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INTERVIEW/002: Tahseen Ullah Khan zur sozialen Lage in Pakistan (SB)


Interview mit Tahseen Ullah Khan am 27. Juni in Dublin


Die pakistanische Millionenmetropole Peshawar steht wegen ihrer Nähe zur afghanischen Grenze seit mehr als drei Jahrzehnten im Mittelpunkt des geopolitischen Ringens um die Kontrolle Zentralasiens. Nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 haben sich dort viele afghanische Flüchtlinge niedergelassen. Von Peshawar aus wurde damals der Widerstand gegen die sowjetischen Besatzungstruppen genauso organisiert wie er seit Ende 2001 gegen die Streitkräfte der NATO in Afghanistan wird. In der Hauptstadt der einstigen Nordwestfrontierprovinz (NWFP) Pakistans, die seit Anfang dieses Jahres aus Rücksicht auf die paschtunische Bevölkerungsmehrheit Khyber Pakhtunkhwa heißt, tummeln sich afghanische und pakistanische Taliban, CIA-Agenten, Mitarbeiter westlicher "Sicherheitsunternehmen", Opiumhändler und Waffenschmuggler. In und um Peshawar kommt es deshalb regelmäßig zu Bombenanschlägen, die vielen Menschen das Leben kosten, und zu Überfällen auf die Lastwagenkonvois, mit denen der größte Teil des Nachschubs für die NATO in Afghanistan über den nahegelegenen Khyber-Paß nach Afghanistan gelangt. Am Rande des Summit Against Violent Extremism in Dublin sprach der Schattenblick am 27. Juni mit dem Menschenrechtler Tahseen Ullah Khan, der in Peshawar arbeitet und lebt.

Tahseen Ullah Khan - Foto: © 2011 by Schattenblick

Tahseen Ullah Khan
Foto: © 2011 by Schattenblick
Schattenblick: Herr Khan, könnten Sie uns etwas über sich selbst und ihre Arbeit in Peshawar erzählen?

Tahseen Ullah Khan: Ich bin Chefkoordinator der National Research & Development Foundation (NRDF), einer Stiftung, die in der Khyber Pakhtunkhwa und der Federally Administered Tribal Areas (Stammesgebiete unter Bundesverwaltung) tätig ist. Wir arbeiten mit islamischen Geistlichen, Schulen und Moscheen zusammen, um mit ihrer Hilfe die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den pakistanischen Stammesregionen voranzutreiben.

SB: Wie lange sind Sie schon dabei?

TUK: Wir haben 1993 unter dem Namen Ulama and Development (Geistliche und Entwicklung) damit angefangen.

SB: Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen? Waren sie unzufrieden mit der Bildung, welche die religiösen Schulen anboten, oder mit dem Engagement der islamischen Geistlichen in ihren Gemeinden?

TUK: Die Madrasas, die Moscheen und die Ulama sind zivilgesellschaftliche Institutionen mit enormem Einfluß, mittels dessen sie, unserer Meinung nach, einen einen wichtigen Beitrag bei der Entwicklung, der Ausbildung der Jugend, der Einhaltung von Menschenrechten und der Schlichtung von Konflikten leisten könnten.

SB: Wurden sie damals dieser Rolle nicht gerecht?

TUK: Damals hat das in den besagten Regionen niemand in einer organisierten Art und Weise getan. Wir haben seinerzeit den Bedarf identifiziert und deshalb die Initiative ergriffen.

SB: Und wieviel Fortschritt meinen Sie in jenen 19 Jahren erzielt zu haben?

TUK: Ich denke, wir sind recht erfolgreich gewesen. Als wir angefangen haben, war die Idee der Einbindung islamischer Geistlicher in die Entwicklungsarbeit vollkommen neu - sowohl für die religiösen Anführer selbst als auch für die in- und ausländischen Geberorganisationen. Damals interessierten sich die Ulama wenig für Entwicklungsfragen, während die internationalen Nicht-Regierungsorganisationen dem Ansatz einer Zusammenarbeit mit islamischen Geistlichen skeptisch gegenüberstanden. Inzwischen ist es so, daß alle Geberinstitutionen mit uns zusammenarbeiten und wir ein umfangreiches Netzwerk aus Geistlichen, Madrasas und Moscheen geknüpft haben. Auf der Gemeindeebene nehmen mehr als 12.000 muslimische Führungspersönlichkeiten an unseren Projekten teil, entwickeln und leiten sie mit.

Tahseen Ullah Khan - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick SB: Die Armenhilfe gehört seit jeher zu den wichtigsten Prinzipien des Islams. Wurde sie damals von den religiösen Anführern im Grenzgebiet Pakistans zu Afghanistan vernachlässigt?

TUK: Das kann man nicht sagen. Sie fand nur auf der Gemeindeebene statt und war regional nicht besonders gut koordiniert. Das war der entscheidende Mangel, den wir erkannten und beheben wollten. Uns ging es darum, Initiativen wie der Massenimpfung gegen Kinderkrankheiten, der Modernisierung des Lehrplans in den Madrasas und den staatlichen Schulen, der Durchsetzung von Frauen- und anderen grundlegenden Menschenrechten zum durchschlagenden Erfolg zu verhelfen. Dazu brauchten wir die Hilfe der Ulama, die jeweils in ihren Gemeinden über den größten Einfluß verfügten.

SB: Gehören die Geistlichen, mit denen sie zusammenarbeiten, nur bestimmten Schulen des Islams an oder sind alle Richtungen - Sufis, Deobandis, Schiiten et cetera - vertreten?

TUK: Wir arbeiten mit allen, unabhängig von der jeweiligen Konfession, zusammen. Unserem Netzwerk gehören Sufis, Deobandis, Schiiten, Barelvis und Vertreter aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppen an.

SB: Wie viele Leute arbeiten für die National Research & Development Foundation?

TUK: Rund 250.

SB: Und wie finanzieren Sie sich?

TUK: Einen Teil erhalten wir von den Menschen vor Ort, einen anderen von den Vereinten Nationen und deren Unterorganisationen wie UNICEF, und bei zahlreichen Projekten haben wir bilaterale Verträge mit der pakistanischen Regierung und internationalen Gebern laufen.

SB: Seit den achtziger Jahren wird das Phänomen der religiösen Radikalisierung in Pakistan aufgrund der Verbreitung von Madrasas, die mit Geldern aus Saudi-Arabien finanziert werden und in denen eine strenge, salafistische Version des Islams propagiert wird, beklagt. Arbeitet die National Research & Development Foundation auch mit solchen Madrasas zusammen oder steht sie mit Ihnen im Kampf um die Herzen und Seelen der Jugend, oder wie muß man sich das vorstellen?

TUK: Wir sind eine kleine Organisation und arbeiten in einem Umfeld, das man zweifelsohne herausfordernd nennen könnte. Dennoch sind wir nicht in Reaktion auf die aus saudischen Quellen finanzierten Schulen in Aktion getreten, sondern es sind Geistliche auf uns zugekommen und haben uns zur Ergreifung der Initiative ermutigt bzw. gedrängt. Es sind nur ganz bestimmte Madrasas, die Gelder aus Saudi-Arabien erhalten. Der Unterhalt der allermeisten Schulen in den pakistanischen Grenzgebieten zu Afghanistan wird aus kleinen Spenden der Lokalbevölkerung bestritten.

Tahseen Ullah Khan - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick SB: Dessen ungeachtet bekommt man in letzter Zeit den Eindruck, daß die religiöse Radikalisierung in Pakistan zunimmt. Im Januar und März fielen jeweils Salmaan Taseer, der Gouverneur der Provinz Punjab, und Shabbaz Bhatti, der Bundesminister für Minderheiten und einzige Christ im Kabinett von Premierminister Jousaf Raza Gilani, Attentaten zum Opfer. Beide Männer wurden ermordet, weil sie für eine Reform des pakistanischen Blasphemiegesetzes öffentlich eingetreten waren, das den Islam unter besonderen Schutz stellt und mittels dessen seit Jahren Christen und andere religiöse Minderheiten drangsaliert werden. Seitdem traut sich Sherry Rehman, die ehemalige Bundesministerin und heutige Abgeordnete der regierenden Pakistan Peoples Party (PPP) im Bundesparlament in Islamabad, die ebenfalls als Kritikerin des Blasphemiegesetzes gilt, kaum aus ihrem Haus heraus. Ihre Angst ist mehr als begründet. Nach dem Attentat gegen Salmaan Taseer haben in Karatschi zahlreiche Menschen, darunter einige jener Anwälte, die 2007 und 2008 den Rücktritt des Diktators Pervez Musharraf erzwungen hatten, für die Freilassung des Mörders Malik Mumtaz Qadri demonstriert und ihn als Held des Islams gefeiert. Wie beurteilen Sie die jüngste Entwicklung?

TUK: Die Zunahme des religiösen Extremismus in unserem Teil der Welt ist höchst bedauerlich. Als ich in Pakistan aufwuchs, gab es diese radikalen religiösen Kräfte nicht. Die meisten Pakistaner sind anderen Religionen und Konfessionen des Islams gegenüber tolerant und wünschen sich nichts sehnlicher als den Frieden. Es ist nur eine kleine Minderheit, die zur Gewalt greift, um ihre Interessen durchzusetzen.

SB: Man darf aber den größeren geopolitischen Zusammenhang nicht außer Acht lassen. Wie soll man dem politischen Extremismus Einhalt gebieten, wenn sich weite Teile der pakistanischen Gesellschaft darüber empören, daß regelmäßig Zivilisten im Grenzgebiet zu Afghanistan Drohenangriffen der USA auf mutmaßliche Taliban- und Al-Kaida-Ziele zum Opfer fallen, und einige Leute meinen, sich dagegen militärisch zur Wehr setzen zu müssen?

TUK: Zweifelsohne treiben solche Drohenangriffe viele Menschen, vor allem junge Männer, in die Arme der Militanten. Das größte Problem ist aber die Korruption und Unfähigkeit der pakistanischen Regierung. Weder verhindert sie die Nutzung pakistanischen Territoriums für Angriffe auf die NATO-Streitkräfte in Afghanistan, noch unterbindet sie die Verletzung der Souveränität Pakistans durch die per Drohne durchgeführten Vergeltungsanschläge der Amerikaner. Die Politiker in Pakistan sind hauptsächlich damit befaßt, Geld in die eigenen Taschen zu stecken, statt sich der vordringlichen Aufgabe, nämlich dem Aufbau ordentlicher Bildungs- und Gesundheitssysteme, zu widmen.

SB: Derzeit ist die Regierung von Premierminister Gilani und Präsident Ali Asif Zardari von der Pakistan Peoples Party sehr unpopulär, denn sie haben ihre Versprechen vor der letzten Parlamentswahl Anfang 2008 nicht eingehalten. Gibt es seitens der Opposition Personen oder Kräfte, von denen ein Wechsel in Richtung sozialen Fortschritts zu erwarten wäre? Als alternative Führungspersonen werden in den Medien zum Beispiel der frühere Premierminister Nawaz Sharif von der Pakistan Muslim League - Nawaz (PML-N) und der frühere Kapitän der Cricket-Nationalmannschaft Imran Khan mit seiner Pakistan Tehreek-e-Insaf (Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) hoch gehandelt.

TUK: Momentan ist keine einzelne Partei oder Gruppierung in der Lage, eine Verbesserung der Lage herbeizuführen. Dafür wäre ein nationaler Konsens aller Parteien nötig. Leider sind sich Pakistans Politiker lediglich in der Sicherung der eigenen Pfünde einig. Für die Belange des einfachen Volkes interessieren sie sich herzlich wenig.

SB: Also ist Ihrer Meinung nach in nächster Zeit mit keinem Ausweg aus der Krise zu rechnen?

TUK: So ist es leider. Die Zukunft sieht derzeit recht düster aus. Dennoch geben wir die Hoffnung nicht auf, denn ohne sie hätten wir gar nichts.

SB: Tahseen Ullah Khan, wir bedanken uns für das Gespräch.

Congress Centre Dublin vom südlichen Liffey-Ufer aus gesehen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Congress Centre Dublin vom südlichen Liffey-Ufer aus gesehen
Foto: © 2011 by Schattenblick

12. Juli 2011