Referent, daß Patientinnen und Patienten, die eine Bluttransfusion erhalten, bisweilen mit ihrer Unterschrift bestätigen müssen, daß sie darüber in Kenntnis gesetzt wurden, daß dieses Blut aus Geldgründen nicht auf Viren getestet wurde. An Krebs Erkrankte müssen im Schnitt drei bis sechs Monate nach der Diagnose darauf warten, einen Termin bei einem Spezialisten für die Krebsbehandlung zu erhalten. Wie Agorastos anhand einiger Fotos darlegte, sind die verfügbaren Kliniken zum Teil um das Doppelte ihrer nominellen Kapazität überlastet, was wiederum zu einem Anstieg der Krankenhausinfektionen geführt habe.

Besonders problematisch für alle Erkrankten ist der stetig wachsende Teil an selbst zu begleichenden Kosten für Diagnose und Therapie. Was früher nichts kostete, summiert sich nun von Gebühren für jedes Rezept und jeden Praxisbesuch bis zu einem Eigenanteil von 25 Prozent an den Kosten der Medikation auf eine Weise auf, daß viele Menschen sich selbst in Notlagen einfach nicht mehr behandeln lassen können. Krankenhausaufenthalte schlagen am meisten zu Buche, aber auch im Alter übliche Medikamente gegen zu hohen Blutdruck und zu hohe Blutfettwerte können sich immer weniger Menschen leisten. Je älter die Patientinnen und Patienten, desto höher der Preis einer Gesundheit, die sie sich immer weniger leisten können, weil ihre ohnehin magere Rente auch noch gekürzt wurde. Laut einer Umfrage hat ein Viertel der Patientinnen und Patienten die nicht lebensnotwendige Begleitmedikation einer Therapie aus Kostengründen abgesetzt, während jeder Fünfte auch die Hauptbehandlung mit entsprechenden Folgen für seine Lebenserwartung unterbrochen hat.

Wer über keine Krankenversicherung mehr verfügt, wie es für ein Drittel der Bevölkerung der Fall ist, hat bis auf akut lebensbedrohliche Situationen keinen Zugang mehr zur medizinischen Versorgung, solange diese nicht selbst bezahlt wird. Dabei verlieren viele Menschen letzte Ressourcen wie das eigene Haus, das in Griechenland eine besonders wichtige Säule des Überlebens darstellt. Unversicherte Kinder werden nicht mehr geimpft, Drogensucht, HIV-Infektionen und sexuell übertragbare Erkrankungen nehmen mit zum Teil exorbitanten Raten zu. Behandlungsbedürftige Depressionen haben zwischen 2008 und 2011 um das Zweieinhalbfache auf 8,2 Prozent zugenommen, wobei der Zusammenhang zwischen ökonomischer Verelendung und psychischem Unbehagen auf der Hand liegt.

Agorastos schildert das Fallbeispiel einer 65jährigen Rentnerin, die mit 600 Euro pro Monat 315 Euro für zehn Medikamente ausgeben muß, so daß ihr weniger als 300 Euro für Miete und Lebenskosten bleiben. Diese Frau, die damit genötigt sein dürfte, zwischen ausreichender Ernährung und medizinischer Behandlung zu wählen, habe immerhin noch das Glück, versichert zu sein. So erhält ein 29jähriger unversicherter Leukämiepatient keinerlei Therapie, andere betreiben Medikamenten-Sharing, indem sie sich die benötigten Mittel teilen, so daß sie zumindest die halbe jeweilige Dosierung erhalten. Für Krebspatienten gibt es, so hat es der griechische Gesundheitsminister öffentlich erklärt, keine Therapie, weil es sich um keine akute Erkrankung handele. Erst im finalen Stadium, also praktisch kurz vor dem Tod, könne Anspruch auf medizinische Unterstützung erhoben werden.

Wie sehr die Bundesregierung auf ganz praktische Weise zum ökonomisch diskriminierenden Charakter dieser Gesundheitsversorgung beiträgt, ist der Tatsache zu entnehmen, daß das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) seit April 2012 im Rahmen eines Memorandum of Understanding mit dem griechischen Gesundheitsministerium maßgeblich am Umbau des dortigen Gesundheitswesens beteiligt ist. So wird unter dem Ziel der Effizienzsteigerung der Privatisierung der Krankenversicherung Vorschub geleistet, wobei hierzulande aus gutem Grund kritisierte Strukturen wie das Vergütungssystem der Fallpauschalen nach Diagnosis Related Groups auch in Griechenland eingeführt werden sollen. Was den Referenten Agis Agorastos sichtlich empörte, sind Überlegungen, die Möglichkeit eines von der Bundesrepublik nach Griechenland verlaufenden Gesundheitstourismus zu prüfen, als bestände nicht genügend Handlungsbedarf zur Versorgung der einheimischen Bevölkerung.

Im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Helga Neugebauer über das Schicksal mehrfach in Not geratener Menschen
Foto: © 2014 by Schattenblick

Individuelles Engagement verhindert den Kollaps der Versorgung

In ihrem Vortrag widmete sich die Internistin Dr. Helga Neugebauer der Behandlung sexuell übertragbarer Krankheiten. Wie sie bei dem Besuch eines darauf spezialisierten Krankenhauses im Zentrum von Athen feststellte, ist die Situation von HIV-Infizierten und AIDS-Kranken aufgrund der noch gewährten staatlichen Finanzierung ihrer Medikamente nicht so desolat, wie in Anbetracht der Situation in anderen Sektoren des Gesundheitswesens zu erwarten war. So betreut die Ambulanz dieser Klinik etwa 1500 Patientinnen und Patienten, davon erhielten 900 die HIV-Medikamente der Kombinationstherapie sogar ohne Krankenschein und auch anonym. Dies sei nicht einmal in Deutschland der Fall, so die Referentin, die selbst in der AIDS-Hilfe Hamburg e. V. tätig ist.

Während sich die Kosten für die lebenslang einzunehmenden HIV-Medikamente im Jahr auf 12.000 Euro summieren, hätte die Klinik allerdings Probleme mit der Finanzierung der Laborkosten, die 1,5 Millionen Euro im Jahr betragen. Davon seien erst 300.000 Euro gedeckt. Da die Laboruntersuchungen bei der Behandlung von HIV-Infizierten und AIDS-Kranken unerläßlich seien, um die Wirkung der Medikamente zu überprüfen, kann der Ausfall der Bemittelung auch zum Ende der lebenswichtigen Behandlung führen. Ein weiteres Problem bestehe in der Behandlung von injizierenden Drogensüchtigen, die zu einem Drittel mit Hepatitis C infiziert sind. Sie brächen die sehr nebenwirkungsintensive Medikation mit Interferon und Ribavirin häufig ab, doch neue Medikamente gegen Hepatitis C kosteten unerschwingliche 20.000 Euro im Monat.

So sei auch in diesem Bereich, wo die Versorgung noch einigermaßen funktioniere, viel in Frage gestellt. Die Referentin zeigte sich besonders beeindruckt von der Ärztin Dr. Botsis, die die HIV-Ambulanz führt, nebenbei Sexarbeiterinnen betreut, Streetwork macht und ein Spritzentauschprogramm installiert hat. Professionelle Prostituierte dürften nicht ohne HIV-Test arbeiten und seien Diskriminierungen ausgesetzt wie in einem Fall vor zwei Jahren, als der damalige Gesundheitsminister gut erkennbare Fotos von HIV-positiven Prostituierten ins Internet stellte und ihre Freier aufforderte, sich testen zu lassen. Der derzeitige Gesundheitsminister Adonis Georgiadis reaktivierte letztes Jahr ein Gesetz, daß Zwangstests unter Polizeiaufsicht von Drogenkonsumenten, Prostituierten, Migrantinnen und Migranten auf Infektionskrankheiten anordnet.

Viele Prostituierte stammten aus Somalia, Äthiopien oder Eritrea und seien wie ebenfalls anschaffende Roma-Mädchen häufig nicht älter als 13 oder 14 Jahre. Unter den aus Afghanistan, Georgien und der Ukraine stammenden Strichern fänden sich sogar zehnjährige Kinder. Der Gesundheitszustand der Sexarbeiterinnen und -arbeiter sei in den letzten Jahren sehr viel schlechter geworden, sie seien meist intravenös drogensüchtig, viele hätten aufgrund der Entwicklung von Resistenzen schwer behandelbare Tuberkulose und seien HIV-infiziert.

Im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Anke Kleinemeier berichtet von solidarischer Hilfe und politischer Mobilisierung
Foto: © 2014 by Schattenblick

Von fast allen verlassen ganz unten - Flüchtlinge und Migrantinnen

Im letzten Vortrag schilderte die Gynäkologin Dr. Anke Kleinemeier die bedrängte Situation in Griechenland lebender Flüchtlinge. Wer sich ohne Papiere auf der Straße aufhält, läuft Gefahr, ohne Angabe von Gründen und ohne Anspruch auf anwaltlichen Rechtsschutz verhaftet zu werden. Wer nicht mehr den Status der Duldung genießt und keine Arbeit mehr hat, ist praktisch vogelfrei. Asylgründe werden in Griechenland, das aufgrund seiner europäischen Randlage Hauptziel vieler durch politische Verfolgung und Krieg gefährdeter Menschen aus Afghanistan, Pakistan, Syrien und dem Maghreb ist, kaum anerkannt.

Diese Flüchtlinge werden häufig in großen Lagern untergebracht. Dort herrschen laut Informationen humanitärer Organisationen katastrophale Zustände, durch Folter traumatisierte Menschen werden langfristig und in großer Enge weggesperrt, es gibt keinerlei Zugang zu ärztlicher Versorgung, erst recht nicht zu psychotherapeutischer Versorgung oder zu anwaltlicher Betreuung. Auf der Straße aufgegriffene Migrantinnen und Migranten werden in Polizeiwachen eingesperrt, in denen die Haftbedingungen nicht einmal die Kriterien des deutschen Tierschutzes erfüllen. So müssen Menschen, denen keinerlei Rechte und keine Privatsphäre zugestanden wird, bisweilen 18 Monate lang ohne Tageslicht und ohne jeden Ausgang ins Freie ausharren. In diesen überbelegten Haftzentren müssen sich bis zu hundert Leute eine Toilette und zwei Waschbecken teilen, so daß der Ausbruch gewaltsamer Konfrontationen unter den Betroffenen geradezu progammatisch angelegt ist. Eine nennenswerte Gesundheitsversorgung außerhalb der Arbeit humanitärer Organisationen und freiwilliger Helferinnen und Helfer gibt es nicht.

Da nicht nur die besonders vernachlässigten und verletzlichen Migrantinnen und Migranten, sondern ein großer Teil der Bevölkerung kaum noch Zugang zu medizinischer Versorgung hat, hat sich eine außerstaatliche Gesundheitsversorgung etabliert, die quasi auf zwei Pfeilern steht. Zum einen gibt es selbstorganisierte Einrichtungen, zum andern die humanitäre Arbeit der NGOs.

Laut der Referentin gibt es in ganz Griechenland 45 solidarische Praxen, in denen freiwillige Helferinnen und Helfer unentgeltliche Arbeit verrichten. Diese wird nicht nur im Sinne eines karitativen Auftrags verstanden. Neben der Aufgabe, erkrankte Menschen medizinisch zu versorgen und mit Medikamenten auszustatten, geht es um die Politisierung der Betroffenen, darum, sie aus der Resignation herauszuholen und für einen sozialen Widerstand zu mobilisieren, der diese als bloße Notfallmaßnahme verstandenen Strukturen durch die Wiederherstellung einer vollwertigen öffentlichen Gesundheitsversorgung überflüssig macht.

Die dafür erforderlichen Räumlichkeiten werden zum Teil von Privatpersonen zur Verfügung gestellt, zum Teil wird auch auf Gemeindeebene dafür gesorgt, daß diese Einrichtungen einen Platz und auch Strom und Wasser haben. Auch in besetzten Häusern wurden solidarische Praxen eingerichtet, was unterstreicht, wie sehr diese autonomen Strukturen aus der breiten sozialen Bewegung gegen die Politik der Troika hervorgehen und in sie integriert sind.

Unter den dort arbeitenden Ärztinnen und Ärzten finden sich fast alle Fachrichtungen, wobei die Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner aus naheliegenden Gründen am zahlreichsten vertreten sind. Es wird auch zahnmedizinische Versorgung angeboten, die im öffentlichen Gesundheitssystem kaum mehr ohne teure Zusatzleistungen verfügbar ist. In den solidarischen Apotheken werden gespendete Medikamente auf ihre weitere Verwendbarkeit überprüft und an Patientinnen und Patienten abgegeben, die sonst keine Möglichkeit zur medikamentösen Therapie mehr haben. Wie Kleinemeier berichtet, sind die solidarischen Praxen, die sie besucht haben, in hohem Maße in ihre soziale und kommunale Umgebung eingebunden. So werden dort Sprachkurse für Migrantinnen und Migranten angeboten, soziale Beratung aller Art findet statt, und natürlich spielt die Frage, was zu tun ist, um die gesellschaftliche Misere zu überwinden, eine große Rolle.

In Athen hat die Delegation auch die solidarische Poliklinik Ellinikon besucht, die auf einem ehemaligen US-amerikanischen Militärareal auf dem früheren Flughafen von Athen angesiedelt ist. Da dieses Gelände im Rahmen der Privatisierungsprogramme verkauft werden soll, ist die Zukunft dieser seit 2011 bestehenden Klinik in Frage gestellt. In Ellinikon stellen die 250 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und -arbeiter 20.000 Patientenkontakte im Jahr her, was zeigt, wie unersetzlich diese und andere Sozialkliniken für die verbliebene medizinische Versorgung der Bevölkerung sind. Um sicherzustellen, daß Strom und Wasser fließen, auch wenn die Rechnungen einmal nicht bezahlt werden können, engagieren sich Menschen, die in öffentlichen Ämtern sitzen oder anderweitig politisch aktiv sind, für die Alimentierung dieser unabdinglichen, in vielen unterfinanzierten Privathaushalten nicht mehr verfügbaren Ressourcen.

Viele solidarische Praxen nehmen neben Sach- auch Geldspenden an, was in Ellinikon nicht getan wird, um sich von jeglichem Korruptionsvorwurf freihalten zu können. So berichtete die Referentin vom Besuch einer Solidaritätsbewegung aus München, die viel Geld für die Klinik gesammelt hatte. Dafür wurden dann diejenigen Medikamente gekauft, die in Ellinikon gerade knapp waren, und das auf so transparente Weise, daß niemand behaupten könnte, in diesem Projekt verschwänden Gelder in unsichtbaren Kanälen.

In einer Praxis in Piräus, mit der die Griechenland Solidaritätsgruppe Hamburg schon länger in Kontakt steht, arbeiten 30 Personen an 5000 Patientenkontakten im Jahr. Neben einer kleinen zahnmedizinischen Einheit betreiben sie eine Apotheke, in der sie Medikamente und Hygieneartikel für Bedürftige verteilen. Sie versorgen auch migrantische Gefangene wie in jenem Knast in Piräus, in dem die Delegation die beschriebenen Mißstände bezeugen konnte. Hätte diese Praxis den Status einer NGO, dann verfügte sie über weit mehr Mittel, doch wie die Referentin herausfand, ist dies für die Aktivistinnen und Aktivisten, die dort arbeiten, keine Option. Sie würden dann EU-Gelder in Anspruch nehmen, und das würde ihren Kampf gegen die Troika-Politik korrumpieren. Man könne nicht gegen die Auswirkungen der Sparpolitik kämpfen und gleichzeitig EU-Gelder nehmen, wurde Anke Kleinemeier beschieden, was eine Klarheit der politischen Positionierung an den Tag bringt, die in manch trübem NGO-Gewässer längst nicht mehr angestrebt wird.

Nicht zuletzt wegen ihrer politischen Arbeit werden die solidarischen Praxen unter anderem von Regierungsbehörden schikaniert, die in dieser selbstorganisierten Struktur vermutlich einen Angriff auf die eigene Kompetenz und Zuständigkeit vermuten. Daß sich die offizielle ärztliche Standesorganisation gegen die Sozialklinik Ellinikon stellte, läßt auf ein fundamentales Problem berufsständischer Art schließen.

Die Delegation besuchte auch die Organisationen Ärzte der Welt und Ärzte ohne Grenzen. Beide NGOs erhalten einen Großteil ihrer Gelder über Spenden, die zum Teil von Unternehmen gestellt werden, die das Ansehen ihrer Marke mit Social Sponsoring verbessern wollen. Der größte Teil aber stamme aus EU-Töpfen, so daß neben ehrenamtlich arbeitenden Ärztinnen und Ärzten auch viele Menschen, die Soziale Arbeit leisten oder in der Flüchtlingshilfe tätig sind, ein Gehalt von der EU beziehen.

Publikum bei der Diskussion von hinten - Foto: © 2014 by Schattenblick

Großes Interesse am Austausch über weitreichende Fragen
Foto: © 2014 by Schattenblick

Unabweisliche Not absichtsvoll ignoriert - Die Konkurrenzgesellschaft solidarisch überwinden

In der anschließenden Diskussion bekräftigten die Referentinnen und Referenten noch einmal, daß die selbstorganisierte medizinische Hilfe nicht als erstrebenswertes Alternativprojekt zu verklären sei, sondern das Selbstverständnis dieser Arbeit aus einer humanistischen Notwendigkeit erwachse. Im Mittelpunkt stehe die politische Forderung nach der Behebung dieses Mangels durch ein funktionsfähiges und egalitäres öffentliches Gesundheitswesen, und es sei keineswegs die Absicht, den Staat durch die Kompensation dieses Mangels aus der Pflicht zur Gewährleistung einer umfassenden medizinischen Versorgung zu entlassen. Der hochgradig politische und aktivistische Charakter dieser Arbeit wird in einem Foliensatz der solidarischen Klinik in Thessaloniki [2] greifbar, ist dort doch unmißverständlich von einem "Angriff" der Troika auf das Recht auf Gesundheit der griechischen Bevölkerung die Rede.

In der Ansicht, daß das Elend des neoliberalen Strukturwandels des griechischen Gesundheitswesens eine Blaupause für die sogenannte Gesundheitswirtschaft in Deutschland darstellt, war sich das Publikum der Veranstaltung weitgehend einig. So berichtete eine Sozialarbeiterin aus St. Pauli, daß eine wachsende Zahl der Menschen, die sie betreut, nicht mehr zum Arzt geht, weil sie die erforderlichen Zuzahlungen nicht mehr bestreiten können. Ein Zuhörer gab zu bedenken, daß dieser Strukturwandel hierzulande bereits seit Jahren mit der Absicht im Gang sei, sich gegenüber anderen EU-Staaten einen Vorteil zu verschaffen. Für ihn sei die EU nicht ein Projekt der Solidarität und Völkerfreundschaft, sondern ein Mittel deutscher Konzerne, eine ihrem Geschäft entgegenkommende Politik in ganz Europa umzusetzen. Daher gelte es deutlich zu machen, daß man diese EU nicht mehr unterstützen könne.

Der im Publikum erhobenen Forderung, über mehr mediale Präsenz des Themas auch politisch etwas in Bewegung zu bringen, widersprach ein Zuhörer mit dem Argument, daß die Öffentlichkeit seiner Ansicht nach ausreichend informiert sei. Er teile die Hoffnung, daß noch eine Reportage mehr etwas ausrichte, nicht, weil der Tod notleidender Menschen billigend in Kauf genommen werde. Dies sei der eigentliche Skandal, der, wie eingangs behauptet, eben keine Adressaten in einem saturierten Bürgertum findet, dem das eigene Wohlbefinden über alles geht.

Dessen eingedenk wäre nach der Absicht zu fragen, die einem offenkundig sozialfeindlichen, den Mangel lediglich selektiv aufherrschenden Programm der Krisenbewältigung zugrundeliegen könnte. Wenn die Not des einen Menschen auf die Zufriedenheit des anderen trifft, ohne mehr auszulösen als mitleidvolles Bedauern, wenn sogar die Bezichtigung, selbst an seiner Notlage schuld zu sein, mehrheitsfähig wird, scheint das Befriedungskonzept der kapitalistischen Marktgesellschaft aufzugehen. Dabei verbirgt das Moment der Staatenkonkurrenz trotz seiner offenkundigen Relevanz den sozialstrategischen Zugriff auf den Menschen in der Totalität seiner gesellschaftlichen Verfügbarkeit. Wie in der Diskussion anklang, haben die Menschen in Griechenland und Deutschland weit mehr miteinander gemeinsam, als daß es für die Überwindung ihrer Ohnmacht sinnvoll wäre, welche Distanz auch immer aufrechtzuerhalten. Daher setzt der solidarische Kampf um die Zukunft eine Analyse und Kritik herrschender Verhältnisse voraus, die das ganze Ausmaß der Zurichtung des Menschen auf ihn entfremdende und unterwerfende Verhältnisse auf den Begriff bringen kann.

Fassade des Kölibri unter Kirschblütenbäumen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Forum für soziale Fragen am Hein-Köllisch-Platz in Hamburg-St. Pauli
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(13)62291-6/fulltext#article_upsell

[2] http://www.vdaeae.de/images/stories/fotos2/Solidarty_CLINIC_Thessaloniki_engl.pdf

Hintergrundsmaterial zur Krise des griechischen Gesundheitswesen auf der Seite des VdÄÄ:
http://www.vdaeae.de/index.php/themen/gesundheitspolitik-(international)/583-gesundheitswesen-in-griechenland

19. April 2014